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Оглавление1 Recht und Gesellschaft (Trenczek / Behlert)
1.1 Recht und Gesetz – Begriff und System der Rechtsnormen
1.1.1 Was ist Recht? – Begriff und Funktion des Rechts
1.1.2 Woher kommt das Recht? Die Genese der Rechtsnormen
1.1.3 System der heutigen Rechtsnormen
1.1.3.6 Notwendige Abgrenzungen
1.1.3.7 Rangordnung der Rechtsvorschriften
1.1.4 Überblick über die Gebiete der deutschen Rechtsordnung
1.1.5 Europäisches Gemeinschafts- und Völkerrecht
1.1.5.1 Europäische Union und Europarecht
1.1.6 Internationales Privatrecht
1.2.2 Gerechtigkeit und Gleichheit – die (rechts)philosophische Ausgangsfrage
1.2.3 Rechtliche und soziale Gerechtigkeit
1.2.4 Juristische Gerechtigkeit
1.1 Recht und Gesetz – Begriff und System der Rechtsnormen
1.1.1 Was ist Recht? – Begriff und Funktion des Rechts
Art. 20 Abs. 3 GG
In einem Rechtsstaat bildet das Recht die verbindliche Ordnung für das Zusammenleben der Menschen. Auch die Soziale Arbeit ist als Teil der öffentlichen Verwaltung (vgl. 4.1) nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Damit stellt sich die Frage, was unter Recht und Gesetz zu verstehen ist und wie man das Recht von anderen Maßnahmen des Staates oder gesellschaftlichen Regeln abgrenzt.
Das Verständnis von Recht war und ist nicht überall gleich, vielmehr ist die Definition eng mit den kulturellen und gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen verknüpft und hat in der Geschichte erhebliche Wandlungen vollzogen. Das, was wir heute im Mitteleuropa der Neuzeit als Recht ansehen, unterscheidet sich aus historischer Perspektive von den frühen, in Keilschrift in Stein verfassten Verhaltensregeln der Babylonier (Codex Hammurabi, 18. Jahrhundert v. Chr.) oder dem mosaischen Recht des Alten Testaments. Aus soziologisch-ethnologischer Sicht unterscheidet sich unser Recht von den Sitten, Gebräuchen und Normen sog. vorstaatlicher Gesellschaften indigener Völker (z. B. in Afrika, Asien, Amerika oder Ozeanien) wie auch von den Rechtstraditionen des sog. Common Law angelsächsischer Prägung in Großbritannien, den USA oder in Australien. Freilich kann man insoweit nicht nur Unterschiede, sondern vielfache Verbindungslinien und Ähnlichkeiten feststellen (z. B. lässt sich das generelle Verbot, einen Menschen zu töten, in fast allen Rechtsordnungen wiederfinden, in einigen allerdings auch noch immer das Recht des Staates, Menschen töten zu lassen). Die Definition von Recht ist also dem historisch-gesellschaftlichen Wandel unterworfen und immer nur in einem spezifischen Kontext zu leisten. Wegen dieser definitorischen Schwierigkeiten wird in der Rechtsliteratur bis heute gern das Diktum von Immanuel Kant bemüht, das besagt: „Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe von Recht“ (Kant 1781, 625).
Rolle und Funktion des Staates
staatliches Gewaltmonopol
Damit ist zugleich auf die Differenz zwischen Definition und Begriff aufmerksam gemacht. Es geht in diesem einleitenden Kapitel daher nicht in erster Linie darum, einen Merksatz zum Recht zu formulieren, sondern darum, Recht begreifen zu können. Denn dies meint – im Unterschied zur Definition – das Wort „Begriff“. Ganz wesentlich ist hierfür die Frage nach der Rolle und Funktion des Staates. Nach der von Platon (375 v. Chr.: „politeia“ – der Staat; „nomoi“ – die Gesetze) und Aristoteles (330 v. Chr.) begründeten Staatsphilosophie ist der Staat Garant des friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Nach Aristoteles bestimmte deshalb der Staat, was als Recht gilt. Der englische Philosoph Thomas Hobbes verabsolutierte den Staat als „Leviathan“ (1651), als legitime und allmächtige Autorität, um das menschliche Chaos zu beherrschen. Dagegen entwickelte Immanuel Kant ein Idealbild der bürgerlichen Gesellschaft, in dem die Freiheit des Individuums den Machtansprüchen des absoluten Staates gegenüberstand. Verbindendes Element ist bis heute insoweit die Prämisse, dass einerseits in einem Rechtsstaat grds. nur dem Staat als Hoheitsträger das Recht auf Zwang eingeräumt ist (sog. staatliches Gewaltmonopol), dieses Recht andererseits aber durch Freiheitsrechte der Bürger gegenüber dem Staat (im modernen Verfassungsstaat heute als Grundrechte bezeichnet, hierzu 2.2) rechtlich rückgebunden und begrenzt ist.
Recht hat zunächst etwas mit Normen (s. Übersicht 1), also vorformulierten Erwartungen, zu tun. Soziale Normen sind Verhaltensregeln, Leitbilder, die das gegenwärtige oder das zukünftige Handeln der Menschen (und heute auch sog. juristischer Personen, hierzu II-1.1) in bestimmten Situationen mehr oder weniger verbindlich beschreiben. Man unterscheidet hier insb. Traditionen, Konventionen, Brauch, Sitte und Recht. Das Spektrum reicht von Normen, die nur innerhalb einer bestimmten Gruppe („Subkultur“) anerkannt sind (z. B. die Verhaltensregeln innerhalb von Jugendcliquen, von Kaufleuten, Mitgliedern einer Kirche), bis zu solchen, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft gelten. Was im Kontext einer einzelnen Gruppe als abweichend gilt (z. B. Bluttransfusion bei Zeugen Jehovas), kann für die Gesamtgesellschaft akzeptabel oder zwingend notwendig sein, während umgekehrt ein von der Gesamtgesellschaft missbilligtes Verhalten in spezifischen Gruppen der gleichen Kultur gebilligt und sogar gefördert werden kann (z. B. manche Formen jugendtypischen Verhaltens). Im Verhältnis der Normensysteme nimmt der Grad der Verbindlichkeit über Brauch und Sitte bis zum Recht zu. Es kann auch vorkommen, dass der Gesetzgeber im positiven, d. h. in einem (demokratischen) Gesetzgebungsverfahren verfassten Recht ausdrücklich auf bestimmte (Handels-)Bräuche und die „guten Sitten“ Bezug nimmt (vgl. §§ 138, 157, 242 BGB, § 346 HGB).
Übersicht 1: Normensysteme
Sitte und Moral
Rechtsstaat
Als „Goldene Regel“ der praktischen Ethik findet sich in nahezu allen Weltreligionen und Philosophien in der sprichwörtlichen Wendung das Gebot „Was du nicht willst, dass man dir tu, das fügʼ auch keinem anderen zu“, also „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Ob und inwieweit Sitte, Moral und Recht sich beeinflussen oder gar decken, ist in der Menschheitsgeschichte unterschiedlich beantwortet worden. Für die europäischen Rechtsordnungen des Mittelalters etwa war es geradezu ein Kennzeichen, dass die jeweiligen Moralvorstellungen religiöser und weltlicher Herrscher als allgemein verbindliches Recht mit Folter und Inquisition eingefordert wurden. Die seitdem vollzogene Emanzipation des Rechts von der Moral muss daher insoweit als ein Fortschritt innerhalb der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gesehen werden. In der rechts- und sozialphilosophischen Literatur ist sie bis zu Hobbes (Hobbes 1651, 73) zurückzuverfolgen; in voller Konsequenz durchgeführt wurde sie dann von Kant in der „Metaphysik der Sitten“, die im ersten Teil die Rechtslehre und im zweiten Teil die von ihm so bezeichnete Tugendlehre behandelt (Kant 1797). Von Immanuel Kant stammt auch das wohl wichtigste menschliche Moralgebot, der sog. kategorische Imperativ, also das Gebot, welches für jedes vernunftbegabte Wesen per se und universell gelten soll: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1788, 54). In ihm geht es darum, dass jeder Mensch zunächst prinzipiell über die Fähigkeit verfügt, einen freien Willen zu bilden, und damit in der Lage wäre, dem Grundsatz auch tatsächlich für sich selbst Geltung zu verschaffen. Es ist also die moralische Dimension angesprochen; ein Gesetz im juristischen Sinne ist hier nicht gemeint. Mit Moral verbindet Kant die innere Haltung des Individuums, die Gesinnung, die – wie er sagt – Tugend. Recht hingegen richtet sich an das äußere Verhalten der Menschen, ob ein Bürger diese Norm für richtig oder aus welchen Gründen er sich an die Rechtsnorm hält, ist unerheblich, solange die Verhaltensanweisung eingehalten wird. Dies muss so sein, weil die Freiheit des Einzelnen, die für Kant die Voraussetzung moralisch richtigen Verhaltens ist, mit der Freiheit des anderen in Konflikt geraten kann. Deshalb muss es klare Grenzen und Regeln geben. Diese Grenzen werden vom Recht gesetzt. Das Recht ist demnach in den Worten von Kant der Inbegriff der Bedingungen, unter denen das Belieben des einen, etwas zu tun oder zu unterlassen, mit einem entsprechenden Belieben des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann (Kant 1797, 317 f., 337). Damit freilich ist nicht nur die Unterscheidung zwischen Moral und Recht getroffen, sondern zugleich das Verbindende bezeichnet, für das Kant den Begriff der Sittlichkeit verwendet. Georg Jellinek, ein bedeutender Staatsrechtler Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, fasst diesen Zusammenhang in die von Juristen gern verwendete Formel vom Recht als dem sozialethischen Minimum (Jellinek 1872 / 1878, 42). Gleichwohl ist mit der strikten Unterscheidung zwischen moralisch zu erwartendem und rechtlich verbindlich verlangtem Handeln die Idee des modernen Rechtsstaates geboren, der die Einhaltung dieser Regeln zum Wohle der Freiheit des Einzelnen und zum Wohle der Gesellschaft als Ganzem zu garantieren hat (Kant 1797, 333). Der frühere Bundesverfassungsrichter Wolfgang Böckenförde bringt dies mit der Formulierung auf den Punkt, dass das Recht eben keine Tugend- und Wahrheitsordnung sei, sondern eine Friedens- und Freiheitsordnung (Böckenförde 1973, 193).
Im Sinne des modernen systemtheoretischen Ansatzes ist das positive Recht geradezu die Voraussetzung der modernen Gesellschaft (Luhmann 1970, 177 f.). Die „Heterogenität der Wertpräferenzen“ macht in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Verbindlichkeit von Normen für den sozialen Kontakt unverzichtbar. Fehlt es an Konformität, ist die Gesellschaft in ihrem Bestand gefährdet. Recht dient damit der Wahrung von Konformität und dem Bestand des Sozialsystems.
soziale Kontrolle
Soziale Normen definieren deshalb in aller Regel nicht nur den Verhaltensbereich als solchen, sondern gleichzeitig auch die jeweiligen Reaktionen auf das von ihm abweichende Verhalten. Die sozialen und gesellschaftlichen Mechanismen und Prozesse, die abweichendes Verhalten verhindern und einschränken sollen, bezeichnet man als soziale Kontrolle. Diese soziale Kontrolle war und ist in sog. egalitären Gesellschaften der Sippe oder dem Stamm als Ganzem übertragen. Mit der Entwicklung des Staatswesens lag hierin seine zentrale Funktion. Mit öffentlicher Sozialkontrolle bezeichnet man alle gesellschaftlichen Einrichtungen, Strategien und Sanktionen, mit denen eine Gesellschaft die Einhaltung der in ihr geltenden Normen und die soziale Integration ihrer Mitglieder bezweckt. Hierin lag für Max Weber das Wesen von Recht und Staat (Weber 1921, 18). Dieser bezwecke mit seinem Zwangsapparat die Einhaltung der Normen und die Ahndung der Normverletzungen. Dies kann als Ordnungsfunktion oder – mit einem eher negativ assoziierten Begriff – als „Herrschaftsfunktion“ des Rechts bezeichnet werden. Recht gibt also nicht nur verbindliche Orientierungen im Hinblick auf das menschliche Verhalten, sondern ist gleichzeitig ein Ordnungsrahmen. Zu den Mitteln der Sozialkontrolle zählen u. a. das Recht,Religion, Erziehung und Sanktionen. Wer gegen die Tischsitten verstößt, wird ggf. schief angesehen und nicht mehr eingeladen, wer „aus der Rolle fällt“, macht sich gesellschaftlich unmöglich. Das kann im Einzelfall die soziale Existenz eines Menschen empfindlich treffen, man wird gesellschaftlich „abgestraft“ und ausgegrenzt. Anders als Rechtsnormen lassen sich aber z. B. Tischsitten gesellschaftlich nicht erzwingen. Dagegen gehört – in der Tradition der Rechtsphilosophie Kants – zum Recht als Instrument der öffentlichen Sozialkontrolle notwendig der staatliche Zwang. Die Geltung und Einhaltung der Rechtsnormen werden – wenn es nicht anders geht – erzwungen. Auch die in der modernen Zivilgesellschaft wieder wichtiger werdende autonome, außergerichtliche Konfliktregelung (hierzu I-6) lebt davon, dass im Hintergrund Zwangsmittel bereitgehalten und zur Verteidigung des Rechts und zum Schutz des Schwachen aktiviert werden können (Trenczek 2005, 17). Entscheidend ist für einen modernen Rechtsstaat – wenn man überhaupt von einem „Schatten“ des Rechts sprechen will – dass „das Recht stärker durch seinen Schatten wirkt als durch den tatsächlich exekutierten Zwang“ (Frehsee 1991, 59).
In einem modernen Rechtsstaat begrenzt sich die Funktion des Rechts freilich nicht darauf, orientierende Leitlinie für das Sozialverhalten seiner Bürger zu sein, die Menschenwürde zu sichern, persönliche Freiheit zu gewährleisten und soziale Kontrolle rechtsstaatlich abzusichern (sog. Grenzziehungsauftrag und Herrschaftskontrolle). Wesentlich sind vor allem die Strukturierung des Gemeinwesens und seiner wesentlichen öffentlichen Institutionen (Ordnungsfunktion) sowie – im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip – der Auftrag zur Chancenermöglichung (Emanzipation und Aktivierung) und der Gewährung gesellschaftlicher Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn sich damit die Idee des Rechts an der Gerechtigkeit orientiert (hierzu 1.2), kann dieses Ziel immer nur ansatzweise erreicht werden, da im Widerstreit gesellschaftlicher und privater Interessen auch im besten Fall nur ein fairer Interessensausgleich geleistet werden kann.
1.1.2 Woher kommt das Recht? Die Genese der Rechtsnormen
Naturrecht
Bräuche und Sitten haben sich aufgrund der mit ihnen gemachten Erfahrungen gewohnheitsmäßig herausgebildet. Recht kann sich aus unterschiedlichen Quellen speisen. Als ungeschriebene Grundlage des Rechts wird häufig das sog. Naturrecht bezeichnet, also eine verbindliche Grundordnung, die der Mensch als gegeben hinnimmt, weil sie seiner Natur und seiner Vernunft entspricht. Hierauf basierte die Stoa, die 300 v. Chr. von Zenon dem Jüngeren gegründete Athener Denkschule, nach der das Recht nicht vom Staat begründet, sondern als ein allgemeines Naturgesetz angesehen wurde. Auch das für das heutige bürgerliche Recht in vieler Hinsicht einflussreiche Römische Recht basierte auf diesem Prinzip und es war in der modernen Rechtsgeschichte ein Dauerthema, wie viel „Natur“ das Recht besitzt bzw. verträgt. Uwe Wesel vergleicht das Naturrecht mit einem Zylinder, aus dem nur das herausgezaubert werden könne, was man vorher hineingelegt habe (Wesel 1994, 73). Mit der Natur hat man in der Vergangenheit alles Mögliche begründet, die Sklaverei genauso wie die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichheit der Menschen wie die tiefste Barbarei. Insofern ist Zurückhaltung gegenüber naturrechtlichen Begründungen grds. angebracht. Dennoch muss gesehen werden, dass die klassischen Naturrechtskonstruktionen historisch insofern fortschrittlich sind, als sie die Vorstellung von einem „göttlichen Recht“ ablösen und zugleich, wie etwa bei Kant, darauf verweisen, dass das Recht nicht nur das Resultat rationaler Regelsetzung ist, sondern auch an empirische Voraussetzungen anknüpft. Hiermit ist vor allem die bei Kant so bezeichnete „Natur des Menschen“ gemeint, die der Vernunft zwar prinzipiell zugänglich ist, gleichwohl aber außerhalb und unabhängig von ihr existiert (Kant 1797, 345).
Universalitätsprinzipien
Auch unser heutiges mitteleuropäisches Rechtsverständnis ist von naturrechtlichen Vorstellungen beeinflusst, jedoch sind konkrete naturrechtlich begründete Glaubenssätze kaum noch zu finden. Gelegentlich wird allerdings die vom Grundgesetz als „natürliches Recht“ bezeichnete Erziehungsverantwortung der Eltern für ihre Kinder (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) zumindest teilweise als ein solcher angesehen (Gernhuber / Coester-Waltjen 2010, 38 f.).Tatsächlich handelt es sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aber um positiv gesetztes Verfassungsrecht, das in der Rechtsprechung des BVerfG immer wieder auf faktische soziale Lebensverhältnisse bezogen wird, die einem permanenten Wandel unterliegen (hierzu ausführlich: Münder et al. 2013a, 34 ff.). Naturrechtliche Begründungen finden sich heute vornehmlich im Kontext der Menschenrechtsdiskurse, in denen von angeborenen Rechten des Menschen gesprochen wird, die in seiner Würde fundiert seien (hierzu: Opitz 2002, 12). Insofern werden Menschenrechte teilweise auch vom Standpunkt der Moral aus begründet (vgl. Tugendhat 1993, 336). In einer eher legalistischen Perspektive hingegen (z. B. Habermas 1992, 156) geht die heute angenommene universelle Geltung von Menschenrechten jedoch nicht aus ihrer naturrechtlichen Begründung hervor, sondern ergibt sich aus der „Bereitschaft der Staaten zum Abschluss entsprechender völkerrechtlich verbindlicher Vereinbarungen“ (Opitz 2002, 15). Solche heute als universell vereinbart geltende Menschenrechtsprinzipien finden sich z. B. in den Grundsätzen, die 1950 durch die Mitglieder des Europarates in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beschlossen wurden EMRK (u. a. Gewissens- und Religionsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Unschuldsvermutung, Folterverbot), in der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 sowie in den beiden UN-Menschenrechtspakten vom 19.12.1966 (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; beide in Kraft seit 1976; hierzu 1.1.5.2). Allerdings zeigen auch die Jahresberichte von Amnesty International, dass die Universalität der Menschenrechte nicht überall akzeptiert, vielmehr auf der Welt täglich mit Füßen getreten wird. Daher war insb. in der Vergangenheit das aus dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte abgeleitete, vor allem für das Völkerstrafrecht, aber auch das innerstaatliche Strafrecht (hierzu IV) bedeutsame sog. Universalitätsprinzip praktisch der einzige Anker, um rechtspositivistische Unrechtsregimes als Barbarei und gesetzliche Regelungen als Unrecht zu bezeichnen (vgl. z. B. die Frage der Rechtmäßigkeit des Schießbefehls an der DDR-Grenze nach § 27 Abs. 2 DDR-Grenzgesetz: BGH NJW 1993, 141; BVerfGE 95, 96 ff.; BVerfG 2 BvQ 60 / 99 – 11.01.2000). In diesem Zusammenhang hat der EGMR in seiner „Krenz“-Entscheidung (EGMR Nr. 1101 – 22.03.2001 – 34044 / 96) betont, dass sich selbst ein einfacher Soldat nicht blind auf Befehle berufen kann, die nicht nur krass gegen die innerstaatlichen gesetzlichen Grundsätze, sondern auch gegen die international geschützten Menschenrechte und vor allem gegen das Recht auf Leben, das höchste Rechtsgut in der Werteskala der Menschenrechte, verstoßen. Völkerrechtlich wird dem Universalitätsprinzip heute mittlerweile mit der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag Geltung verschafft, vor dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Anklage kommen.
Religion und Moral
Früher galten auch Religion und Moral als wichtige Quellen des Rechts (vgl. Wesel 1984, 194 ff.). Im Verständnis der katholischen Kirche basiert das Kanonische Kirchenrecht auf dem göttlichen Willen. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte wurde durch philosophisch oder religiös begründete Moralvorstellungen von Gut und Böse und eine darauf basierende Sittenlehre festgelegt, was im Leben und in der Welt wertvoll ist. Die jeweils herrschenden Sitten und Moralvorstellungen wurden in eine Rechtsform gegossen. Bis in die Anfänge der Bundesrepublik (vgl. die Entscheidung des BGH 6, 46 ff. über die „Normen des Sittengesetzes“ und die „vorgegebenen und hinzunehmende Ordnung der Werte“ im Hinblick auf die Definition und Strafbarkeit der „Unzucht“) wurde auf eine ursprüngliche Einheit von Sitte und Recht, ja auch von Moral, Religion und Recht Bezug genommen. Dies konnte möglicherweise schon damals als Anachronismus gelten, handelt es sich hierbei doch eher um ein Kennzeichen sog. vorstaatlicher, oraler Gesellschaften. Allerdings beanspruchen auch heute in einer durch Internationalisierung und Migration gekennzeichneten Gesellschaft religiös (z. B. islamisch) geprägte Regelungen insb. im Internationalen Privatrecht (s. 1.1.6) wieder zunehmend Geltung.
Gerade mit Blick auf die permanenten Diskussionen über die Verschärfung des Strafrechts im Hinblick auf Prostitution und Kinderpornografie werden in der Öffentlichkeit wieder (vor)schnell moralische Kategorien zur Grundlage der Strafbarkeit erhoben. Weil Strafrecht (hierzu IV-1.3) aber ultima ratio, das letzte und (vermeintlich) schärfste Mittel des Rechts ist, darf es nicht ein Moralrecht sein. Seine Funktion darf nicht dahingehend ausgeweitet werden, dass mit ihm Meinungsverbote und Tabus durchgesetzt und als anstößig empfundenes künstlerisches Wirken verbannt werden (vgl. IV-2.3.3; ausführlich zum strafrechtlichen Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus: Hörnle 2004a). Begrenzungen der Handlungsfreiheit sind in den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG vor allem im Hinblick auf die schützenswerten „Rechte anderer“ legitim. Insoweit ist der Strafgesetzgeber zweifellos gefordert, das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung gerade in Bezug auf Kinder, die dies entwicklungsbedingt noch nicht selbst können, effektiv zu schützen. Aber auch hier gilt, dass nur das, was in grober Weise sozialschädlich und damit wirklich strafwürdig ist, unter Strafe zu stellen ist.
Erst später, als die Schrift dominierendes Kultur- und Kommunikationsmedium wurde, hat sich das Recht zunehmend als eigene Kategorie entwickelt und einen Prozess der Verrechtlichung der Gesellschaft eingeleitet, den Max Weber als einen Vorgang allgemeinen sozialen Rationalitätsgewinns beschreibt (Weber 1921, 563). Dabei hat die Trennung von Recht und Moral durchaus zwei Seiten: die Vergrößerung der persönlichen Freiheit einerseits und die mangelnde Verbindlichkeit sittlicher Maßstäbe andererseits. Rein rechtspositivistisch ist es vorstellbar, dass jemand aufgrund der geltenden Gesetze rechtmäßig handelt, gleichwohl aber unmoralisch. Uwe Wesel (1999, 388) nennt hier als Beispiel den Betreiber eines Kraftwerkes, welches die Umwelt verschmutzt. Die Organisation Greenpeace, welche sich hiergegen zur Wehr setzt, mag dabei die Gesetze übertreten, ihr Protest hat aber zumeist die Moral auf seiner Seite. Gerade am Beispiel des zivilen Ungehorsams, der gewaltfrei ist, sich jedoch häufig der Formen (symbolischer) Rechtsnormverletzungen bedient (etwa: Sitzblockaden – vgl. IV-2.1.2 –, früher auch die Totalverweigerung, in den USA vor allem der Steuerstreik), zeigt sich, dass rechtliche und moralische Bewertungen ein und desselben Verhaltens zu mitunter sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen können (im Einzelnen hierzu: Dreier 1991, 39 ff.). Allein die Tatsache, dass ein Einzelner oder eine Gruppe positiv gesetztes, d. h. durch das verfassungsmäßig vorgesehene Gesetzgebungsverfahren verfasstes Recht im konkreten Einzelfall als unzweckmäßig oder auch ungerecht erachten, wird dessen Geltung jedenfalls regelmäßig noch nicht außer Kraft setzen. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Strafrechtler und Kriminologe Gustav Radbruch (1878 –1949), der zugleich einer der bedeutendsten demokratischen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts war. Für ihn verliert das positive Recht erst dann seinen Vorrang, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (sog. Radbruch‘sche Formel; Radbruch 1946, 107). Ein derart eklatantes Auseinanderfallen von Gerechtigkeit und Recht, das nach dem Verständnis von Radbruch zugleich zu einer Zerstörung des Rechts selbst führen musste, wurde von ihm etwa für die Zeit der NS-Diktatur konstatiert, in der schlimmstes Unrecht in „positives“ Recht gesetzt wurde. Einen solchen Fall von „gesetzlichem Unrecht“, wie Radbruch dies nannte, im Zusammenhang mit heutigen Protesten gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Fehlentscheidungen annehmen zu wollen, wäre allerdings nicht nur historisch unangemessen, sondern auch im theoretischen Ansatz falsch, weil die Grundbedingungen für wirksamen Protest, auch in den Formen des zivilen Ungehorsams, gerade erst durch den demokratischen Rechtsstaat gesetzt werden. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass es sich als ausgesprochen schwierig erweisen kann, innerhalb des Rechts eine Lösung zu finden, wenn staatlich gesetztes Recht und das „Recht“ auf zivilen Ungehorsam oder Widerstand in ein Spannungsverhältnis geraten; umso bedeutsamer ist aber gerade in derartigen Fällen die Orientierung an grundlegenden Wert- und Verfassungsentscheidungen des deutschen Grundgesetzes (I-2) und der Europäischen Charta (1.1.5) sowie die daran anknüpfende rechtsstaatliche Kontrolle durch die Gerichte (I-5).
Gewohnheitsrecht
In einem modernen Rechtsstaat wird neues Recht grds. durch einen bewussten, verfahrensmäßig geregelten Rechtsetzungsakt (geschriebenes Recht) geschaffen. Das in der angelsächsischen Rechtstradition als Common Law lange vorherrschende, früher auch im deutschen Recht bedeutsame (ungeschriebene) Gewohnheitsrecht wirkt in einigen wenigen Bereichen noch fort, öffentlich-rechtlich z. B. im Schutz des Glockenläutens. Das früher einmal in Strafverfahren (vgl. BGHSt 11, 241 ff.) gewohnheitsrechtlich anerkannte „Züchtigungsrecht“ von Lehrern und Eltern ist mittlerweile durch die Schulgesetze und § 1631 Abs. 2 BGB aufgehoben worden. Eine Vorstufe des Gewohnheitsrechts bilden die Verkehrssitten und Handelsbräuche, also im Rechts- und Handelsverkehr akzeptierte Verhaltensnormen, deren Verbindlichkeit durch das Gesetz selbst bestätigt wird (vgl. §§ 138, 157, 242 BGB, § 346 HGB). Beispielsweise gilt unter Kaufleuten das Schweigen auf ein Bestätigungsschreiben als Vertragsannahme, während das Schweigen sonst im Rechtsverkehr keine Willenserklärung darstellt. Im Sozialbereich gibt es solche rechtlich anerkannten Verkehrssitten nicht.
Genese von Rechtsnormen
War früher das Recht inhaltlich stark moralisch aufgeladen, ist es heute zunehmend zu einem formalen Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Regelungsprozesse geworden. Für ein Naturrecht bleibt hier nicht viel Platz. Das, was Recht und was Unrecht ist, wird in einem Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (hierauf basiert erkenntnistheoretisch der sog. Konstruktivismus), im Prozess der Rechtssetzung und in den positiv-rechtlichen Regelungen einer Rechtsordnung manifest. Nach der sog. Konsenstheorie ist das gemeinsame Rechtsbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder die Entstehungsgrundlage von Rechtsnormen. Damit wird einerseits an das Natur- und Gewohnheitsrecht angeknüpft, andererseits an die von Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778) begründete Vorstellung des Contrat social (Gesellschaftsvertrag), in dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft auf gemeinsame Werte und Ziele einigen und sich diesen unterwerfen. Der soziologische Klassiker dieser Auffassung war Emile Durkheim, demzufolge die von den Bürgern anerkannten Werte mithilfe des Rechts, insb. des Strafrechts, vor ihrer Verletzung geschützt werden:
„Man darf nicht sagen, daß eine Tat das gemeinsame Bewußtsein verletzt, weil sie kriminell ist, sondern sie ist kriminell, weil sie das gemeinsame Bewußtsein verletzt. Wir verurteilen sie nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen“ (Durkheim 1977, 123).
Nach der Konsenstheorie bringt die Rechtsordnung die widersprüchlichen Ansprüche und Wünsche der Menschen miteinander in Einklang, sodass sie letztlich dem Wohle der Gesamtheit dienen. Das Recht enthält alle notwendigen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das Strafrecht (hierzu IV) alle Regeln, die von der Allgemeinheit für so wichtig gehalten werden, dass sie mit Sanktionen ausgestattet werden, um ihre Einhaltung zu garantieren. Danach erhält das Recht selbst eine konfliktlösende Funktion. Durch die Antizipation des Konsenses ist gewährleistet, dass widerstreitende Interessen bei der Normsetzung zu einem Ausgleich gebracht werden.
Demgegenüber beruhen nach der sog. Konflikttheorie Rechtsnormen nicht auf dem Gesamtwillen der Gesellschaftsmitglieder, sondern sie sind das Resultat von Interessensauseinandersetzungen, also Ausdruck eines kontinuierlichen Kampfes. Rechtsnormen sind deshalb nach dieser Sichtweise nicht Ausfluss der Interessen aller Gesellschaftsmitglieder, sondern das Resultat des Sieges derjenigen Gruppe, die sich aufgrund ihrer Herrschaftsmacht im gesellschaftlichen Konflikt durchsetzen konnte. Gesetze seien deshalb stets in Rechtsform gegossene und dadurch mit Allgemeinvertretungsanspruch ausgestattete, inhaltlich aber partikuläre Interessen mächtiger Gesellschaftsgruppen. Das Recht, insb. das Strafrecht, diene diesen Gruppen als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung ihrer Interessen und trage insoweit zur ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen bei. Durch die Ungleichverteilung von Herrschaftsmacht kann es nach dieser Ansicht nicht zu einem Ausgleich widerstreitender Interessen kommen.
Mag die Konflikttheorie die Genese von Rechtsnormen für die Menschheitsgeschichte, insb. in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts auch zutreffend beschrieben haben, so reicht sie heute in der „reinen“ Form und ihrer Ausschließlichkeit als Erklärung für die Entstehung und Funktion von Rechtsnormen nicht aus. Es lässt sich nicht leugnen, dass Rechtsnormen heute einem Kernbestand gemeinsamer Interessen dienen, wie z. B. dem Schutz des Individuums u. a. vor staatlichen Eingriffen. Im Straßenverkehr muss man sich darauf verlassen dürfen, dass in Deutschland grds. rechts (in England und Australien links) gefahren wird und die eigene Teilnahme nicht durch grob verkehrswidriges oder rücksichtsloses Verhalten anderer gefährdet wird. Auch die strafrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und Willensfreiheit dienen elementaren Schutzbedürfnissen und werden von der Bevölkerung konsensual getragen. Das gilt grds. auch für den Eigentumsschutz. Freilich schützen die Vorschriften gegen Eigentums- und Vermögensdelikte nicht nur das individuelle Recht des Einzelnen, sondern es geht gleichzeitig auch um den Schutz der ökonomischen Grundordnung als solcher. Allerdings sind die Methoden zur Durchsetzung ökonomischer Interessen viel subtiler geworden, als dass es hierzu insb. des grobschlächtigen Mittels des Strafrechts als Herrschaftsinstrument bedürfte.
Recht ist das Produkt menschlichen Handelns, es ist das Produkt eines gesellschaftlich-politischen Prozesses (vgl. hierzu ausführlich Behlert 1990, 18 ff.). Pluralistische Gesellschaften sind gekennzeichnet durch das Zusammenleben von Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen politischen, ökonomischen und sozialen Interessen. In diesem gesellschaftlichen Interaktionsprozess werden sie versuchen, ihre Lebenschancen zu sichern und zu erweitern. Insoweit der Bestand an Rechtspositionen nur auf Kosten der Verringerung der Lebenschancen von anderen erweitert werden kann, werden sich unterschiedliche, widerstreitende Interessen gegenüberstehen. Deshalb kommt es notwendigerweise zu einer Unvereinbarkeit und einem Widerstreit von Interessen, zu Interessenskonflikten. Anders als noch bei den Gesellschaftsmodellen von Emile Durkheim, Talcott Parsons und Max Weber ist aus heutiger Sicht der Konflikt als solcher weder systemstörend, dysfunktional noch negativ, sondern kann auch als treibende Kraft im Prozess des sozialen Wandels notwendig sein (Dahrendorf 1961, 112 ff.; Galtung 1984, 129 ff.). Recht kann insofern als institutionalisierte Konfliktlösung angesehen werden, ohne damit gleich einem harmonisierenden Wunschbild zu verfallen. Die Rechtsordnung als Segment der Gesellschaft ist kein konfliktfreier Raum. Als Produkt menschlichen Handelns ist Recht stets interessenvermittelt und als Mechanismus der Sozialkontrolle nicht nur Integrations-, sondern selbst auch Konfliktstruktur. In der Entstehung und Anwendung von Rechtsnormen drückt sich wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen das jeweilige Kräfteverhältnis konkurrierender politischer, ökonomischer und sozialer Interessen aus. Hierbei werden sich diejenigen Gruppen durchsetzen, die hierzu die erforderliche Macht besitzen. Dabei ist heute aber nicht mehr nur an einen kleinen Kreis der ökonomischen Elite zu denken, die sich in einer globalisierten Welt ohnehin zunehmend nationalen Rechtsordnungen entzieht, sondern vor allem an einflussreiche Gruppen staatlicher Institutionen (Justiz und Ministerialbürokratie), Personen und Organisationen, die auf die Sicherung ihres Status bedacht sind, an die Lobbyisten und sog. Moralunternehmer, die ihre Moral- und Wertvorstellungen für alle verbindlich machen wollen. Die Rechtsordnung als Konfliktfeld zu begreifen, schließt die Möglichkeit zum Konsens nicht aus. Wahrer Konsens ist freilich nur möglich unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation autonomer Individuen.
„Wir wären nur dann legitimiert, das tragende Einverständnis … mit dem faktischen Verständigtsein gleichzusetzen, wenn wir sicher sein dürfen, daß jeder im Medium der sprachlichen Überlieferung eingespielte Konsens zwanglos und unverzerrt zustande gekommen ist“ (Habermas 1971, 154).
Der Konsens darf allerdings in einer Demokratie nicht – wie von der Konsenstheorie suggeriert – vorausgesetzt werden, sondern ist stets nur das vorläufige und stets abänderbare Ergebnis eines politischen Prozesses.
Die Definition von Recht ist bis heute einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Denn zum einen ändern sich permanent seine normativen Inhalte: Was gestern verboten war (z. B. Prostitution, homosexuelle Handlungen), kann heute erlaubt sein, was in dem einen sozialen Kontext erlaubt ist, ist in einem anderen verboten (vgl. z. B. die unterschiedlichen ehe- und strafrechtlichen Bestimmungen in der Türkei und die Diskussion über die Angleichung der türkischen Rechtsordnung an die Werte- und Rechtsordnung der EU). Recht und soziale Kontrolle dürfen nicht zu starr sein, denn der soziale Wandel lässt sich nicht verhindern. Eine dies ignorierende starre Rechtsordnung müsste zum Auseinanderbrechen des Systems führen. Zum anderen aber war zu sehen, dass Recht noch nicht begriffen werden kann, wenn man nur diese normativen Inhalte im Blick hat, ohne nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten für deren Umsetzung im sozialen Handeln der Menschen zu fragen oder danach, inwiefern in ihm allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen zum Ausdruck gebracht sind. Wiederum von Kant stammt der einprägsame Vergleich eines rein normativ begriffenen Rechts mit einem Kopf, „der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat“ (Kant 1797, 336). Will man daher am Ende doch eine Definition von Recht versuchen, so könnte diese in Anlehnung an Ralf Dreier lauten, dass es sich beim Recht um die Gesamtheit der Normen handelt, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören bzw. die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie im Großen und Ganzen sozial wirksam sind und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen (vgl. Dreier 1991, 116).
1.1.3 System der heutigen Rechtsnormen
Normen werden von unterschiedlichen Quellen (s. 1.1.2) gespeist, sie werden von unterschiedlichen Institutionen erlassen, sie richten sich an unterschiedliche Adressatenkreise und besitzen einen unterschiedlichen Grad an Verbindlichkeit. Recht ist ein Gefüge sozialer Normen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten verbindlich vorschreiben und deren Einhaltung durch staatliche Instanzen notfalls auch mit Zwang garantiert wird. Der moderne Rechtsstaat setzt dabei auf das geschriebene Recht. Ein Rechtssatz oder eine Rechtsnorm ist ein verbindliches Gebot oder Verbot, welches die folgenden fünf Wesensmerkmale aufweisen muss:
■ Rechtsnormen gelten für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen (abstrakte Regelung). Um möglichst alle zukünftigen Konfliktsituationen zu regeln, sind Normtexte so abstrakt wie möglich formuliert, worunter allerdings die Verständlichkeit für den „Normalbürger“ leidet.
■ Rechtsnormen richten sich grds. an eine unbestimmte, bei ihrem Erlass nicht feststehende Vielzahl von Personen (generelle Regelung). Zwar mag ein einzelner Fall Anlass zu einer gesetzlichen Regelung geben, ein Einzelfallgesetz (welches nur einen konkreten Fall oder einen ganz bestimmten Adressaten betrifft) ist allerdings verfassungswidrig (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG).
■ Rechtsnormen werden von dem (verfassungsrechtlich) zur Rechtssetzung befugten Organ (z. B. dem Parlament, hierzu 2.1) in einem formell festgelegten Verfahren erlassen und
■ bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der amtlichen Publikation in bestimmten Verkündungsorganen (z. B. dem Bundesgesetzblatt oder den Mitteilungsorganen der Länder und Kommunen).
■ Für Rechtsnormen ist ferner charakteristisch, dass sie unmittelbar kraft staatlichen Geltungswillens verbindlich sind und zu ihrer Durchsetzung notfalls staatlicher Zwang angewendet werden kann. Insbesondere hierin unterscheidet sich das Recht von anderen gesellschaftlichen Konventionen, von Sitten und Gebräuchen.
Recht und Gesetz – Begrifflichkeiten
Mit einem zunächst auf das innerstaatliche Rechtssystem beschränkten Blick (zum unmittelbar geltenden europäischen Gemeinschaftsrecht und sonstigem internationalen Recht vgl. 1.1.5) lassen sich Rechtsnormen in vier Gruppen einteilen, wobei man insb. ursprüngliche und abgeleitete Rechtsnormen unterscheidet. Ursprüngliche Rechtsnormen werden vom Volk selbst oder von den verfassungsgemäß hierzu berufenen Organen erlassen. Man bezeichnet diese auch als formelle Gesetze, weil sie auf parlamentarischem Wege zustande gekommen sind (s. 1.1.3.2). Hiervon abgeleitete Rechtsnormen erlässt die vollziehende Gewalt (Exekutive: Regierung und Verwaltung) aufgrund einer besonderen Ermächtigung des ursprünglichen Normgebers bzw. sog. Selbstverwaltungsträger (z. B. Kommunen oder Sozialversicherungen, s. 4.1.2.1) aufgrund der ihr verliehenen Regelungsautonomie. Soweit von der Rechtsnorm unmittelbare Rechtswirkungen für den einzelnen Bürger ausgehen, spricht man von einem Gesetz im materiellen Sinn. Man spricht dagegen von einem Gesetz im nur formellen Sinn, wenn das Gesetz zwar in dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahren durch die Legislative beschlossen worden ist, von ihm aber keine unmittelbaren Rechtswirkungen nach außen ausgehen. Dies ist z. B. bei den Ratifizierungsgesetzen zur Übernahme völkerrechtlicher, internationaler Abkommen oder bei den sog. Haushaltsgesetzen der Fall.
Durch den als formelles Gesetz erlassenen Haushaltsplan ermächtigt das Parlament die Exekutive, Ausgaben in der festgesetzten Höhe für den festgelegten Zweck zu leisten, z. B. Zuschüsse für den Bau von Altentagesstätten. Die Exekutive hat im Rahmen der Ermächtigung nach pflichtgemäßem Ermessen über die Zuschussgewährung zu entscheiden. Aus dem Gesetz über den Haushaltsplan kann aber ein Bürger- bzw. Trägerverein keinen Anspruch auf einen bestimmten Zuschuss ableiten (vgl. BVerfG NJW 1975, 254; § 3 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung und entsprechende Länderregelungen).
Übersicht 2: Arten von Rechtsnormen
keine Rechtsgrundlage für öffentliches Verwaltungshandeln sind:
■ Gerichtsurteile
■ Verwaltungsvorschriften
Zum Einstieg: „Familie Berger“
Herr Berger aus G. ist seit der Schließung seines Betriebes vor zwei Jahren arbeitslos und erhält Arbeitslosengeld II sowie für seine beiden 11- und 14-jährigen Kinder Sozialgeld nach § 19 Abs. 1 SGB II. Um das Familieneinkommen etwas zu entlasten, trägt Herr Berger jeden Morgen Tageszeitungen aus und erhält hierfür 330 €, seine Tochter erhält etwa 30 € monatlich, die sie sich durch Babysitten beim Nachbarn verdient. Zu Beginn des neuen Schuljahres wechselt die ältere Tochter von der Realschule auf das Gymnasium. Im ersten Schulhalbjahr ist eine 3-tägige Klassenfahrt geplant. Herr Berger sorgt sich, weil er das Geld für Fahrkosten und Unterkunft von insgesamt 110 € nicht aufbringen kann. Darüber hinaus meint seine Tochter, sie könne ohne eine neue, 180 € teure Jeansjacke der Firma Miss Young nicht an der Fahrt teilnehmen. Er fragt, ob das Jobcenter in der Stadt G. (§ 6d SGB II) die Kosten für die Anschaffung der Jacke und die Klassenfahrt für seine Tochter übernimmt. Der Sozialarbeiter des Jobcenters teilt ihm mit, dass Kleidung vom Regelbedarf der Grundsicherung gedeckt sei und dass die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft, mithin kurze Ausflüge, vom notwendigen Lebensunterhalt, also vom Regelbedarf umfasst seien. Nach § 5 Abs. 2 der Verwaltungsrichtlinien der Stadt G. zur Ausführung der Grundsicherung würden Klassen- und Schulfahrten erst ab einer Dauer von einer Woche pauschal mit 20 € pro Tag bezuschusst. Herr Berger habe deshalb keinen Anspruch auf eine darüber hinausgehende einmalige Beihilfe. Ist diese Auskunft / Entscheidung richtig? Zum Beweis der Richtigkeit seiner Aussagen überreicht er Herrn Berger eine Kopie der entsprechenden Verwaltungsvorschriften:
Auszug aus den Verwaltungsvorschriften der Stadt G. zur Ausführung der Grundsicherung vom 01.03.2011 (VV-Grund):
§ 1: Die nachfolgenden Bestimmungen binden die Stellen der öffentlichen Verwaltung der Stadt G. bei der Ausführung des SGB II i. d. F. vom 1.8.2013 (BGBl. I S. 2954) zum Zwecke der einheitlichen Ermessensausübung mit dem Ziel Gleichheit gewährender und wirtschaftlicher Verwendung kommunaler Haushaltsmittel.
…
§ 5: (1) Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhalten Arbeitslosengeld II. Nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld. Die Leistungen umfassen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung.
(2) Der Regelbedarf umfasst insb. Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft …
…
(4) Für Schülerinnen und Schüler umfasst der notwendige Lebensunterhalt auch die erforderlichen Hilfen für den Schulbesuch. Darüber hinaus werden Schul- und Klassenfahrten ab einer Dauer von einer Woche pauschal mit 20 € je Tag bezuschusst.
Die Gesamtheit der – geschriebenen bzw. als Rechtsprinzipien anerkannten – verbindlichen Rechtsnormen (s. Übersicht 2) bezeichnet man als Rechtsordnung oder schlechthin als das Recht. Als Rechtsquelle bezeichnet man – neben dem Naturrecht (s. o.), dem Einigungsvertrag der Europäischen Union (s. 1.1.5) und den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) – einerseits das Grundgesetz als im wahrsten Sinne des Wortes „grundlegende“ Verfassung im Hinblick auf die Parlamentsgesetze und öffentlich-rechtlichen Satzungen der Selbstverwaltungsträger (vgl. Art. 28 GG) sowie andererseits die Parlamentsgesetze im Hinblick auf Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 GG).
Rechtsnormen bezeichnet man auch als Rechtsgrundlagen (Gesetze im weiteren Sinn), um deutlich zu machen, dass sich jedes staatliche Handeln hierauf zurückführen lassen muss, so wie es Art. 20 Abs. 3 GG formuliert: Bindung an Gesetz (im formellen Sinn) und Recht (Gesetze im materiellen Sinn). Insoweit spricht man auch vom sog. objektiven Recht, d. h. für das Gemeinwesen und alle Bürger und Institutionen geltendes Recht, während man die sich aus der Rechtsordnung ergebende Berechtigung eines Einzelnen als subjektives Recht oder Anspruch bezeichnet (s. a. II-1.2.4). Dabei unterscheidet man einerseits sog. absolute Rechte, die gegen Eingriffe allseitig, d. h. gegenüber jedermann geschützt sind (z. B. Persönlichkeits- oder Eigentums- und andere Sachenrechte) und sog. relative Rechte insb. aufgrund eines Vertrages, die nur bestimmte Personen zu einem Verhalten verpflichten (z. B. aus einem Miet- oder Kaufvertrag die Überlassung der Sache durch den Vermieter bzw. Verkäufer, während der Mieter bzw. Käufer den vereinbarten Preis bzw. die Miete zahlen muss). Insoweit spricht man auch von schuldrechtlichen oder obligatorischen Ansprüchen und Forderungen (vgl. zu den privatrechtlichen Regelungen auch II-1). Der sozialrechtliche (Leistungs-) Anspruch gegen einen öffentlichen Träger wird auch als subjektiv-öffentliches Recht des Bürgers bezeichnet (vgl. 3.4.1).
Und noch eine Begriffsunterscheidung: Unter materiellem Recht versteht man die Rechtsvorschriften, welche das Verhalten der Rechtssubjekte regeln (Inhaltsnormen, insb. auch die Anspruchsnormen, z. B. aus dem BGB). Als formelles Recht werden die Normen bezeichnet, die das Verfahren, z. B. das gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Rechtspositionen, regeln (Prozessrecht, z. B. der ZPO).
1.1.3.1 Verfassungsrecht
Grundgesetz
Lange Zeit – vor der Entstehung des europäischen Gemeinschaftsrechts (s. 1.1.5) – war die grundlegende Rechtsgrundlage in Deutschland das Grundgesetz vom 23.05.1949 als nationale Verfassung der Bundesrepublik (hierzu I-2). Darüber hinaus haben die deutschen Bundesländer aufgrund ihrer Eigenstaatlichkeit jeweils eigene Landesverfassungen. Teilweise geht es in den Landesverfassungen um die Konkretisierung der sozialpolitischen Staatsziele (z. B. das Recht auf Arbeit; Art. 48 Abs. 1 Brandenburg; Art. 171 LV M-V.; Art. 71 Sachsen).
Für die Tätigkeit der Sozialverwaltung besonders bedeutsam sind die Grundrechte (Art. 1 –19, 103 f. GG), die gem. Art. 1 Abs. 3 GG als unmittelbar geltendes Recht zu beachten sind (ausführlich 2.2). Die Verfassungen regeln u. a. auch den Aufbau und die Organisation der Staatsgewalt sowie die Kompetenzen der Staatsorgane. Einklagbare subjektive Rechte räumen diese Verfassungsvorschriften dem Einzelnen nicht ein.
Übersicht 3: Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens bei Bundesgesetzen (Art. 70 ff. GG)
GESETZESINITIATIVE
Gesetzesvorlagen können von der Bundesregierung, dem Bundesrat oder aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden (Art. 76 Abs. 1 GG). Die meisten Gesetzesinitiativen – etwa zwei Drittel aller Gesetzesentwürfe – werden von der Bundesregierung vorgelegt. Nach Beratung und Beschluss im Kabinett werden die Gesetzesvorlagen dem Bundesrat zugeleitet, damit dieser in einem sog. „ersten Durchgang“ eine Stellungnahme erarbeiten und ggf. Änderungsvorschläge machen kann. Gesetzesinitiativen des Bundesrates werden über die Bundesregierung an den Bundestag weitergeleitet.
BERATUNG UND BESCHLUSSFASSUNG IM BUNDESTAG
Zentrales Organ der Gesetzgebung ist der Deutsche Bundestag als gewählte Volksvertretung. Dieser behandelt Gesetzesentwürfe in der Regel in drei Lesungen. Am Ende der ersten Lesung steht die Überweisung des Entwurfs an einen oder mehrere Ausschüsse. Im Anschluss an die Beratungen in den Ausschüssen finden die zweite und dritte Lesung statt. Während in der zweiten Lesung hauptsächlich Änderungsanträge vorgebracht werden, ist die dritte Lesung regelmäßig der Schlussabstimmung vorbehalten.
BUNDESRAT
Alle im Bundestag verabschiedeten Gesetze werden dem Bundesrat zugeleitet. In einem sog. zweiten Durchgang sind die Handlungsmöglichkeiten des Bundesrates davon abhängig, ob der Gesetzesbeschluss seiner Zustimmung bedarf oder nicht. Die zustimmungspflichtigen Gesetze können ohne sein positives Votum nicht in Kraft treten. Ob ein Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf, richtet sich nach dem GG (vgl. z.B. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 79 Abs. 2 GG; Art. 104a Abs. 3, 4, 5 und Art. 105 Abs. 3 GG). Bis zur Durchführung der sog. Föderalismusreform war dies bei über 60% der Gesetzgebungsverfahren der Fall, insbesondere weil die Länder in ihren Verwaltungsaufgaben betroffen waren. Nun soll nur noch etwa ein Viertel bis ein Drittel der Gesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, da die Länder das Verwaltungsverfahren nun selbst abweichend von den bundesrechtlichen Regelungen regeln dürfen (vgl. in Art. 84 Abs. 1 GG). Im Übrigen bedürfen Bundesgesetze, die das Verwaltungsverfahren regeln, weiterhin der Zustimmung des Bundesrates (vgl. z.B. Art. 84 Abs. 1 S. 5, Abs. 2 GG). Ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht stellt, innerhalb der Frist des Art. 77 Abs. 3 GG keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestage überstimmt wird (Art. 78 GG).
Aufgrund der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union hat das Grundgesetz – wie auch das nationale Verfassungsrecht der anderen EU-Staaten – seine Bedeutung als höchstrangige Rechtsquelle z. T. verloren (zum Recht der Europäischen Union s. 1.1.5).
1.1.3.2 Parlamentsgesetze
Gesetz
Neben dem Verfassungsrecht bilden vor allem die Gesetze die wesentliche Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Sozialverwaltung und der Sozialen Arbeit insgesamt. Das Parlamentsgesetz ist der Prototyp einer Rechtsnorm. Bei einem „Gesetz im formellen Sinn“ handelt es sich dabei um eine Rechtsvorschrift, die von der Legislative in dem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Verfahrensweg erlassen worden ist (im Hinblick auf Bundesgesetze vgl. Art. 70 ff. GG und Übersicht 3).
Hinsichtlich des Inhalts muss ein Gesetz allgemeinverbindliche Regelungen enthalten. Man sagt auch, eine Rechtsnorm ist ein Gesetz im materiellen Sinn (d. h. dem Inhalt nach), wenn es
■ eine verbindliche Regelung
■ für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen
■ gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen enthält.
Die meisten Gesetze sind solche im formellen und materiellen Sinn, da die Parlamente (Bundestag/-rat, Landtage) in großem Umfang von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen, die ihnen im Grundgesetz und in den jeweiligen Länderverfassungen zugestanden ist. Wann der Bund oder ein Land Gesetze erlassen darf, ist in Art. 70 ff. GG und Art. 105 GG abschließend geregelt.
1.1.3.3 Rechtsverordnungen
Auch eine Rechtsverordnung ist dem Inhalt nach eine Rechtsnorm und damit ein Gesetz im materiellen Sinn, denn sie ist eine verbindliche Regelung für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen. Der wesentliche Unterschied zu den „richtigen“ (Parlaments-)Gesetzen besteht darin, dass Rechtsverordnungen nicht von der Legislative erlassen werden, sondern von Organen der vollziehenden Gewalt (Exekutive). Um eine Rechtsverordnung zu erlassen, bedürfen diese freilich einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG), d. h. sie dürfen nur im Auftrag der Legislative tätig werden (vgl. z. B. §§ 6a, 13 SGB II; §§ 47, 109, 163 SGB III; § 17, 28c SGB IV; §§ 35a, 92 SGB V; § 69 SGB VI; § 9 SGB VII; §§ 78g Abs. 4, 94 Abs. 5 SGB VIII; §§ 29 Abs. 2, 40, 60 SGB XII; §§ 55a, 556 Abs. 1, 558c Abs. 5, 577a Abs. 2, 1316 Abs. 1 BGB; Art. 238 EGBGB).
Die meisten Rechtsverordnungen werden zur Durchführung und Ausführung von Gesetzen erlassen. Sie konkretisieren oft Rechte und Pflichten des Bürgers und nehmen dadurch der Verwaltung die Möglichkeit, bei nichteindeutiger Regelung im Gesetz eine den Bürger benachteiligende Auslegung zu vertreten.
Zum Fall Berger: Zentrale Voraussetzung für den Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung ist nach § 7 Abs. 1 Nr.3 SGB II – dem Parlamentsgesetz – die sog. Hilfebedürftigkeit. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insb. von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Nach § 11 SGB II sind als Einkommen zunächst alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert – abzüglich der abzusetzenden Freibeträge nach § 11b SGB II – zu berücksichtigen, mit Ausnahme der in § 11a SGB II genannten Einnahmen. Der Bundesgesetzgeber hat allerdings in § 13 SGB II das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen auch ohne Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung u. a. zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist (s. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V). Nach §§ 11 ff. SGB II ergibt sich, dass das Einkommen des Herrn Berger, das er für das Zeitungsaustragen erhält, angerechnet werden muss. Demgegenüber werden nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Alg II–V bei Sozialgeldempfängern, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Einnahmen aus Erwerbstätigkeit, soweit sie einen Betrag von 100 € monatlich nicht übersteigen, also hier das Geld, das die Tochter durch das Babysitten verdient, nicht angerechnet.
1.1.3.4 Satzungen
Die öffentlich-rechtliche Satzung ist ungeachtet desselben Begriffes und ähnlicher Funktionen von den privatrechtlichen Organisationsvorschriften rechtsfähiger Vereine nach § 25 BGB zu unterscheiden (vgl. hierzu II-1.1). Satzungen des öffentlichen Rechts sind Rechtsvorschriften, die alle Personen im Wirkungskreis einer Selbstverwaltungseinheit berechtigen und verpflichten oder organisatorische Regelungen für den Bereich der Selbstverwaltung enthalten können. Sie sind damit Rechtsnormen (Gesetze im materiellen Sinn), denn es handelt sich um verbindliche Regelungen für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, die sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen richten. Die Befugnis zur Rechtssetzung durch Satzungen ist bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts (nur) zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten verliehen. Von besonderer Bedeutung ist der Erlass von Satzungen für die Gebietskörperschaften (Gemeinden, Landkreise, Bezirke) oder die Sozialversicherungsträger. Den Kommunen ist diese Autonomie ausdrücklich in Art. 28 Abs. 3 GG zugesichert. Allerdings ist diese Regelungsbefugnis auf die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten begrenzt. Zu weitergehenden Eingriffen in die Rechtssphäre des Bürgers bedarf es einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung.
Die Gemeinden können z. B. die Benutzung von Wasserversorgungsanlagen, Entwässerungsanlagen, Schwimmbädern, Büchereien, Friedhöfen und Eisstadien durch Satzungen regeln. Gemeindeverbände können durch Satzungen u. a. die Benutzung von Mülldeponien regeln. Üblicherweise beschließt der Rat einer kreisfreien Stadt aufgrund der in den landesrechtlichen Kommunalordnungen und Gemeindeverfassungsgesetzen enthaltenen allgemeinen Ermächtigung eine sog. Hauptsatzung (Grundorganisation) und z. B. eine Satzung über die Benutzungsordnung in den städtischen Notunterkünften. Durch die Satzung kann der Rat die Zusammensetzung und Zuständigkeiten des Jugendhilfeausschusses als Teil der Verwaltungseinheit Jugendamt bestimmen (z. B. für Entscheidungen über Widersprüche gegen VA des JA, s. 5.2.2). In der Haushaltssatzung setzt der Rat der Stadt A. z. B. einen Betrag von 200.000 € zur allgemeinen Förderung der freien Verbände der Jugendhilfe an.
Über die durch Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG garantierte Satzungsautonomie im Hinblick auf die Regelung eigener Selbstverwaltungsangelegenheiten hinaus, kann den Kommunen auch durch Gesetz das Satzungsrecht übertragen werden, z. B. können nach § 22a Abs. 2 SGB II die Länder die Kreise und kreisfreien Städte durch Gesetz ermächtigen oder verpflichten, durch Satzung zu bestimmen, in welcher Höhe Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in ihrem Gebiet angemessen sind.
Die Sozialversicherungsträger, also die Träger der Renten- und Unfallversicherung oder die gesetzlichen Krankenkassen (siehe unten 4.1.2.1), regeln in ihren Satzungen z. B. die Aufgaben ihrer Organe, den Kreis der Versicherten und die Art und Weise der Willensbildung (vgl. § 34 SGB IV; § 194 SGB V, § 138 Abs. 4 SGB VI, § 118 SGB VII; entsprechendes gilt für die Bundesagentur für Arbeit, s. § 372 SGB III). Sie können u. a. eine Beitragssatzung über die Kostenregelung bei Rehabilitationsmaßnahmen erlassen.
Die Studien- und Prüfungsordnungen der Universitäten und Fachhochschulen sind in aller Regel landesrechtlich autorisierte Satzungen der Hochschulen zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten.
1.1.3.5 Tarifverträge
Der Tarifvertrag ist ein privatrechtlicher Vertrag (hierzu II-1.2) zwischen tariffähigen Parteien(Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände). Er regelt zum einen in seinem schuldrechtlichen Teil die Rechte und Pflichten der Tarifparteien, enthält aber darüber hinaus in seinem normativen Teil nach außen wirkende Bestimmungen, durch die die Arbeitsverhältnisse unmittelbar erfasst werden. So enthält der Tarifvertrag Rechtsnormen über Abschluss, Inhalt und Beendigung von Arbeitsverhältnissen, z. B. über Lohn, Arbeitszeit, Urlaub oder Kündigungsvoraussetzungen (sog. materielle Arbeitsbedingungen). Insoweit handelt es sich bei Tarifverträgen auch um Rechtsnormen. Näheres hierzu im Kapitel zum Arbeitsrecht (V-3.3.1).
1.1.3.6 Notwendige Abgrenzungen
Verwaltungsvorschriften
Verwaltungsvorschriften (VV) sind keine Rechtsnormen, sondern nur verwaltungsinterne Anweisungen, insb. übergeordneter an nachgeordnete Behörden oder des Dienstvorgesetzten an unterstellte Bedienstete. Für VV werden mitunter ganz unterschiedliche Begriffe verwendet, z. B. Dienstanordnungen, Dienstanweisungen, Richtlinien, (Rund-)Erlasse, Rundverfügungen, Allgemeinverfügungen, Durchführungsbestimmungen, Ausführungsvorschriften, Verwaltungsverordnungen, Hausordnung usw. VV lassen sich im Wesentlichen in drei Kategorien unterscheiden:
■ organisatorische VV zur Regelung des internen Dienstbetriebes: Dienstanweisung über die Unterschriftsbefugnis, Benutzung von Dienstfahrzeugen, Aktenführung;
■ norminterpretierende VV zur Auslegung von Rechtsvorschriften (hierzu 3.3.2), z. B.VV zum BAföG, zum BKGG, zum Wohngeldgesetz;
■ Ermessensrichtlinien zur Ausfüllung eines Ermessensspielraums (vgl. hierzu 3.4.2), z. B. über die Höhe einer Gebühr für den Besuch einer städtischen Kindertagesstätte.
Grds. sind Verwaltungsvorschriften keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen gegenüber dem Bürger, weil sie keinen Rechtsnormcharakter haben (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Gegenüber dem Bürger werden daher durch sie weder Rechte noch Pflichten begründet. VV sind jedoch von den Mitarbeitern des Trägers der Verwaltung zu beachten, der sie erlassen hat (vgl. § 145 Abs. 2 BBG).
Obwohl Verwaltungsvorschriften nur verwaltungsintern verbindlich sind, können sie über Art. 3 GG bzw. den Grundsatz des Vertrauensschutzes mittelbar aufgrund einer dauernden Anwendungspraxis für Bürger und Gerichte verbindlich werden (Selbstbindung) und damit faktisch Außenwirkung entfalten, ja sogar anspruchsbegründende Wirkung haben. Eine Abweichung von der gleichmäßigen Anwendungspraxis der VV ist zwar zulässig, Voraussetzung ist aber stets, dass eine wesentliche Abweichung des Einzelfalles dies rechtfertigt (BVerwGE 19, 30). Andererseits müssen VV zur Ausfüllung des Ermessensspielraumes eine Abweichung zulassen, soweit wesentliche Besonderheiten im konkreten Fall vorliegen (BVerwG NJW 1980, 75).
Für die soziale Beratungspraxis haben Verwaltungsvorschriften eine große, wenngleich gelegentlich fragwürdige Bedeutung, denn man muss immer wieder feststellen, dass einzelne Sachbearbeiter ihr Handeln nicht am Gesetz und an den Besonderheiten des Einzelfalls orientieren, sondern an den internen Anweisungen und damit am Gesetzesverständnis der hierarchisch übergeordneten Instanz. Dies ist insb. bei der (fehlerhaften) Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen oder der Ausfüllung von Ermessenspielräumen problematisch. Gelegentlich übersehen Sachbearbeiter mögliche Ausnahmen und berufen sich formal auf ihre internen Vorschriften, die dem betroffenen Bürger nicht immer bekannt sind. Rechtsgrundlage für das Handeln der Verwaltung ist aber stets nur das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), nicht die Verwaltungsvorschrift! Der Erlass eines Verwaltungsaktes oder die Ablehnung einer Leistung darf niemals nur mit Hinweis auf eine Verwaltungsvorschrift erfolgen. Zwar binden die VV die Behördenmitarbeiter als interne dienstliche Anweisung. Verwaltungsvorschriften dürfen aber selbstverständlich nicht Rechtsvorschriften widersprechen (sog. Gesetzesvorrang!). Die (sozialpädagogischen) Fachkräfte (vgl. § 72 SGB VIII, § 6 SGB XII) müssen immer den konkreten Einzelfall im Blick haben und im Konfliktfall auf dem Dienstweg versuchen, die Zustimmung der zuständigen Vorgesetzten zu einer gesetzeskonformen, der besonderen Problematik des Falles entsprechenden Entscheidung zu erreichen.
Zum Erlass von Verwaltungsvorschriften braucht die Behörde (innerhalb einer Verwaltungshierarchie) keine gesetzliche Ermächtigung, da sie nur für den Dienstbetrieb innerhalb der Verwaltung bestimmt sind. Die Befugnis zum Erlass ergibt sich aus der jeweiligen Organisationsgewalt. Verwaltungsvorschriften des Bundes und der Länder werden i. d. R. in Ministerialblättern, Amtsblättern usw. veröffentlicht (vgl. z. B. www.bundesanzeiger.de). Von den Selbstverwaltungsträgern werden die an bestimmten Verwaltungsvorschriften interessierten Personen oft direkt informiert, z. B. die Jugendverbände über die Richtlinien zur Jugendförderung. Allerdings geschieht dies auch im Sozialleistungsbereich nicht immer, sodass manche Bürger Entscheidungen nicht immer ausreichend nachvollziehen können und sich einem „Geheimrecht“ ausgeliefert sehen. Zwar besteht nach Auffassung des BVerwG (NJW 1984, 2590) bei rein internen Verwaltungsvorschriften keine allgemeine Pflicht zur Veröffentlichung. Ein Beteiligter eines Verwaltungsverfahrens hat allerdings einen Auskunftsanspruch gegenüber der Behörde hinsichtlich der für die Rechtsverfolgung nötigen Informationen über derartige Verwaltungsvorschriften. Im Hinblick auf die umfassende Informations- und Auskunftspflicht der Behörden im Sozialleistungsverfahren (vgl. §§ 13 ff. SGB I) muss die transparente Entscheidungsfindung für eine moderne Verwaltung ohnehin selbstverständlich sein.
Darüber hinaus besteht eine Veröffentlichungspflicht für solche (abstrakt-generellen) Regelungen der Exekutive, deren Zweck es ist, letztlich doch rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bürger zu entfalten, und die auf diese Weise dessen subjektiv-öffentlichen Rechte unmittelbar berühren (BVerwGE 94, 335 zur Regelsatzfestsetzung durch Verwaltungsvorschrift), wenn formal in Verwaltungsvorschriften getroffene Ausführungsbestimmungen nach ihrem Inhalt darauf gerichtet sind, im Außenverhältnis in derselben Weise in subjektive Rechte einzugreifen, bzw. sich als anspruchskonkretisierende Regelung erweisen (BVerwG 25.11.2004 – 5 CN 1.03 – NDV-RD 2005, 25 ff.). Das BVerwG spricht hier sogar atypisch von einer unmittelbaren Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften. Ein Beispiel hierfür wäre die unter III-7.5.2 besprochene Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum Staatsangehörigkeitsrecht (StAR-VwV). Entfaltet eine VV eine derartige Außenwirkung, so ist es rechtsstaatlich geboten, sie so bekannt zu geben, dass die davon Betroffenen Kenntnis vom Inhalt nehmen können (vgl. BVerfGE 40, 237). Die Bekanntgabe muss dann umfassend den gesamten Inhalt der Verwaltungsvorschriften wiedergeben, eine selektive, erläuternde Wiedergabe des Inhalts von Verwaltungsvorschriften ist nicht ausreichend. Sie muss in ordnungsgemäßer Form regelmäßig in den für die Veröffentlichung von Rechtsnormen vorgeschriebenen amtlichen Medien erfolgen, die Verwendung von Merkblättern o. Ä. reicht dafür nicht aus (BVerwG 25.11.2004 – 5 CN 1.03 – NDV-RD 2005, 25 ff.).
Zum Einstiegsfall „Berger“: Nach § 19 Abs. 1 SGB II besteht für Herrn Berger (als erwerbsfähigem Leistungsberechtigten) ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II bzw. für seine mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden nicht erwerbsfähigen Kinder ein Anspruch auf Sozialgeld (im Einzelnen hierzu III-4.1.6). Die Leistungen umfassen nach § 19 Abs. 1 S. 3 SGB II den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung. Der Anspruch auf laufende Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst nach § 20 Abs. 1 SGB II somit zunächst den sog. Regelbedarf, insb. Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat (im SGB XII heißen die pauschalierten Leistungsbestandteile – anders als im SGB II – „Regelsatz“). Für den Fall entscheidend ist nun die Frage, ob die Jacke und der Schulausflug vom Regelbedarf umfasst sind oder zusätzlich geleistet werden können. Sog. Mehrbedarfe als laufende Leistungen (§ 21 SGB II) und sog. einmalige Bedarfe (§ 24 Abs. 3 SGB II: „Abweichende Erbringung von Leistungen“) werden nur unter den entsprechenden Voraussetzungen gewährt. Nach § 20 Abs. 1 S. 3 SGB II wird der Regelbedarf als monatlicher Pauschalbetrag geleistet, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden, wobei sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen haben.
Bis auf die in §§ 21 ff. SGB II genannten Ausnahmen sind die Kosten für Anschaffungen, Unternehmungen etc. in den Regelbedarfen enthalten. Nicht nur Hausrat und Kleidung, sondern auch Ausgaben für besondere Anlässe sind grds. vom Regelbedarf (bzw. im SGB XII vom Regelsatz) umfasst. Sinn und Zweck der Regelung (teleologische Auslegung, hierzu 3.3.2) ist es einerseits, die Leistungserbringung mit möglichst wenig Verwaltungsaufwand zu gestalten, und andererseits, die Selbstverantwortung des Leistungsempfängers zu fördern, einen Teil der monatlichen Leistungen anzusparen, um bei entstehendem Bedarf auch größere Anschaffungen zu tätigen. Als „einmalige“ Bedarfe (§ 24 Abs. 3 SGB II) werden nur bestimmte Leistungen, die nicht beständig bezogen werden müssen, gesondert erbracht. Auch die durch das sog. Bildungspaket 2011 eingeführten „Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“ (s. III-4.1.6.2) werden nach § 28 SGB II bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben dem Regelbedarf gesondert berücksichtigt.
Zwischenergebnis: Rechtsnormen, hier das SGB II, legen den Inhalt der den Regelbedarf deckenden Regelsätze für die laufenden Leistungen der Grundsicherung fest. Die Bekleidung ist demnach grds. vom laufenden Bedarf umfasst. Eine Ausnahme (Erstausstattung; Schwangerschaftskleidung) nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II liegt bei der von der Tochter von Herrn Berger gewünschten Jeansjacke nicht vor. Diese wird Herr Berger bzw. seine Tochter entweder von erspartem Geld kaufen müssen oder er muss mit seiner Tochter das notwendige, unter Umständen bei pubertierenden Jugendlichen nicht einfache Gespräch suchen, weshalb diese meint, ohne eine solche Jacke nicht am Schulleben teilnehmen zu können. An die Rechtsberatung könnte sich insoweit also ggf. eine (informelle) Erziehungsberatung des JA (§ 16 Abs. 2 S. 2, § 28 SGB VIII; hierzu III-3.3) anschließen.
Im Hinblick auf die Kosten für die Klassenfahrt beruft sich das Jobcenter der Stadt G. auf die Verwaltungsvorschriften VV-Grund. Der in § 20 Abs. 1 S. 2 SGB II genannte Begriff „Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“ ist unbestimmt und bedarf der Auslegung (hierzu 3.3.2), weshalb die Verwaltungen häufig Verwaltungsvorschriften zur einheitlichen Ausübung erlassen (hier s. o. § 5 Abs. 2 der VV-Grund). Nach der Auffassung des Jobcenters sind Schulaktivitäten grds. vom Regelbedarf umfasst und daher nicht gesondert zu erstatten. Allerdings sind Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen ausdrücklich nicht vom Regelbedarf umfasst, sondern als einmaliger Bedarf anerkannt (§ 28 Abs. 2 SGB II). Eine „mehrtägige“ Klassenfahrt beginnt nicht erst ab einer Woche, sondern – ungeachtet des vielleicht mehrdeutigen Wortlauts im Hinblick auf die Gegenüberstellung mit (eintägigen) Schulausflügen – bereits ab zwei Tagen. Die in der VV-Grund vorgenommene Definition widerspricht damit dem Gesetz und darf der Verwaltungsentscheidung nicht zugrunde gelegt werden, auch wenn diese „an sich“ für die Mitarbeiter intern verbindlich ist. Auch die Pauschalierung des Zuschusses nach § 5 Abs. 4 VV-Grund steht im Widerspruch zu § 28 Abs. 2 SGB II, wonach bei mehrtägigen Klassenfahrten die tatsächlichen Aufwendungen zu übernehmen sind, anders als bei den einmaligen Bedarfen, die nach § 24 Abs. 3 S. 4 SGB II auch als Pauschalbeträge erbracht werden können.
Empfehlungen
In zahlreichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit erarbeiten Verbände und Fachvereinigungen, Arbeitskreise und Arbeitsgemeinschaften „Empfehlungen“, „Richtlinien“ oder sonstige Arbeitshilfen. Die öffentlichen Leistungsträger werden durch diese Empfehlungen nicht gebunden. Allerdings können vorgesetzte Behörden bzw. Dienstvorgesetzte, z. B. die Bürgermeister und Landräte als Leiter der kommunalen Verwaltung, in Ausübung ihrer Weisungsbefugnis anordnen, dass alle Mitarbeiter bei der Ausführung ihrer Aufgaben derartige „Empfehlungen“ als Weisung zu beachten haben.
Gerichtsentscheidungen
Gerichtsurteile sind grds. keine Rechtsnormen. Gerichtsentscheidungen binden unmittelbar nur die an einem einzelnen Gerichtsverfahren beteiligten Personen (Parteien), nicht aber – anders als die höchstrichterlichen Entscheidungen im Bereich des angelsächsischen Common Law – die Gerichte selbst. Grund hierfür ist die Dreiteilung der Staatsgewalt (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Würden Gerichtsurteile jedermann binden, so hätten sie die Wirkung von Gesetzen, deren Erlass jedoch grds. den Parlamenten vorbehalten ist. Eine Ausnahme besteht nur bei bestimmten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die alle Verfassungsorgane und Behörden des Bundes und der Länder binden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). Teilweise haben die Entscheidungen des BVerfG, insb. aufgrund eines sog. Normenkontrollverfahrens, durch das Vorschriften als verfassungswidrig erkannt werden, über den Einzelfall hinaus verbindliche Wirkung und damit ausdrücklich Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).
Trotz der beschränkten Wirkung von Gerichtsentscheidungen hat insb. die höchstrichterliche Rechtsprechung für die Praxis der Rechtsanwendung eine herausragende Bedeutung. Es empfiehlt sich, insb. die Entscheidungen der obersten Gerichte zu beachten, weil sie wertvolle Hinweise für die sachkundige Auslegung (hierzu 3.3.2) von Rechtsvorschriften liefern. Zudem orientieren sich unterinstanzliche Gerichte an den Entscheidungen der Obergerichte.
1.1.3.7 Rangordnung der Rechtsvorschriften
Rechtsvorschriften stehen in einem wertigen Stufenverhältnis, einer Rangordnung zueinander (vgl. Übersicht 4). Der Vorrang höherrangigen Rechts verpflichtet die Rechtsanwender dazu, rangniedere Rechtsvorschriften stets (verfassungs-)konform auszulegen (hierzu 3.3.2). Im Kollisionsfall geht das höherrangige Recht dem rangniedrigeren Recht vor, d. h. die rangniedrigere Norm ist nichtig, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstößt. Zu beachten ist hier zunächst der unmittelbare Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts (s. 1.1.5). Im Hinblick auf den vielfach verkürzt-pauschal dargestellten Grundsatz des Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) muss beachtet werden, dass diese Regelung nur dann relevant wird, wenn dem Bund für die entsprechende Frage nach dem Grundgesetz tatsächlich die Regelungskompetenz zusteht. Betrifft eine Materie allein die Regelungskompetenz der Länder (ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder nach Art. 70 GG z. B. im Bereich von Kultus-/Schulrecht, Strafvollzug, Heimrecht), so wäre eine entsprechende Bundesnorm nicht höherrangig, sondern verfassungswidrig (z. B. im Bereich des Schulwesens als traditionelle Länderkompetenz). Nur im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 1, Art. 74, 99 GG) geht ein rechtmäßiges Bundesgesetz oder eine Rechtsverordnung den Länderrechtsnormen vor. Ländergesetze, die entgegen der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung erlassen werden, sind ebenso verfassungswidrig (z. B. nachträgliche Sicherungsverwahrung; vgl. BVerfGE 2 BvR 834 / 02 – 10.02.2004; vgl. auch IV-4.2). Bei Kollisionen gleichrangiger Vorschriften verdrängt das neuere Gesetz das ältere und die speziellere die allgemeine Norm.
Übersicht 4: Normenpyramide am Beispiel des Jugendhilferechts
Anm: Die abgeleiteten Rechtsnormen (RVO und Satzung) sind kursiv gedruckt.
1.1.4 Überblick über die Gebiete der deutschen Rechtsordnung
Konflikte sind normal und können in allen Lebensbereichen entstehen: Streitigkeiten innerhalb der Familie, im alltäglichen Handeln im Arbeitsleben, der Streit um die Mieterhöhung, der Unfall im Straßenverkehr usw. Die aus dem Konflikt resultierende rechtliche Fragestellung bestimmt, welches Rechtsgebiet innerhalb einer Rechtsordnung Anwendung findet.
Zur Verdeutlichung ein kleiner konstruierter Fall: Adam ist gemeinsam mit seiner Freundin Eva im Pkw auf dem Nachhauseweg. Beide sind verliebt, schauen sich oft in die Augen und unterhalten sich angeregt. Da sich Adam beim Fahren nicht voll auf den Verkehr konzentriert, verursacht er an einer Ampelkreuzung einen Auffahrunfall, bei dem Herr B. verletzt wird. Dieser kleine Fall wirft mehrere Fragen auf:
Wenn A. aus Unachtsamkeit einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem B. verletzt wird, so beantwortet das Zivilrecht (s. Teil II) die Frage, ob A. dem B. Schadensersatz und Schmerzensgeld zu leisten hat und ggf. in welcher Weise und Höhe (§§ 823, 253 Abs. 2 BGB, § 7 StVG). Sinn und Zweck ist hierbei der Ausgleich des (materiellen und ideellen) Schadens. Das Verwaltungsrecht (s. Teil III) bezweckt die Gefahrenkontrolle und befasst sich deshalb mit der Frage, ob sich A. durch sein Verhalten als ungeeignet zum Fahren von Kfz erwiesen hat und ob ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen ist (§ 4 StVG). Das Strafrecht (s. Teil IV) klärt, ob A. sich anlässlich des Verkehrsunfalls strafbar gemacht hat und wie er ggf. zu sanktionieren ist.
Im deutschen Recht findet sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Regelungsmaterien. Der Tradition des römischen Rechts folgend wird die deutsche Rechtsordnung unterteilt – siehe dazu auch Übersicht 5 – in das:
■ Privatrecht (ius privatum): regelt die Beziehungen der einzelnen Bürger und anderer nichthoheitlich handelnder Rechtssubjekte (juristische Personen, z. B. Verein, GmbH; hierzu II-1.1) zueinander auf der Basis der Gleichordnung und Selbstbestimmung (hierzu II). Das BGB ist als „bürgerliches“ Zivilrecht nur ein Teil des Privatrechts, andere privatrechtliche Rechtsnormen finden sich z. B. im Handels- und Wirtschaftsrecht (z. B. HGB, GmbHG, Gewerbe-, Wettbewerbs-, Urheberrecht) sowie im Arbeitsrecht.
Übersicht 5: Übersicht über das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland
■ Öffentliches Recht (ius publicum): regelt die Organisation des Staates und der mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Rechtssubjekte (Körperschaften, Anstalten und öffentlich-rechtliche Stiftungen; hierzu 4.1.2), die öffentliche Verwaltung und das von ihr angewandte Verfahren; es ordnet die Rechtsverhältnisse der Hoheitsträger untereinander und zu den Bürgern (hierzu III). Hierzu gehören insb. das Grundgesetz, sonstiges Staats- und Verwaltungsrecht, insb. die einzelnen Bücher des SGB, das Schulrecht, Polizeirecht sowie das gesamte Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht auch der Zivilgerichtsbarkeit. Das häufig als eigenständiges Rechtsgebiet behandelte Strafrecht (IV) ist öffentliches Recht.
Abgrenzungstheorien
Eine Rechtsnorm ist öffentlich-rechtlicher Natur, wenn aus ihr zwingend ein Träger öffentlicher Verwaltung berechtigt oder verpflichtet ist. Privatrechtlich ist eine Norm, wenn der betreffende Rechtssatz für jedermann gilt (sog. moderne Subjektstheorie). Frühere gebräuchliche Abgrenzungskriterien (z. B. bei einem Über- und Unterordnungsverhältnis sei die Norm öffentlich-rechtlich, bei Gleichordnung privatrechtlich) sind für den modernen Rechtsstaat untauglich. Zum einen ist der Bürger kein Untertan und zum anderen sind viele Rechtsverhältnisse zwischen öffentlichen Trägern trotz ihrer Gleichordnung öffentlich-rechtlich ausgestaltet (z. B. Kostenerstattungsansprüche, öffentlich-rechtliche Verträge, z. B. über Gemeindegrenzen oder i. R. d. Daseinsvorsorge).
Verwaltungsprivatrecht
Die Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht kann gelegentlich schwierig sein. So nehmen Staat und Kommunen öffentliche Aufgaben (z. B. Verkehrs- und Versorgungsleistungen, Abfallentsorgung) nicht allein in klassisch hoheitlichen, sondern auch in privatrechtlichen Formen wahr. Man spricht dann von „Verwaltungsprivatrecht“. Es finden zwar zunächst die zivilrechtlichen Regelungen Anwendung (z. B. Kaufrecht, Mietrecht) und bei Streitigkeiten ist deshalb der Zivilrechtsweg einzuschlagen. Andererseits darf der Staat – auch soweit er privatrechtlich handelt – seine hoheitliche Befugnis nicht ausnutzen, er kann sich nicht durch eine „Flucht ins Privatrecht“ von der Geltung der Grundrechte befreien (vgl. z. B. BGH 24.09.2002 – KZR 4 / 01 – NJW 2003, 752 ff.). Zuletzt hat das BVerfG betont: „Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen in Privatrechtsform unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung.“ (1 BvR 699 / 06 – 22.02.2011). Deshalb ist die Verwaltung (auch derartiger Unternehmen) an die verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidungen und Verwaltungsgrundsätze (z. B. Sozialdatenschutz, Akteneinsichtsrecht, Kostendeckungsprinzip) gebunden (vgl. BGH NJW 1992, 171, 173). Aus diesem Grund steht es einem in privatrechtlichen Formen betriebenen kommunalen Versorgungsunternehmen nicht völlig frei, mit welchen Nutzern es Verträge schließt, sondern es ist verpflichtet, grds. allen Bürgern zu gleichen Bedingungen Versorgungsleistungen anzubieten (sog. Kontrahierungszwang).
Zwei-Stufen-Theorie
Gelegentlich werden öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Handlungsformen miteinander verknüpft. So schließt sich auf der Grundlage einer öffentlichen Entscheidung, z. B. über die Bewilligung einer Leistung („Ob“), ein privatrechtlicher Vertrag an, der das „Wie“ der Leistung, also die Einzelheiten der Vergabe regelt. Nach dieser sog. Zwei-Stufen-Lösung/-Theorie richtet sich die Bewilligung der Leistung nach dem öffentlichen Recht, womit wieder v.a. die Grundrechte Geltung beanspruchen. Die Ausgestaltung der Rechtsbeziehung im Einzelnen erfolgt dann nach den privatrechtlichen Regelungen (z. B. Miet-, Darlehensvertrag).
Rechtsweg
Wichtig ist diese Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht vor allem zur Bestimmung des Rechtsweges bei Konflikten zwischen Verwaltungsträgern oder Bürgern und Verwaltung. Nur wenn eine öffentlich-rechtliche Regelung gegenüber dem Bürger getroffen worden ist, z. B. durch einen Leistungs- oder Gebührenbescheid oder einen anderen Verwaltungsakt (hierzu III- 1.3.1), kann der betroffene Bürger den besonderen, für ihn in aller Regel günstigeren Verwaltungsrechtsweg beschreiten. Insbesondere besteht hier ein geringeres Kostenrisiko (z. B. ist das Verfahren in Jugendhilfe- und Sozialhilfeverfahren gerichtskostenfrei); zudem gilt im Verwaltungsgerichtsverfahren das Prinzip der Amtsermittlung, während der Beteiligte eines Zivilverfahrens selbst die Tatsachen und Beweise beibringen muss.
1.1.5 Europäisches Gemeinschafts- und Völkerrecht
1.1.5.1 Europäische Union und Europarecht
Europäische Verträge
Grundlage der Europäischen Union waren die sog. Pariser Verträge von 1954 (durch die das Besatzungsstatut über Westdeutschland beendet und dieses in den militärischen WEU-Beistandspakt eingegliedert wurde) und die „Römischen Verträge“ zwischen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden, mit denen 1957 zunächst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG 1957) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom / EAG) gegründet wurden, sowie der bereits 1951 geschlossene Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, sog. Montanunion). Durch den sog. Maastricht-Vertrag vom 07.02.1992 wurde der ergänzende EU-Vertrag zur politischen Zusammenarbeit geschlossen (eigentlicher Gründungsakt der Europäischen Union; zur Ratifikation des Maastrichter Vertrags vgl. BVerfG 2 BvR 2134, 2154 / 92 – 12.10.1993 – E 89, 155). Einige Änderungen des EWG-Vertrages wurden vorgenommen (insb. Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen sowie institutionelle Änderungen, z. B. Einführung des Europäischen Währungsinstituts als Vorgängerinstitution der Europäischen Zentralbank, die am 01.06.1998 ihre Arbeit aufnahm, vgl. Art. 282 AEUV; zudem Festlegung der sog. Konvergenzkriterien zur Sicherung der Preisstabilität und Begrenzung des Haushaltsdefizits). Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt, ohne dass damit die drei Teilgemeinschaften aufgelöst wurden (der Vertrag zur Montanunion ist allerdings 2002 nach 50 Jahren außer Kraft getreten). Zu differenzieren war nun zwischen der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Union (EU), wobei sich Letztere als – im Unterschied zur EG noch nicht rechtsfähige – „Dachorganisation“ auf die EG, aber auch auf die zwischenstaatliche polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit im Strafrechtsbereich (PJZS) sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherpolitik (GASP) stützte (sog. Drei-Säulen-Modell; vgl. Haltern 2017, § 2C).
Europäische Union
Allerdings waren mit dieser Struktur wesentliche inhaltliche Fragen wie z. B. die Entscheidungsmechanismen oder die Frage einer Unionsbürgerschaft nicht geklärt worden; das Legitimitätsdefizit des Europäischen Parlaments blieb bestehen. Auch die Bemühungen zugunsten einer gemeinsamen Sozialpolitik waren bis dahin gescheitert (vgl. Haltern 2017, § 2C). Mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 wurden die Mitwirkungsbefugnisse des Europäischen Parlaments erweitert (z. B. Zustimmung bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten), im Hinblick auf eine zu koordinierende Außenpolitik wurde das Amt des Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eingeführt, wichtige Schritte zu einer institutionellen Reform der EU aber vertagt. Mit dem Vertrag von Nizza 2001 beauftragten die Mitgliedstaaten einen Konvent zur Schaffung einer europäischen Verfassung inklusive der bereits in Nizza feierlich verabschiedeten, aber noch nicht rechtlich verbindlichen Grundrechtecharta. Allerdings scheiterte der Verfassungsvertrag nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden.
Nicht zuletzt wegen der verfassungsrechtlichen Problematik und nationalen Vorbehalte etablierte sich Europa weniger als Gemeinschaft der Bürger, sondern eher als gemeinschaftlicher Wirtschaftsraum. Im Alltag besonders sichtbar war die Einführung des Euro am 01.01.2002 (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 EUV). Mittlerweile (2017) ist der Euro das offizielle Zahlungsmittel in 19 der (noch)28 EU-Staaten (zuletzt ab 2015 auch Litauen) und 6 weiteren Staaten (Andorra, San Marino, Monaco, Vatikanstaat, Kosovo, Montenegro).
Die „Verfassung“ der Europäischen Union
Mit dem am 13.12.2007 unterzeichneten Lissabon-Vertrag wurden die ursprünglichen EG- und EU-Verträge geändert, das Drei-Säulen-Modell aufgegeben und ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen geschaffen, wobei wesentliche Inhalte des gescheiterten EU-Verfassungsvertrages übernommen wurden, ohne den neuen Vertrag als Verfassung zu bezeichnen. Der seit Maastricht bestehende „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) wurde damit zum Grundlagenvertrag, der die Ziele und Grundsätze und die Organe der Europäischen Union (EU) beinhaltet. Der noch aus dem Jahr 1957 stammende „Vertrag über die Gründung der Europäischen Union“ (erst EWGV, später EGV) ist in den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (jetzt AEUV) überführt worden, der die konkreten Aufgaben und Maßnahmen der EU-Organe und die Politikfelder der EU im Einzelnen regelt (von Boetticher in Münder 2011, 129 f.). Die Europäische Gemeinschaft hat damit aufgehört zu existieren, ihre Zuständigkeiten wurden auf die EU übertragen, die damit eine eigene Rechtspersönlichkeit erhielt und seitdem als Völkerrechtssubjekt in eigenem Namen handeln kann.
Zuständigkeit der EU
Im Unterschied zu einem souveränen Staat besitzt die EU aber nur die Kompetenzen, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragen wurden (sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen, Art. 5 Abs. 2 EUV). Darüber hinaus hat sie das Subsidiaritätsprinzip (also den Grundsatz, nur solche Aufgaben wahrzunehmen, die nur auf einer übergeordneten Ebene sinnvoller umsetzbar sind als auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene) und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. 2.1.2.2) zu beachten (Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV). Art. 2 ff. des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unterscheidet zwischen ausschließlichen, geteilten und unterstützenden Zuständigkeiten. So ist die EU u. a. für die Handelspolitik und Zollunion ausschließlich zuständig; die Zuständigkeiten z. B. für den Binnenmarkt, für Landwirtschaft und Fischerei, Energie und Verkehr, Umwelt und Verbraucherschutz sowie Teile der Sozialpolitik (Art. 151 AEUV) sind zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilt, d. h. soweit die Union nicht tätig wurde, können die Mitgliedstaaten Gesetze erlassen (vgl. in Deutschland das Modell der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern nach Art. 72 Abs. 1, 74 GG). Unter anderem in der Gesundheits-, Industrie- und Bildungspolitik sowie im Katastrophenschutz ist die EU auf Unterstützungsmaßnahmen beschränkt (vgl. Art. 6 AEUV). Soweit der EU eine Zuständigkeit zukommt, besitzt sie auch die Rechtsetzungskompetenz. Die Außen- und Sicherheitspolitik (bislang GASP) gilt weiterhin als sog. intergouvernementaler Bereich, d. h. die Entscheidungskompetenz verbleibt bei den Mitgliedsstaaten und die EU kann nur Leitlinien durch einstimmigen Beschluss festlegen (vgl. Art. 24 EUV). Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit (früher PJZS) wurde intensiviert und mit der bereits 2002 gegründeten Eurojust eine eigene Justizbehörde zur Unterstützung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung eingerichtet (Art. 85 AEUV, s. IV-1.3).
Der Vertrag von Lissabon ist ein weitgehender Schritt zur europäischen Integration, haben doch die Staaten auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität verzichtet (für Deutschland vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) und die Union mit eigenen, von den Mitgliedstaaten unabhängigen Machtbefugnissen ausgestattet. Gerade deshalb war der Lissabon-Vertrag in einigen Mitgliedstaaten, vor allem in Großbritannien, äußerst umstritten. Nach dem Urteil des BVerfG entspricht der EU-Vertrag, auch i. d. F. des Vertrages von Lissabon, den Vorgaben des Grundgesetzes, allerdings müsse durch entsprechende Begleitgesetze bei der Ratifizierung sichergestellt werden, dass die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat sowie der Bundesländer gewahrt bleiben (BVerfG 2 BvE 2/08 et al. – 30.06.2009). Nachdem Tschechien als letzter Mitgliedstaat die Ratifizierungsurkunde im November 2009 hinterlegt hatte, konnte der Vertrag von Lissabon am 01.12.2009 in Kraft treten. Der EU fehlt allerdings die einen Staat kennzeichnende Allzuständigkeit und die Befugnis, sich selbst neue Zuständigkeiten zu verschaffen (sog. Kompetenz-Kompetenz). Sie ist daher noch kein staatlicher Verband, sondern ein zwischen diesen traditionellen Modellen von Staatenverbindungen einzuordnender Herrschaftsverband oder Staatenverbund (sog. supranationale Organisation; vgl. Borchardt 2015, 85; BVerfG 2 BvR 2134, 2154/92 – 12.10.1993 – Rz. 112), mit nunmehr – nach dem Beitritt Kroatiens zum 01.07.2013 – 28 Mitgliedstaaten und einer Bevölkerung von mehr als 500 Mio. Menschen.
Organe der EU
Die Hauptakteure im institutionellen System der EU sind die Organe der EU (Art. 13 EUV), insb. das Europäische Parlament, der Europäische Rat sowie der (sog. Minister-)Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission, der Gerichtshof der EU (EuGH, hierzu 5.1), die Europäische Zentralbank sowie der Europäische Rechnungshof (vgl. Borchardt 2015, 70 f.; Schulze et al. 2015, 41ff.). Im Zusammenspiel der Institutionen der EU stärkte der Lissabon-Vertrag durch das Budgetrecht sowie die Zuständigkeit für die Wahl des Kommissionspräsidenten (Art. 14 EUV) die Befugnisse des Europäischen Parlaments im Rahmen der Mitwirkung an der Gesetzgebung. Während das EU-Parlament ursprünglich nur ein Beratergremium war, wurde es nun ein (Mit-)Entscheidungsorgan, welches unmittelbar durch die Bürger der Union demokratisch legitimiert ist. Das Europäische Parlament besteht aus einer Kammer mit bis zu 750 Abgeordneten, die alle fünf Jahre (zuletzt am 25.05.2014) in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt werden (Art. 14 Abs. 3 EUV). Die Anzahl der Parlamentarier aus den einzelnen Mitgliedstaaten hängt von deren Bevölkerungszahl ab, beträgt jedoch mindestens sechs (Luxemburg, Malta, Zypern) und maximal 96 Sitze (Deutschland) pro Mitgliedstaat (Art. 14 Abs. 2 EUV). Das EU-Parlament wird (wie die EU insgesamt) für vieles kritisiert, was es nicht selbst zu verantworten hat (z. B. begrenzte Entscheidungskompetenz, hohe Kosten und Bürokratie aufgrund der drei Standorte [zwei Plenarsäle in Straßburg und Brüssel sowie ein Generalsekretariat in Luxemburg]). Zudem wird es von den nationalen Regierungen oft für nationale Themen missbraucht und musste sich seine Zuständigkeiten geradezu erkämpfen. In den letzten Jahren war es vor allem dem EU-Parlament zu verdanken, dass Regelungen zugunsten des Verbraucherschutzes nicht weiter ausgehöhlt wurden, z. B. die von der Kommission initiierte Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung, die Aushöhlung des internationalen Urheberschutzes durch das sog. Acta-Abkommen abgewehrt und eine einheitliche Bankenaufsicht geschaffen werden konnte. Anders als die nationalen Regierungen und Parlamente versucht das EU-Parlament zumindest, die Abhörpraktiken von NSA und britischen Geheimdiensten zu untersuchen.
http://www.europarl.europa.eu/portal/de
Der Europäische Rat, dem die Staats- und Regierungschefs sowie die Präsidenten von Parlament und Kommission angehören (Art. 15 EUV), hat einen eigenen Präsidenten (seit Dez. 2009, im März 2017 wurde Donald Tusk für eine zweite Amtszeit bis November 2019 wiedergewählt – gegen die Stimme seines Herkunftslandes Polen) und ist verantwortlich für die grundlegenden politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU (z. B. Beitritt neuer Mitglieder, Art. 49 EUV, und Austritt von Mitgliedern, Art. 50 EUV, wie im aktuellen Fall des sog. „Brexit“ von Großbritannien), er wird aber nicht gesetzgeberisch tätig. Zusammen mit dem Rat der EU der Fachminister der Mitgliedstaaten (informell sog. Ministerrat) bildet er die eigentliche Regierung der EU, wobei der Ministerrat – zusammen mit dem Europäischen Parlament – gleichzeitig auch als Legislativorgan der EU fungiert (Art. 16 EUV). Während die Beschlussfassung im Europäischen Rat weiterhin grds. dem Konsensprinzip folgt (bei Personalentscheidungen qualifizierte Mehrheit), folgt das Verfahren zur Beschlussfassung im Ministerrat nach Ablauf einer Übergangszeit seit dem 01.04.2017 dem Grundsatz der sog. qualifizierten, „doppelten“ Mehrheit, wonach mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 % der Bevölkerung der EU repräsentieren, den Gesetzgebungsvorschlag unterstützen müssen.Weiterhin einstimmig werden allerdings u. a. alle Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Steuern entschieden. Hintergrund für diese komplizierten und differenzierten Abstimmungsregeln ist zum einen der jeweils damit verbundene Verlust von Mitsprachemöglichkeiten bezüglich Regelungen, die gleichwohl im eigenen Land verbindlich gelten, zum anderen die Sorge der kleineren Mitgliedstaaten vor einer erdrückenden Dominanz durch die großen Mitgliedstaaten.
http://www.consilium.europa.eu/de/european-council/, 27.06.2017
Die Europäische Kommission (Art. 17 EUV) mit Sitz in Brüssel, die sich aus je einem (nicht von den nationalen Regierungen weisungsabhängigen) „Kommissar“ aus den 28 Mitgliedsländern zusammensetzt (zum Auswahlverfahren s. Art. 244 AEUV), hat im Wesentlichen exekutive Aufgaben, ohne schon als eigenständige Regierung gelten zu können. Sie hat allerdings das Initiativrecht zur Unionsgesetzgebung (Art. 17 Abs. 2 EUV, mitunter sogar die Verpflichtung; vgl. Art. 241 AEUV) und verfügt darüber hinaus über punktuelle, „abgeleitete“ Rechtssetzungsbefugnisse (Art. 290 AEUV). Die Kommission führt den Haushaltsplan der Union aus und verwaltet die EU-Programme. Darüber hinaus überwacht sie die Anwendung des Unionsrechts unter der Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs (hierzu 5.1.2). Schließlich vertritt die Kommission die EU in internationalen Organisationen. Hierzu besitzt sie einen Präsidenten mit Richtlinienkompetenz (seit 2014: Jean-Claude Juncker) sowie als ersten (von sieben) Vizepräsidenten den sog. Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, der somit eine Doppelzuständigkeit hat (Art. 17 f. EUV; seit 2009: Federica Mogherini). Nach Art. 17 Abs. 7 EUV wird der Präsident auf Vorschlag vom EU-Parlament für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Auch die Gesamtheit der Kommissarinnen (aktuell: 9) und Kommissare bedarf der Zustimmung des Parlaments vor ihrer Ernennung durch den Europäischen Rat (https://ec.europa.eu/commission/index_de).
Die EU ist nicht zu verwechseln mit dem bereits 1949 statuierten Europarat (Conseil de lʼEurope) mit Sitz in Straßburg, dessen Aufgabe sich auf eine engere Zusammenarbeit seiner – über die EU hinausreichenden – derzeit 47 Mitglieder beschränkt. Hierbei fördert er den wirtschaftlichen wie sozialen Fortschritt sowie die europäischen Ideale, insb. die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – und die Europäische Sozialcharta, s. u.), deren Einhaltung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR – überwacht wird (s. 1.1.5.2, ebenso dort zum EuGH, dem Gerichtshof der Europäischen Union, https://www.coe.int/de/).
Europarecht
Als Recht der Europäischen Union oder schlicht Europarecht bezeichnet man die Gesamtheit des Europäischen Gemeinschaftsrechts (EU-Recht) und der sonstigen im Bereich der EU geltenden Rechtsnormen (hierzu Borchardt 2015, 71ff.; Haltern 2017; Schulze et al. 2015). Durch die der EU übertragenen Rechtssetzungsbefugnisse und gefördert durch die Rechtsprechung des EuGH konnte sich eine eigene autonome Rechtsordnung entwickeln. Das EU-Recht wird in das sog. primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht unterteilt. Das EU-Primärrecht besteht aus den genannten (Gründungs-)Verträgen (heute EUV und AEUV, die zusammen mit der EU-Grundrechtecharta [s. u.] das Fundament der EU bilden) sowie den Änderungsverträgen (zuletzt Vertrag von Lissabon 2007) mit Anhängen und sog. Protokollen sowie den Beitrittsakten, die in Deutschland jeweils nach Ratifizierung durch den Gesetzgeber (Bundestag und Bundesrat) wie auch in den anderen Mitgliedsländern der EU in Kraft traten. Das sekundäre Gemeinschaftsrecht sind die Rechtsnormen, die darauf basieren und von den Organen der EU (Ministerrat und Europäisches Parlament unter Mitwirkung der Kommission) erlassen werden. Art. 288 AEUV unterscheidet zwischen Verordnungen, Richtlinien, Beschlüssen, Empfehlungen und Stellungnahmen.
EU-Verordnungen
EU-Verordnungen (ältere VO bzw. RL aus den Zeiten der EWG bzw. EG behalten ihre alte Bezeichnung) haben allgemeine Geltung und sind – wie das über die Programmsätze hinausreichende primäre Gemeinschaftsrecht – in allen ihren Teilen in jedem Mitgliedstaat unmittelbar verbindlich (Gesetzescharakter, vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Verordnungen werden in der Regel auf Vorschlag der Europäischen Kommission vom Rat der EU und dem Europäischen Parlament im sog. ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen und im Amtsblatt der EU veröffentlicht.
Von besonderer sozialrechtlicher Bedeutung war die VO EWG 1408/71 -14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf ArbN und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die am 01.05.2010 durch die VO EG 883/2004 i.V.m. der VO EG 987/2009 abgelöst wurde. Zwar ist es allein Sache der Mitgliedstaaten, Art und Voraussetzungen der Sozialleistungsansprüche zu regeln, die VO EG 883/2004 stellt aber u. a. sicher, dass man bei einem Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat seinen Krankenversicherungsschutz und seine Rentenansprüche nicht verliert (Zusammenrechnung von Beschäftigungs- und Versicherungszeiten).
Zur Weiterentwicklung des koordinierenden Sozialrechts hat die EU-Kommission am 13.12.2016 einen „Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004“ vorgelegt (COM [2016] 815 final). Demnach sollen in der Verordnung 883/2004 u. a. die Rechtsprechung des EuGH zur Zulässigkeit von Ausschlüssen nicht erwerbstätiger Unions-Bürger von Leistungen der Sozialhilfe aufgenommen werden, ebenso Regelungen zur Koordinierung der Leistung bei Pflegebedürftigkeit und von Familienleistungen als Einkommensersatz, sowie die Möglichkeiten ausgedehnt werden, Arbeitslosengeld für längere Zeit auch im Ausland beziehen zu können. Der Diskussionsprozess um dieses Reformvorhaben wird sich voraussichtlich noch mehrere Jahre hinziehen. Zugleich wird er Aufschluss darüber geben, ob sich die Mitgliedstaaten angesichts der gegenwärtigen, u. a. durch den Brexit (s. o.) beflügelten Richtungsdiskussion auf eine Stärkung der EU als Sozialunion verständigen können oder nicht.
Die sog. Brüssel- bzw. Rom-Verordnungen I, IIa und III regeln die Zuständigkeit von Gerichten und Behörden in der EU. Die sog. Brüssel-I-VO vom 22.12.2000 (EuGVO, EG-VO Nr. 44/2001) regelt die internationale Zuständigkeit der Gerichte gegenüber einem Beklagten, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU hat, sowie die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aus anderen Mitgliedstaaten. Die EuGVO wurde im Bereich des Ehe- und Kindschaftsrechts durch die Brüssel-IIa-Verordnung (EuEheVO) vom 27.11.2003 (in Deutschland seit dem 01.03.2005 in Kraft) ergänzt. Seit dem 21.06.2012 gilt die sog. Rom-III-Verordnung in 14 der Mitgliedstaaten (u. a. in Deutschland), nach der im Hinblick auf das anzuwendende Recht künftig stärker an den gewöhnlichen Aufenthalt und nicht vorrangig die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird (hierzu 1.1.6). Auf dem Gebiet der gemeinsamen europäischen Asylpolitik ist insb. auf die (politisch umstrittene) sog. Dublin-III-Verordnung von 2013 zu verweisen, die seit dem 01.01.2014 unmittelbar anzuwendendes Recht ist und nach der u. a. grds. derjenige EU-Mitgliedstaat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem zuerst ein Gebietskontakt bestand bzw. Asylantrag gestellt wurde (hierzu IV-3.2).
EU-Richtlinien
Im Unterschied zu den EU-Verordnungen umreißen die EU-Richtlinien zunächst nur einen gesetzlichen Rahmen und verpflichten die nationalen Gesetzgeber zu einem Transformationsakt, durch den das nationale Recht an die jeweilige Richtlinie angepasst wird (Art. 288 Abs. 2 AEUV). Die EU-Richtlinien (früher EWG- bzw. EG-Richtlinien) richten sich deshalb zunächst nur an die Mitgliedstaaten, die bei ihrer Umsetzung in Abhängigkeit vom Inhalt einen gewissen Gestaltungsspielraum haben, wobei sie zur Umsetzung innerhalb einer bestimmten Frist – i. d. R. von 2 Jahren – verpflichtet sind. Neben dem Abbau von Handelshemmnissen haben die Richtlinien häufig eine verbraucherschützende Zielsetzung (vgl. z. B. Produkthaftungsgesetz, AGB gem. §§ 305 ff. BGB; Verbraucher- und Fernabsatzverträge gem. §§ 312 ff. BGB, hierzu II-1.3.1.1, oder Verbrauchsgüterkauf gem. §§ 474 ff. BGB, hierzu II-1.4.2.1) und etablieren europaweite Sicherheits- und Gesundheitsstandards (insb. in arbeitsrechtlicher Hinsicht, hierzu V-3). Für den Bereich der Sozialen Arbeit besonders bedeutsam waren/sind z. B.
■ 79/7/EWG vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes auf Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit;
■ 93/104/EG vom 23.11.1996: sog. Arbeitszeitrichtlinie (Auswirkungen auf den Schwerbehindertenzusatzurlaub aus § 125 Abs. 1 S. 1 SGB IX; BAG, 23.03.2010 – 9 AZR 128/09);
■ 97/81/EG vom 15.12.1997 (Teilzeitarbeit) und Richtlinie 2000/78/EG 27.11.2000 zum Schutz vor Diskriminierung wegen des Alters; vgl. hierzu EuGH, 19.01.2010 – C-555/07 und BVerwG, 25.03.2010 – 2 C 72.08);
■ 2000/43/EG vom 29.06.2000 sog. Antirassismus-Richtlinie sowie die Gender-Richtlinien 2002/73/EG und 2004/113/EG wurden durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom August 2006 (AGG) bislang nur teilweise umgesetzt (vgl. 2.1.2.4 u. IV-3.2);
■ 2004/38/EG vom 29.04.2004 über die Freizügigkeit von Unionsbürgern (s. u.);
■ 2008/52/EG vom 21.05.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen (hierzu 6.2);
■ 2011/36/EU vom 15.04.2011 zur Bekämpfung von Menschenhandel und zum Opferschutz;
■ 2013/11/EU vom 21.05.2013 über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten (hierzu I-6);
■ 2013/33/EU vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-Richtlinie, hierzu III-8.3)
■ 2014/54/EU vom 16.04.2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen (s. u.).
Heftig umstritten war die RL 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung (s. a. 2.2.5, III-1.2.3), durch die nationale Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten zur Speicherung von Telekommunikationsdaten zugunsten einer effektiven Strafverfolgung vereinheitlicht werden sollten. In Deutschland war diese Richtlinie aufgrund des Widerstands der Bundesjustizminister/-in bis ins Jahr 2014 zunächst nicht umgesetzt worden, weshalb Deutschland von der EU-Kommission wegen Nichtumsetzung unter Androhung einer Millionenstrafe vor dem EuGH verklagt wurde. Allerdings hat der EuGH aufgrund einer Vorlage der obersten Gerichte in Irland und Österreich im April 2014 in einem geradezu historischen Urteil die RL für ungültig erklärt, weil die anlasslose Vorratsdatenspeicherung die Grundrechte auf Datenschutz und Achtung der Privatsphäre verletzt und gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt (EuGH C-293/12 u. C-594/12 – 08.04.2014; s. a. I-5 u. III-1.2.3). Demzufolge wird auch die Verfassungsmäßigkeit des nunmehr vorliegenden deutschen Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10.12.2015, das im Wesentlichen Änderungen der StPO und des Telekommunikationsgesetzes betrifft, von Kritikern bezweifelt. Jedoch blieben Eilanträge gegen das Gesetz vor dem BVerfG erfolglos. Nach Auffassung des BVerfG stellen sich auch nach der Entscheidung des EuGH vom 21.12.2016 hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bewertung noch Fragen, die nicht zur Klärung im Eilrechtsschutzverfahren geeignet seien (BVerfG 26.03.2017 – 1 BvR 3156/15 und 1 BvR 141/15).
EU-Beschlüsse
Im Hinblick auf die Terminologie und zur Abgrenzung möchten wir auf den von der traditionellen deutschen Rechtssprache verschiedenen Gebrauch der Begriffe hinweisen. EU-Verordnungen sind keine „abgeleiteten“ Rechtsquellen wie die deutsche Rechtsverordnung (1.1.3.3), sondern haben originären Gesetzescharakter mit Vorrang vor dem gesamten nationalen Recht. Auch die EU-Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV) haben den Charakter von Rechtsnormen, sind verbindlich und nicht nur verwaltungsinterne Regelungen. Sie müssen allerdings durch ein Gesetz (im materiellen Sinn; nicht ausreichend ist eine Verwaltungsvorschrift) in nationales Recht umgesetzt werden. Wird diese Anpassung der EU-RL in nationales Recht versäumt, können sich aus den EU-Richtlinien unter bestimmten, vom EuGH näher konkretisierten Voraussetzungen auch unmittelbare Rechtswirkungen ergeben. Sogar eine Schadensersatzpflicht wegen mangelnder Umsetzung zum Schaden der Bürger kann die Folge sein. EU-Beschlüsse, z. B. bei Personal- oder anderen (z. B. wettbewerbsrechtlichen) Einzelfallentscheidungen, z. B. der EU-Kommission oder Sanktionen des EU-Ministerrats (z. B. im Defizitverfahren nach § 126 Abs. 9 und 11 AEUV) sind in allen ihren Teilen für die jeweiligen Adressaten verbindlich (vgl. Art. 288 Abs. 4 AEUV), sie entsprechen funktional dem deutschen Verwaltungsakt (hierzu III-1.3.1.2). Dagegen sind Empfehlungen und Stellungnahmen nicht verbindlich (vgl. Art. 288 Abs. 5 AEUV).
Supranationales Recht
Das Unionsrecht bildet eine eigenständige, originär europäische Rechtsordnung (sog. supranationales Recht; i.E. Borchardt 2015, 83). Das Europarecht beeinflusst die (nationale) Rechtspraxis nicht nur im öffentlichen Auftrags- und Subventionsrecht, Außenwirtschaftsrecht, dem Kartell- oder Verbraucherrecht; die europäischen Vorgaben wirken auch in Sachgebiete hinein, die traditionell dem nationalen Recht vorbehalten waren, z. B. Kaufrecht, Arbeitsrecht, Zivilprozessrecht oder die polizeiliche oder strafrechtliche Sozialkontrolle. Mithin ergibt sich ein Dualismus von Unionsrecht und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten; das Verhältnis der beiden zueinander ist nicht ganz einfach und z. T. auch zwischen EuGH und BVerfG umstritten (hierzu Ludwigs/Sikora 2016). Das Primärrecht und das auf der Grundlage des EU-Vertrages erlassene Sekundärrecht verdrängen, soweit sie unmittelbar gelten (also auch EU-Verordnungen), entgegenstehendes nationales Recht jeder Art und Form, also auch Verfassungsrecht (vgl. bereits EuGH 26/20 - 05.02.1963 van Gend & Loos; EuGH 6-64 - 15.07.1964 – Costa/ENEL). EU-Richtlinien formen das deutsche Recht, bei dessen Anwendung im Übrigen stets eine unionskonforme Auslegung geboten ist. Die Missachtung des EU-Rechts kann unter bestimmten Voraussetzungen zu Amtshaftungsansprüchen führen (Schulze et al. 2015, 38). Obwohl das Unionsrecht prinzipiell Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht genießt, soll der Vorrang des Unionsrechts nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch nicht absolut gelten, sondern nur „solange“ das Handeln der Unionsgewalt nicht offensichtlich und „hinreichend qualifiziert“ kompetenzwidrig ist („ultra vires“ – „ohne Vollmacht“) und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und der EU führt. Das BVerfG selbst beansprucht diesen Kontrollvorbehalt, wobei es sich allerdings selbst sehr enge Beschränkungen auferlegt (zur sog. Ultra-Vires-Kontrolle vgl. BVerfG 2 BvR 2661/06 - 06.07.2010). Damit hat das BVerfG seine Rechtsprechung der berühmten „Solange“-Entscheidungen von 1974 und 1986 konkretisiert, nach denen es eine Prüfungskompetenz von EU-Recht beansprucht hatte, „solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen… Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des GG adäquat ist“ (BVerfGE 37, 271, 185 – 2 BvL 52/71 - 29.05.1974; BVerfGE 73, 339, 375 – 2 BvR 197/83 - 22.10.1986). Nach „Lissabon“ scheint es den Vorrang des EU-Rechts mit Ausnahme extremer Kompetenzverletzungen zu akzeptieren, ja positiv zu befürworten, obwohl gerade die demokratische Legitimation des EU-Rechts vor allem mangels der weiterhin begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des EU-Parlaments (zur Wahl des EU-Kommissionspräsidenten durch das EU-Parlament nach Art. 17 Abs. 7 EUV, s. o.) immer noch umstritten ist (BVerfG 2 BvE 2/08 - 30.06.2009; vgl. zuletzt BVerfG 2 BvR 2728/13 - 21.06.2016 zum sog. „Outright Monetary Transactions“-Programm der EZB).
EU-Grundrechtecharta
Das entscheidende Kriterium ist also der Schutz der Grundrechte der EU-Bürger am Maßstab des Grundgesetzes (hierzu 2.2; sog. Vorbehalt der Verfassungsidentität, BVerfG 2 BvR 2735/14 - 15.12.2015 – Ablehnung der Auslieferung nach Italien trotz EU-Haftbefehl; hierzu Meyer 2016, 332). Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass die EU-Grundrechtecharta von 2000 (hierzu Jarass 2010), die noch als Teil der ursprünglich geplanten EU-Verfassung gescheitert war (s. o.), aufgrund des Lissaboner Vertrages zwar nicht erweitert, aber doch zumindest in der am 12.12.2007 in Straßburg angepassten Fassung als unmittelbar geltendes EU-Recht anerkannt wurde (Art. 6 Abs. 1 EUV; eingeschränkter Geltungsbereich, sog. opt-out für Großbritannien, Polen und Irland). Nach Auffassung des EuGH gehörten die Grundrechte der Mitgliedstaaten ohnehin zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts (EuGH 21.09.1989 – 46/87, 227/88 - NJW 1989, 3080). Art. 53 der Grundrechtecharta weist zudem mit Blick auf das Schutzniveau darauf hin, dass keine Bestimmung der Grundrechtecharta im Sinne einer Verschlechterung der durch die nationalen Verfassungen begründeten rechtlichen Stellung der Bürger ausgelegt werden darf. Darüber hinaus hat sich die EU verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, s. 1.1.5.2) beizutreten, allerdings wurde der Beitritt bislang noch nicht vollzogen.
Recht auf Freizügigkeit
Teile des europäischen Rechts haben (nicht nur) für den Bereich der Sozialen Arbeit eine besondere Bedeutung. Die Angehörigen der EU-Staaten (sog. Unionsbürger, Art. 9 S. 2 EUV) haben im EU-Raum (also auch in Deutschland) im Wesentlichen dieselben Rechte, was sich insb. aus dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) und dem Recht auf Freizügigkeit ergibt. Unter Freizügigkeit wird dabei Unterschiedliches verstanden, insb. geht es um die ArbN-Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie um die Freiheit des Dienstleistungs- (Art. 56 AEUV) und Kapitalverkehrs (Art. 63 ff. AEUV). Der Freizügigkeitsgedanke, zunächst vor allem auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugunsten des zum 01.01.1993 errichteten einheitlichen europäischen Binnenmarktes ausgerichtet, führt im Alltagsleben vieler Unionsbürger zu erheblichen Erleichterungen und zu modernen Wanderungsbewegungen (zu rechtlichen Fragen der Migration s. III-7.2.1).
Der Binnenmarkt und seine Grundfreiheiten spielen auch eine erhebliche Rolle beim im März 2017 von Großbritannien angezeigten Austritt aus der EU („Brexit“). Einerseits waren die Einschränkungen der Zuwanderungskontrollen von Unionsbürgern aufgrund der ArbN-Freizügigkeit ein maßgebliches Argument zur Werbung für den Brexit, zudem muss im Rahmen der planmäßig zweijährigen Austrittsverhandlungen (Art. 50 Abs. 3 EUV) u. a. der dauerhafte Status der inzwischen in Großbritannien lebenden Unionsbürger ebenso geklärt werden wie derjenige von Briten in der EU. Andererseits will Großbritannien weiterhin einen möglichst ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt behalten. In Deutschland haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach § 2 Frei-zügG/EU das Recht auf Einreise und das Recht auf Aufenthalt. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten genügt insoweit allein ein gültiger Personalausweis bzw. Reisepass (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU).ArbN und Selbstständige können für die Dauer ihrer Berufstätigkeit bleiben, Arbeitsuchende sich jedoch nur bis zu sechs Monate im Land aufhalten, bei entsprechenden Nachweisen ggf. auch länger (§ 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU). Da für die Einreise kein Visum erforderlich ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU), ist der Ablauf dieser Frist allerdings schwer zu bestimmen und entsprechende Ausreiseverfügungen in der Praxis kaum umzusetzen. Nicht erwerbstätige Unionsbürger und begleitende Familienangehörige können über die drei Monate hinaus bleiben, sofern sie einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nachweisen können (§ 4 Frei-zügG/EU; zum Aufenthaltsrecht von sog. Drittstaatsbürgern s. III-8.2). Vom Erhalt existenzsichernder Sozialleistungen sind (auch) Unionsbürger ausgeschlossen, sofern sie im Inland nicht bereits berufstätig sind oder waren (§§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 2b) und c) SGBII23 Abs. 3 SGBXII; s. dazu III-4.1.4 und III-4.2).Vor allem Unionsbürger aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten, die nicht Mitglieder des Europäischen Fürsorgeabkommens sind (s. 1.1.5.2), stellen für die Soziale Arbeit insb. in Ballungszentren eine große Herausforderung dar, weil sie in beachtlichen Größenordnungen in den Anlaufstellen der Wohnungslosenhilfe auftauchen, ohne häufig aber Ansprüche auf Integration in das deutsche Hilfesystem zu haben.
Schengener Abkommen
Ursprünglich nur völkerrechtlich verbindlich (s. 1.1.5.2), wurden mit den Schengener Abkommen (I von 1985, II von 1990) die stationären Personenkontrollen (also nicht die Zollkontrollen) an den Binnengrenzen abgeschafft und gleichzeitig an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten einheitliche Standards (einheitliche Einreisevoraussetzungen für Drittausländer, Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Polizei, elektronischer Fahndungsverbund) geschaffen. Dies führt einerseits zu Erleichterungen im Reiseverkehr der EU-Bürger, andererseits aber auch zu einer verstärkten Sicherung und Abschottung des EU-Gebiets vor der als bedrohlich angesehenen illegalen Einwanderung (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 EUV). Mittlerweile ist der sog. Schengener Besitzstand in den meisten Mitgliedstaaten geltendes EU-Recht (nicht in Großbritannien und Irland; in Dänemark gilt „Schengen“ als völkerrechtliche Verpflichtung). Darüber hinaus sind dem Schengener Abkommen weitere Nicht-EU-Staaten beigetreten (z. B. Norwegen, Island und die Schweiz). Auswirkungen hat „Schengen“ insb. für das Ausländer/Zuwanderungsund Asylrecht (vgl. III-8) sowie das Strafverfahrensrecht (IV-1.3). Rahmenbeschlüsse, die auf der Grundlage der Bestimmungen des EU-Vertrages über die PJZS ergangen waren, verdrängen allerdings nationales Recht wohl nicht (str.; zum sog. Europäischen Haftbefehl vgl. BVerfG 18.07.2005 – 2 BvR 2236 / 04). Dieses wird allerdings z. T. aufgrund europäischer Vereinbarungen angepasst. So trat z. B. am 28.10.2010 das EuGeldG in Kraft, welches für Deutschland die grenzüberschreitende Vollstreckung insb. von Geldstrafen und Geldbußen in der Europäischen Union regelt und damit einen entsprechenden europäischen Rahmenbeschluss umsetzt.
Europäisches Sozialrecht
Obwohl die EU primär auf eine Wirtschafts- und Währungsunion ausgerichtet war und zu guten Teilen auch noch ist, ist sie als stabilisierender Faktor für Frieden, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte (vgl. auch Art. 2 und 3 EUV) nicht hoch genug einzuschätzen. Ziel der EU-Regelungen sind vor allem die Sicherung des freien Warenverkehrs (Art. 28 AEUV), des freien Wettbewerbs (Art. 101 AEUV) und das Diskriminierungsverbot im Hinblick auf EU-Bürger (Art. 18 AEUV). Das Sozialrecht bleibt dagegen im Wesentlichen die Domäne der Mitgliedstaaten. Mittlerweile kann man aber durchaus von einem Europäischen Sozialrecht sprechen (vgl. Eichenhofer 2013b; Fuchs 2012; Schrammel / Winkler 2010; Waltermann 2012, 41 ff.). Immerhin setzt sich die EU zum Ziel, soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen zu bekämpfen sowie soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes zu fördern (Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV). Die Eingliederung des Abkommens über die Sozialpolitik durch den Vertrag von Amsterdam (vgl. Art. 151 AEUV) hat die Sozialpolitik gestärkt, ohne dass dies allerdings die Primärzuständigkeit der nationalen Gesetzgeber aufgehoben hätte. Gemäß Art. 153 Abs. 4 AEUV sind wesentliche Bereiche der Sozialpolitik einer europäischen Rechtsangleichung immer noch entzogen, wozu insb. weite Bereiche der sozialen Sicherungssysteme gehören. Der Schwerpunkt des europäischen Sozialrechts liegt in der Koordination der sozialen Sicherungssysteme (Art. 48 AEUV, VO EG 883 / 04 und DVO EG 987 / 09; ehemals VO EWG 1408 / 71 – 14.06.1971, s. o.), ohne die der Binnenmarkt, insb. die ArbN-Freizügigkeit, nicht funktionieren würde. Anspruchsbegründende Regelungen finden sich im sozialrechtlichen Teil des EU-Rechts nicht (z. B. schließt Art. 3 Abs. 5 der VO EG 883 / 04 die Sozialhilfe ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich aus). Die EU gewährt also keine originären Sozialleistungsansprüche, vielmehr richten sich diese nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Zu beachten ist allerdings neben den Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Abkommen (z. B. EFA, s. nachfolgend 1.1.5.2) insoweit auch Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung (EWG) Nr. 1612 / 68, wonach legal zugewanderte ArbN die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießen wie inländische ArbN. Die EU besitzt darüber hinaus eine Förderungsund Unterstützungspflicht sowie teilweise eine Harmonisierungszuständigkeit (vgl. Art. 153 ff. AEUV). Die Rechtsprechung des EuGH deutet zudem auf eine Einschränkung des Territorialprinzips des § 30 SGB I hin: EU-Ausland).Aus den (Waren-, Dienstleistungs- und Unionsbürger-)Freizügigkeitsrechten hat der EuGH (s. 5.1.1.2) mittlerweile eine sog. passive Dienstleistungsfreiheit abgeleitet, also das Recht zum Erwerb von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland gegen Kostenerstattung durch die Sozialversicherung (z. B. Urteile v. 28.04.1998 – C 120 bzw. 158 / 95 bei Brillenkauf bzw. Zahnbehandlung) und damit mittelbar Rechtsansprüche für Empfänger insb. von Gesundheitsleistungen (Waltermann 2011, 44 ff.). Diese Rechtsprechung ist inzwischen auch schon im deutschen Sozialversicherungsrecht nachvollzogen worden (vgl. § 13 Abs. 4 SGB V,34 Abs. 1a SGB XI).
Der aufgrund Art. 162 AEUV eingerichtete Europäische Sozialfond (ESF) ist hingegen kein sozialrechtliches Instrument, sondern ein politisches Steuerungsmittel mit dem Ziel, innerhalb der Union die berufliche Verwendbarkeit und Mobilität der Arbeitskräfte sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme (insb. Finanzierung von Arbeitsmarktprogrammen) zu fördern.
Europäisches Vergaberecht
Nicht nur, aber eben gerade auch für den Sozialbereich relevant ist das europäische Vergaberecht, also die Regelungen, nach denen öffentliche Aufträge ab einem bestimmten Auftragswert (sog. Schwellenwert), der u. a. für soziale Dienstleistungen bei 750.000 € (ohne Mehrwertsteuer) liegt, nur nach vorheriger öffentlicher Ausschreibung vergeben werden dürfen. Das Vergaberecht beruht auf der RL 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe und wurde in Deutschland in den §§ 97 ff. des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen und der Vergabeverordnung (VgV) umgesetzt (sog. Kartellvergaberecht). Grundprinzipen der europäischen Vergaberichtlinien sind die Transparenz, die Nichtdiskriminierung und die Chancengleichheit, damit öffentliche Auftraggeber möglichst wie Private am Markt auftreten und einen EU-weiten Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge eröffnen. Auch im Sozialbereich ist eine zunehmende Tendenz zur Ausschreibung sozialer Maßnahmen und Projekte festzustellen (insbes. im Bereich der Arbeitsförderung bei den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, z. B. nach § 45 Abs. 3 SGB III; vgl. exemplarisch für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe auch von Boetticher / Münder 2009, 23 ff. und 73 ff.). Problematisch ist dabei, dass bestimmte Grundprinzipien des Sozialrechts wie das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (§ 33 SGB I) sowie das Gebot der Pluralität des Leistungsangebotes und der Trägervielfalt (§ 17 SGB I) in Widerspruch zum vergaberechtlich grundsätzlich intendierten Exklusivitätsanspruch des Ausschreibungsgewinners für die Vertragslaufzeit stehen (von Boetticher / Münder 2009, 75). Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung bestand im Sozialbereich darin, dass die Ausschreibungsteilnahme von gemeinnützigen Trägern nicht zu gleichen Bedingungen möglich war. Denn die für die Preise des Leistungsangebotes durchaus relevanten steuerlichen Privilegien der Gemeinnützigkeit (§ 51 Abs. 2 AO i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 2 und § 2 Nr. 1 KStG) konnten bis zum Jahr 2009 nur von solchen Trägern in Anspruch genommen werden, die ihren Sitz oder zumindest ihre Geschäftsleitung in Deutschland hatten. Diese Ungleichbehandlung gegenüber (Non-Profit-)Anbietern aus einem anderen EU-Mitgliedstaat hat der EuGH als mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) nicht vereinbar eingestuft (vgl. EuGH 14.09.2006 – C 386 / 04 – Stauffer / FA München – NJW 2006, 3765 ff.). Mit Wirkung vom 25.12.2008 wurde dieses Problem beseitigt, indem gemäß § 5 Abs. 2 Nr.2 KStG auch (Non-Profit-)Anbieter aus anderen EU-Mitgliedstaaten in Deutschland die Gemeinnützigkeitsanerkennung und die damit verbunden Vorteile beanspruchen können.
Europäisches Subventionsrecht
Darüber hinaus sind im Hinblick auf die Förderung freier Träger (vgl. z. B. §§ 74 f. SGB VIII, § 5 SGB XII) die Vorschriften über die Gewährung staatlicher Beihilfen zu beachten. Insbesondere untersagt Art. 107 Abs. 1 AEUV den Mitgliedstaaten generell, nur bestimmten Unternehmen – also auch freien, gemeinnützigen Trägern – staatliche Beihilfen (Subventionen) zu gewähren, wenn dadurch der Wettbewerb verzerrt und der grenzüberschreitende Handel bzw. Dienstleistungsverkehr beeinträchtigt werden. Im Einzelnen ist hier noch vieles umstritten, so z. B. was alles unter den Begriff der Beihilfen fällt – am EU-Recht kommt man aber in der Praxis der Sozialen Arbeit nicht mehr vorbei (zu allen Fragen ausführlich Banafsche 2010, 162 ff.; von Boetticher / Münder 2009; Münder et al. 2013b, § 74 Rz. 4 –17).
https://europa.eu/european-union/index_de
1.1.5.2 Völkerrecht
Völkerrecht
Haager Abkommen
Im Unterschied zum supranationalen EU-Recht gehen völkerrechtliche Abkommen als sog. internationales Recht dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt vor. Vielmehr handelt es sich um Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen, die in der Regel innerstaatlich mittels eines Parlamentsgesetzes (Zustimmungsgesetz) ratifiziert und somit Bestandteil des innerstaatlichen Rechts werden. Einerseits handelt es sich um bi- oder multilaterale Abkommen, die dann nur im Verhältnis der entsprechenden Staaten zueinander (und damit auch etwa nur für deren jeweilige Staatsangehörige) Anwendung finden (z. B. das europäische Fürsorgeschutzabkommen). Andererseits gibt es Übereinkommen, die innerstaatlich unmittelbare Rechte und gegebenenfalls auch Pflichten für einzelne Personen begründen können. So wurde etwa das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH-Statut), das Straftaten gegen das Völkerrecht normiert, mit Gesetz vom 26.06.2002 in Deutschland ratifiziert (vgl. IV-2.1). Ein weiteres Beispiel ist auch das in Deutschland am 01.01.2011 in Kraft getretene Haager Kinderschutzübereinkommen 1996 (KSÜ; hierzu Schwarz 2011), welches nicht nur das anzuwendende Recht und die Zuständigkeit regelt, sondern die Bundesrepublik Deutschland zum Schutz aller unter 18 Jahre alten „Kinder“ verpflichtet, unabhängig davon, ob in den Vertragsstaaten ein anderes Alter der Volljährigkeit gilt (für über 18 Jahre alte Menschen, die wegen einer Beeinträchtigung oder psychischen Störung einer gesetzlichen Vertretung bedürfen, gilt das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen – ErwSÜ vom 13.01.2000) und unabhängig davon, ob die Kinder aus einem Vertragsland kommen oder nicht. Schutzmaßnahmen im Sinne des KSÜ sind neben familiengerichtlichen Maßnahmen (z. B. Bestellung eines Vormunds) alle Leistungen und Aufgaben insb. des SGB VIII (hierzu III-3), die im Interesse des Minderjährigen erforderlich sind (vgl. BGHZ 60, 68 ff.; Münder et al. 2013b, § 6 Rz. 13 ff.).
Weitere für die Soziale Arbeit wichtige Haager Übereinkommen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert hat, sind die Abkommen über
■ das auf Unterhaltsverpflichtungen anzuwendende Recht vom 02.03.1973,
■ die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf dem Gebiet der Unterhaltspflicht gegenüber Kindern vom 15.04.1958,
■ die Anerkennung und Vollstreckung von Unterhaltsentscheidungen vom 02.10.1973,
■ die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (KiEntfÜ) vom 25.10.1980 (verpflichtet die Vertragsstaaten zur Rückführung eines Kindes bei Verletzung des Sorgerechts) sowie
■ den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (AsÜ) vom 29.05.1993.
Europäisches Fürsorgeschutzabkommen
Demgegenüber gilt die deutsch-schweizerische Fürsorgevereinbarung (vom 04.07.1952) bzw. das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 21.06.1999 (in Kraft seit 01.06.2002) nur für Schweizer Staatsangehörige. Das deutsch-österreichische Fürsorgeabkommen (vom 17.01.1966) gilt entsprechend nur für österreichische Bürger in Deutschland. Einen weiteren Anwendungsbereich hat das 1956 ratifizierte Europäische Fürsorgeschutzabkommen (EFA), das die Bundesrepublik Deutschland zu sog. Fürsorgemaßnahmen nur gegenüber Personen aus denjenigen Staaten verpflichtet, die ihrerseits diesem Abkommen beigetreten sind (Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien, Türkei), sofern sich diese Personen in erlaubter Weise in Deutschland aufhalten (so BVerwG 14.03.1985 – 5 C 145.83 – E 71, 139 ff.; zur Kritik daran Peter 2001, 180 f.).
Europäische Menschenrechtskonvention
Von Bedeutung ist vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die zunächst „nur“ einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, über dessen Einhaltung der Europäische Gerichtshof für Menschrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg wacht. Die EMRK ist in Deutschland im Jahr 1953 im Rang eines Bundesgesetzes (BVerfG 2 BvR 2365 / 09 – 04.05.2011) in Kraft getreten (verfahrensrechtliche Komponenten wurden neu geregelt durch das 11. Zusatzprotokoll v. 11.05.1994; ratifiziert am 24.07.1995, in Kraft seit 01.11.1998). Sie garantiert wesentliche zur Menschenwürde gehörende Grundrechte (u. a. Allgemeines Freiheitsrecht, Gewissens- und Religionsfreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Diskriminierungsverbot; s. u. 2.1.2.4). Wichtig ist vor allem die Sicherung wesentlicher Rechte im Strafverfahren (rechtliches Gehör und Verbot rückwirkender Strafdrohungen, Folterverbot), insb. prominent die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK (hierzu IV-3.1), die untrennbar mit der Menschenwürde verbunden sind. Für die Soziale Arbeit im Bereich der Jugend- und Familienhilfe (III-3) sowie im Hinblick auf den Datenschutz im gesamten Sozialrecht (hierzu III-1.2.3) ist auch Art. 8 EMRK mit dem dort garantierten Schutz des Privat- und Familienlebens von besonderer Bedeutung. So wurde etwa im Jahr 2004 in der Görgülü-Entscheidung des EGMR festgestellt, dass die Nichtgewährung des Umgangsrechts für den nichtehelichen Vater mit seinem Sohn einen Verstoß gegen Art. 8 ERMK darstellt. Das BVerfG hat als Reaktion hierauf betont, dass alle deutschen Behörden und Gerichte die Gewährleistungen der EMRK und die Entscheidungen des EGMR bei der Gesetzesanwendung zu berücksichtigen haben (BVerfG 14.10.2004 – 2 BvR 1481 / 04).
UN-Menschenrechtsabkommen
Zum Völkerrecht gehören auch eine Reihe von Menschenrechtsabkommen, insb. die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 (ICESCR, beide in Kraft seit 1976) sowie die diese Pakte ergänzenden (sog. Fakultativ-)Protokolle (von 1976 und 1989). Der Inhalt der Pakte knüpft im Wesentlichen an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) an, die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen formuliert wurde. Die darin verankerten Rechte sind nicht zuletzt durch die Tätigkeit von Amnesty International in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt worden.
UN-Kinderrechtskonvention
Das UN-Übereinkommen über die Rechte der Kinder (UN-KRK vom 20.11. 1989, in Deutschland in Kraft getreten am 05.04.1992; vgl. hierzu Schorlemer / Schulte-Herbrüggen 2010) ist zunächst ebenfalls „nur“ ein völkerrechtlicher Vertrag. Die frühere Vorbehaltserklärung wurde durch die Bundesregierung am 15.07.2010 gegenüber der UN zurückgenommen, womit die Bundesrepublik Deutschland sich nun vorbehaltlos dazu verpflichtet hat, den in der UN-KRK niedergelegten Regelungen in Deutschland Geltung zu verschaffen. Die UN-KRK und die in ihr niedergelegten Prinzipien und Kinder-Grundrechte (insb. Schutz, Förderung und Entwicklung, Nichtdiskriminierung und Beteiligung) müssen nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe beachtet werden, sondern darüber hinaus ist nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, … das Wohl des Kindes,… vorrangig zu berücksichtigen“. In diesem Art. 3 UN-KRK schlummert ein gewaltiges und bislang noch weitgehend unberücksichtigtes Potenzial für die innerstaatliche Rechtsanwendung, sowohl in materiell- wie auch prozessrechtlicher Hinsicht (Cremer 2011; Lorz 2010). Es ist Pflicht und Aufgabe aller deutschen Behörden und Gerichte, dem Kindeswohlvorrang Geltung zu verschaffen, indem sie ihre Entscheidungspraxis an den Abwägungs- und Begründungserfordernissen der UNKRK ausrichten. Besonders relevant wird dies im Hinblick auf die Friktionen in der Rechtsstellung von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen im Sozial- und Asylverfahrensrecht (Cremer 2006, s. III-3.4 u. III-7.3.2). Am 28.02.2013 hat Deutschland auch das Zusatzprotokoll zur UN-KRK vom 29.12.2011 ratifiziert, welches ein Individualbeschwerdeverfahren für Kinder und Jugendliche regelt, damit sie selbst die Verletzung von Kinderrechten nach der UN-KRK geltend machen können. Vorrangig ist aber der innerstaatliche Rechtsschutz. Darüber hinaus hat es sich die sog. National Coalition von mehr als 100 Organisationen und Initiativen zur Aufgabe gemacht, die Rechte der Kinder in Deutschland einzufordern.
UN-Behindertenkonvention
Das am 13.12.2006 von der UN beschlossene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities – CRPD; Resolution 61 / 106 der Generalversammlung der UN) ist in Deutschland nach Unterzeichnung (2007) und Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde am 26.03.2009 in Kraft getreten. Diese UN-Konvention zielt neben der Bestärkung der allgemeinen Menschenrechte (Recht auf Leben, Freiheit, Freizügigkeit etc.) auf eine verstärkte Selbstbestimmung, Teilhabe und damit soziale Inklusion von Menschen mit Behinderungen ab (Art. 3 CRPD). In Deutschland war dies bereits durch die Einführung des SGB IX im Jahr 2001 sowie durch das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen im Jahr 2005 (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) rechtlich umgesetzt worden, wenn auch nur zum Teil. So wendet sich das BGG unmittelbar nur an öffentliche Träger (z. B. Benachteiligungsverbot, § 7 BGG) und verpflichtet diese im Wesentlichen nur, zur Herstellung der Barrierefreiheit (§ 4 BBG) Zielvereinbarungen mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden zu schließen (§ 5 BGG). Hör- oder sprachbehinderte Menschen haben überdies grds. das Recht, mit Trägern öffentlicher Gewalt in deutscher Gebärdensprache oder über andere geeignete Kommunikationshilfen zu kommunizieren (§§ 6 und 9 BGG). Blinde und sehbehinderte Menschen können grds. (eingeschränkt durch eine entsprechende Rechtsverordnung) verlangen, dass ihnen z. B. Gerichtsdokumente, rechtlich relevante Bescheide und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden.
Die UN-Konvention geht über das BBG und SGB IX hinaus, begreift Behinderung nicht als ein persönliches Defizit (vgl. § 2 SGB IX), sondern vielmehr als Folge gesellschaftlicher Barrieren, die die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen be- bzw. verhindern. Zudem zielt die CRDP auf eine tatsächliche soziale Inklusion und verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen eine volle Einbeziehung (inclusion) und Teilhabe in der Gemeinschaft (participation) zu erleichtern. Dies erfordert für den einzelnen behinderten Menschen einen verbesserten Zugang zu ambulanten, gemeindenahen Unterstützungsleistungen und die Umstellung staatlicher Eingliederungshilfen in die Form eines sog. persönlichen Budgets gegenüber den öffentlichen Rehabilitationsträgern, mit dem die Selbstbestimmung des behinderten Menschen als „Kunden“ gestärkt werden soll (vgl. § 17 Abs. 2 SGB IX; hierzu s. III-5.4 zum Rehabilitationsrecht). Behinderungen dürfen kein Anlass für den Ausschluss (Exklusion) sein, insb. kein Grund für eine Freiheitsentziehung (Art. 14 CRPD; Einzelheiten hierzu in III-5) oder einer besonderen Beschulung. Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen werden deshalb künftig in allgemeinbildenden Schulen integriert (inklusiv) unterrichtet werden müssen (zur Umsetzung der CDP s. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013a u. III-5).
Darüber hinaus haben eine Reihe weiterer UN-Menschenrechtsabkommen Bedeutung für die Soziale Arbeit, die wir hier im Einzelnen nur nennen, aber nicht weiter erläutern können:
■ Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) 1965, in Deutschland in Kraft seit 1969;
■ Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) 1979, in Deutschland in Kraft seit 1985;
■ Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT) 1984, in Deutschland in Kraft seit 1990;
■ Internationales Übereinkommen zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (ICRMW) vom 18.12.1990, in Deutschland noch nicht in Kraft;
■ Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen 2006, in Deutschland in Kraft seit 23.12.2010.
Europäische Sozialcharta
Schließlich wollen wir noch auf die Europäische Sozialcharta von 1961 hinweisen, in der sich die Mitgliedstaaten des Europarates zur gemeinsamen Anerkennung wesentlicher sozialpolitischer Grundsätze verpflichten. Auch die Sozialcharta ist kein unmittelbar geltendes EU-Recht, sondern eine multilateral völkerrechtliche Verpflichtung, die die Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist (ratifiziert 1964).
von Boetticher / Münder 2009; Borchardt 2015; Haltern 2017; Luhmann 1981 und 2006; Schulze et al. 2015; Wesel 1994 und 2014
www.institut-fuer-menschenrechte.de
1.1.6 Internationales Privatrecht
Auslandsbezug
Vom Begriff widersprüchlich erscheinend, ist das sog. Internationale Privatrecht (IPR) kein Teil des Völker- oder internationalen Rechts. Es ist vielmehr der in Deutschland im EGBGB geregelte Teil des nationalen (materiellen) Privatrechts, der in Fällen mit Auslandsbezug (oder sog. Auslandsberührung) bestimmt, welche nationale Rechtsordnung im Hinblick auf die zivilrechtlichen Fragen (z. B.Wirkungen der Ehe, Scheidungsvoraussetzungen, Sorgerechts- und Unterhaltsfragen) anzuwenden ist (ausführlich Ring / Olsen-Ring 2017). Davon zu unterscheiden sind die verfahrensrechtlichen Regelungen (formelles Recht), insb. die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit (s. nachfolgend), also ob deutsche Gerichte in diesen Streitsachen (zur Zuständigkeit der Strafgerichte vgl. Art. 1b EGStGB; §§ 3 ff. StGB; IV-1.3) überhaupt tätig werden dürfen. Letzteres wird gelegentlich als IPR im weiten Sinne bezeichnet. Beide Bereiche, das IPR im engen wie im weiten Sinn, knüpfen vorrangig an supra- und internationales Recht (insb. Europarecht, s. o. 1.1.5.1) und an internationale Abkommen (s. 1.1.5.2) an, bevor auf die Regelungen des EGBGB bzw. des GVG, der ZPO und des FamFG (hier insb. Abschnitt 9, §§ 97 ff. FamFG) zurückgegriffen wird. Das supranationale Recht verdrängt alle anderen Rechtsquellen, das internationale Recht (inklusive der vielfältigen bilateralen Abkommen) ist lex specialis gegenüber dem nationalen Recht (vgl.Art. 3 EGBGB).
Das IPR hat in Deutschland aufgrund der Einbindung in das sich vereinigende Europa und aufgrund der steigenden Zuwanderung eine zunehmende, von der Praxis vielfach unterschätzte Relevanz. Immer wenn in einem Fall irgendetwas, sei es die Staatsangehörigkeit der handelnden Personen, deren (gewöhnlicher) Aufenthalt oder der Ort des Geschehens, nicht ausschließlich deutsch ist (z. B. binationale Ehe, Heirat von Deutschen im Ausland, Anerkennung von Minderjährigenehen, grenzüberschreitende Tätigkeit der Kinder- und Jugendhilfe oder anderer Einrichtungen, Organisationen und Behörden, Aufenthalt einer deutschen Pflegefamilie im Ausland, Auslandsadoption, Arbeitsstelle oder Ferienhaus eines Deutschen im Ausland bzw. eines Nichtdeutschen in Deutschland), liegt ein Auslandsbezug vor, sodass zwingend die Zuständigkeit der nationalen Gerichte sowie die Fragen des IPR i. e. S. vorab zu klären sind, bevor man sich der inhaltlichen Lösung des Falles annehmen kann. Das IPR regelt das Verhältnis der mitunter konkurrierenden und zu unterschiedlichen Ergebnissen führenden nationalen Rechtsordnungen.
Internationale Zuständigkeit
Die sog. Brüssel-IIa-Verordnung von 2003 (Nr. 2201 / 2003 / EU) enthält Vorschriften über die Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Ehe- und Kindschaftssachen.
Nach dem Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) von 1996 (in Deutschland seit 01.01.2011 über das IntFamRVG in Kraft) richtet sich die internationale Zuständigkeit für alle Schutzmaßnahmen für ein Kind, vor allem die Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangsrechts bei Trennung und Scheidung der Eltern, nach dem gewöhnlichen Aufenthaltsort (= Lebensmittelpunkt) des Kindes (Art. 5 KSÜ). Für ihre Anordnungen wenden die zuständigen Behörden und Gerichte dann das Recht des Staates an, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. Art. 21 EGBGB).
Ergänzt wird das KSÜ durch das Europäische Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgerechts vom 20.05.1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen – ESÜ), welches in Deutschland 1991 in Kraft getreten ist. Es regelt vor allem die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher oder behördlicher Sorgerechts- und Umgangsentscheidungen in Fällen von Kindesentziehung und anderen Sorgerechtsfällen.
Internationales Privatrecht i. e. S.
Das IPR im engeren Sinne betrifft materiell-rechtliche Fragen und regelt im zweiten Kapitel des EGBGB (Art. 3 – 46c EGBGB) durch sog.Kollisionsnormen (Welche Norm soll Anwendung finden?) höchst unterschiedliche Regelungsbereiche: Fragen der Rechts- und Geschäftsfähigkeit (Art. 7 EGBGB) gehören ebenso dazu wie das Namensrecht (Art. 10 EGBGB) und vor allem familien- (Art. 13 ff. EGBGB), erb- (Art. 25 ff. EGBGB) und sachenrechtliche (Art. 43 ff. EGBGB) Aspekte. Neben der Grundvorschrift des Art. 3 EGBGB über den Vorrang des supranationalen Rechts enthalten Art. 3a ff. EGBGB einige Verweisungs- und Rückverweisungsvorschriften (z. B. sog.Renvoi nach Art. 4 EGBGB). Das für die Behandlung zahlreicher Fragen maßgebende Personalstatut (Art. 5 EGBGB) wird in Deutschland durch die Staatsangehörigkeit bestimmt (hierzu III-8.5). Im 7. Abschnitt des EGBGB (Art. 46a ff. EGBGB) finden sich eine Vielzahl von besonderen Vorschriften zur Durchführung von Regelungen der EU, die nach Art. 3 EGBGB den nationalen Konkurrenzregelungen vorgehen (s. o. 1.5.1.1 und 1.5.1.2). Die sog. Rom-I-Verordnung (593 / 2008 / EU) regelt z. B. das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (nach Art. 3 Vorrang einvernehmlicher Rechtswahl). Seit Januar 2009 soll nach der sog. Rom-II-Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (864 / 2007 / EG) bei unerlaubten Handlungen i. d. R. das Recht des Staates zur Anwendung kommen, in dem der Schaden eingetreten ist. Mitte 2012 trat die sog. Rom-III-Verordnung (1259 / 2010 / EU) in allen EU-Mitgliedstaaten in Kraft, nach der im Hinblick auf das anzuwendende Recht bei Trennung von Ehen bzw. Ehescheidung stärker an den gewöhnlichen Aufenthalt und nicht vorrangig an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird und die insoweit auch ein (einvernehmliches) Wahlrecht der sich trennenden bzw. scheidenden Partner vorsieht. Aus einer Trennung / Scheidung resultierende Eigentums- und Unterhaltsfragen bleiben hiervon allerdings ebenso ausgeschlossen wie im Vorfeld zu klärende Aspekte (z. B. Gültigkeit der Ehe).
ordre public
Ein Beispielsfall: Das deutsch-französische Ehepaar Chantal und Fritz lebte mehrere Jahre zusammen mit seinem Kind in Jena. Die Eltern haben sich getrennt und möchten sich scheiden lassen. Nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB in Übereinstimmung mit Art. 3 Abs. 1a Brüssel-IIa-Verordnung 1259 / 2010 / EU richtet sich die Zuständigkeit der Gerichte bei binationalen Ehen nach deren gewöhnlichem Aufenthalt, hier ist also das Familiengericht in Jena zuständig (§§ 98 Abs. 1 Nr. 2, 122 Nr. 1 FamFG). Auch das im Hinblick auf die Scheidung des deutsch-französischen Ehepaars anzuwendende materielle Recht richtet sich entsprechend der Rom-III-Verordnung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt, mithin ist das deutsche Recht anzuwenden. Anders ist dies z. B., wenn beide Ehepartner gleicher, nicht deutscher Staatsangehörigkeit sind. Dann kann es sein, dass das deutsche Gericht aufgrund der Regelungen des IPR das ausländische Privatrecht welchen Staates auch immer anwendet (mitunter auch die islamische Scharia; hierzu Muckel 2003; Rohe 2009 und 2011). Dies ist in Bezug auf Staaten der Fall, in denen die Scharia ausdrücklich als Rechtsquelle anerkannt ist (z. B. Ägypten, Bahrein, Jemen, Kuweit, Sudan, Syrien); darüber hinaus wird z. B. in Afghanistan, Saudi-Arabien und Pakistan die Scharia − von Ausnahmen in einzelnen Rechtsbereichen abgesehen – sogar mit der Rechtsordnung gleichgesetzt (Elger / Stolleis 2008/2017). Demgegenüber orientiert sich z. B. das Familienrecht der Türkei nicht an der Scharia, sondern am schweizerischen Familienrecht. Rein religiöse Normen, die nicht (auch) in staatliches Recht übernommen worden sind, können im Rahmen des IPR keine Geltung beanspruchen, allerdings durchaus unter Berücksichtigung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) im Alltagshandeln gelebt werden, sofern dabei das deutsche Recht nicht verletzt wird (grds. nicht zulässig z. B. rituelles Schlachten / Schächten im Hinblick auf § 4 Tierschutzgesetz, möglich aber Ausnahmegenehmigung; Verbot der Doppelehe / Polygamie, § 172 StGB).
Aus dem IPR alleine ergibt sich schon die Bereitschaft des deutschen Gesetzgebers, die Regelungen anderer Staaten (also „fremdes Recht“) anzuerkennen, auch wenn sie im Ergebnis zu einer anderen Rechtsfolge als das deutsche Recht führen. Es gilt der international akzeptierte Grundsatz, dass das Recht zur Anwendung kommen soll, zu dem die Betroffenen den engsten Bezug haben, auch wenn der Aufenthaltsort (nur vorübergehend) gewechselt wird. Allerdings ist dies in einer Zuwanderungsgesellschaft problematisch für Menschen, die ihrer alten nationalen Rechtsordnung gerade entfliehen wollen. Nach Art. 6 EGBGB ist allerdings unter dem Begriff „ordre public“ eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung im konkreten Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist (vgl. z. B. BGH 06.10.2004 – XII ZR 225 / 01 – FamRZ 2004, 1952 für den Iran). Sie ist insb. nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten (hierzu 2.2) und Rechtsgrundsätzen unvereinbar ist. Nur in diesen extremen Fällen findet dann ersatzweise das deutsche Recht Anwendung.
Bundesamt für Justiz
Als zentrale Dienstleistungsbehörde der Bundesjustiz sowie als Anlaufstelle und Ansprechpartner für den internationalen Rechtsverkehr wurde 1997 das Bundesamt für Justiz (BfJ) in Bonn errichtet. Auf dessen Internetseite (http://www.bundesjustizamt.de ➝ Bürgerdienste ➝ Internationales Sorgerecht, 27.06.2017) findet man Formulare auf Deutsch und in zahlreichen anderen Sprachen für einen Antrag auf Kindesrückführung, Durchsetzung eines grenzüberschreitenden Umgangsrechts oder Anerkennung einer Sorge- oder Umgangsrechtsentscheidung.
Borchardt 2015; Pasche 2013; Schulze et al. 2015; Sievers / Bienentreu 2006
1.2 Recht und Gerechtigkeit
1.2.1 Zur Problemstellung
Nicht wenige, vielleicht sogar die meisten der in der Sozialen Arbeit beschäftigten Menschen finden einen Zugang zu ihrem Beruf gerade auch über die Thematisierung von Gerechtigkeitsfragen. Die Motive hierfür und die Standpunkte, die dabei eingenommen werden, können naturgemäß sehr unterschiedlich sein. Sie reichen von Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich an der Ethik des Christentums orientieren, über eine durch individuelle Erfahrung erworbene Fähigkeit, an der Not des anderen tätig Anteil zu nehmen, bis hin zu politisch begründeten Gerechtigkeitsüberzeugungen, wie sie sich etwa innerhalb der aktuellen sozialen Bewegungen artikulieren. Doch ganz gleich, ob dabei in kämpferischer Weise auf der Schaffung einer neuen, gerechteren Weltordnung bestanden oder der eher stillen Sehnsucht Ausdruck verliehen wird, im mühseligen Kampf gegen die Folgen sozialer Ungleichheit möge gelegentlich ein wenig mehr Gerechtigkeit obwalten – eine allgemeine Skepsis in Bezug auf die Möglichkeiten des Rechts, einen wirksamen Beitrag zur Herstellung von Gerechtigkeit zu leisten, wird dabei zumeist nicht unbemerkt bleiben können. „Gerechtigkeit und Recht“, so hört man immer wieder von Studierenden an Fachbereichen für Soziale Arbeit, „das sind zwei verschiedene Dinge“.
Und in der Tat: Wenn G.F.W. Hegel formuliert, dass das Recht das sei, „was gleichgültig gegen die Besonderheit bleibt“ (Hegel 1821, § 49), so ist hierin möglicherweise schon ein Hinweis auf die Veranlassung einer solchen Attitüde enthalten. Bereits auf den ersten Blick legt eine derartige Charakterisierung nämlich schon mindestens zwei Eigenschaften von Recht nahe, die bei Menschen Befremden auszulösen vermögen, deren professionellem Selbstverständnis es entspricht, Empathie für ihre Mitmenschen zu entwickeln, sie also in ihrer jeweiligen Individualität anzunehmen. Das Problem steckt in dem Begriff „gleichgültig“. Dieser verweist nämlich zum einen auf eine Bedeutung im Sinne von „desinteressiert“. Und tatsächlich zeigt sich das Recht der individuellen Biografie des Einzelnen, seiner Besonderheit, wie Hegel es formuliert, gegenüber weitgehend desinteressiert: Nicht das konkrete Individuum in seiner jeweiligen psychosozialen Existenz, sondern eine abstrakte Rechtsperson ist das Subjekt im Recht. Zum anderen ist mit ihm aber auch angesprochen, dass das Recht unbeschadet aller je individuellen Besonderheit für jeden Einzelnen „gleich gültig“, also gleichermaßen gültig ist. Eine Gleichbehandlung von in ihrer sozialen Wirklichkeit erkennbar ungleichen Menschen jedoch wird im Ergebnis immer wieder auch soziale Ungleichheitsverhältnisse auf neuer Ebene entstehen lassen. Genau dies aber lässt es gerade sozial Engagierten wenig einleuchtend erscheinen, dass es sich hierbei um einen Vorgang handeln könnte, der auch noch in besonderer Weise als gerecht zu attribuieren wäre.
1.2.2 Gerechtigkeit und Gleichheit – die (rechts)philosophische Ausgangsfrage
Legitimität von Recht
Und doch ist es so, dass sich die Gerechtigkeitsdiskurse im Recht nun seit alters her um die Gleichheitsfrage drehen. Zwar ist der Dreh- und Angelpunkt des Rechts nach ganz vorherrschender Ansicht der von ihm ausgehende Zwang, soziale Verhältnisse nach seinen normativen Vorgaben zu gestalten (vgl. 1.1.1) – ein Zwang, der durch Verwaltungsbehörden mit polizeilichen Befugnissen, Justiz und Vollstreckungsorgane, den sog. Rechtsstab, abgesichert ist. Max Weber etwa bezeichnet diesen Erzwingungsstab als das entscheidende Kennzeichen von Recht (Weber 1921, 18, 185). Wird jedoch den Mitgliedern einer Gesellschaft auf Dauer zugemutet, sich einem derartigen Zwang zu unterwerfen, so bedarf dies einer für sie nachvollziehbaren, also mit ihrer Lebenswirklichkeit verbundenen Begründung dafür, weshalb dies so sein soll. Es geht dann also um die Legitimität von Recht. Genau an diesem Punkt entscheidet sich bereits, ob und inwieweit Recht überhaupt mit Gerechtigkeitsinhalten, -erwartungen oder -forderungen in Zusammenhang gebracht werden kann. Die Antwort auf die Frage nach der Legitimität von Recht kann nämlich einmal rein formal gegeben werden: Rechtsnormen müssen eingehalten werden, weil sie Rechtsnormen sind. Zur Begründung wird dann lediglich noch angeführt, dass diese Normen aus anderen Normen abgeleitet sind, etwa aus denen, die den Gang des verfassungsmäßig vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahrens festlegen. Dies kann man so lange fortführen, bis man schließlich zu einer – dann nicht mehr empirisch begründbaren – Grundnorm gelangt (Kelsen 1960, 196). „Legitimität durch Legalität“ wird dies genannt. Aber auch die Weiterführung dessen in der „Legitimation durch Verfahren“, wo Recht wesentlich auf Funktionalität reduziert ist (Luhmann 1981, 133; 2006), benutzt derartige rein formale Argumente. Die Gerechtigkeit wird in beiden Fällen als Legitimationsgrundlage des Rechts nicht benötigt.
Gleichheit der Person
Eine andere Perspektive eröffnet sich hingegen, sobald der soziale Kontext des Rechts mit in den Blick genommen wird, in dem sich seine gesellschaftliche Wirklichkeit erst konstituiert. Für Gustav Radbruch war Recht nicht nur der „Inbegriff der generellen Anordnungen für das menschliche Zusammenleben“, sondern auch „die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen“ (Radbruch 1932, 34). Infolgedessen geht es dann bei der Begründung der Geltung von Recht, wie etwa auch bei Max Weber, um eine allgemeine Überzeugung von dessen Richtigkeit (Weber 1921, 181). Eine solche Form des Allgemeinen aber kann sich dem Inhalt nach zumindest in modernen, nicht auf personalen Herrschafts- bzw.Abhängigkeitsverhältnissen beruhenden Gesellschaften immer nur auf die Anerkenntnis der Gleichheit der Personen, deren prinzipielle Gleichwertigkeit und einen daraus resultierenden Gleichbehandlungsanspruch beziehen (zu Art. 3 GG vgl. 2.1.2.4). Rechtsphilosophen, die, wie etwa Gustav Radbruch, die Gerechtigkeit als die „Idee des Rechts“ schlechthin begreifen (Radbruch 1932, 34), kommen daher folgerichtig zu dem Ergebnis, dass genau dieser Gedanke der Gleichheit den „Kern der Gerechtigkeit“ ausmacht (Radbruch 1910, 37 – Hervorhebung im Original).
Recht und Moral
Die unterschiedlichen Problemansätze etwa bei Weber und Radbruch auf der einen und Kelsen und Luhmann auf der anderen Seite resultieren daraus, dass die Gerechtigkeitsfrage an einem Übergangsbereich von Recht und Moral angesiedelt ist (vgl. 1.1.2). Der Zugang zu ihr hängt demzufolge davon ab, ob man überhaupt einen derartigen Berührungspunkt theoretisch akzeptiert – bei Hans Kelsen und Niklas Luhmann ist dies erkennbar nicht der Fall – bzw. an welcher Stelle man ihn verortet. Allgemein gesprochen geht es also darum, ob und in welchem Maße Freiheit und ein friedliches, sicheres und geordnetes Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft (Recht) als notwendige Elemente eines guten und richtigen, d.h. auch gerechten Lebens (Moral) begriffen werden. Umgekehrt lautet die Frage, ob und in welchem Maße Freiheit, sozialer Frieden und Sicherheit außerhalb bestimmter sozialer Strukturen, die als gerecht bezeichnet werden können, überhaupt gesellschaftliche Realität zu beanspruchen imstande sind.
ausgleichende/austeilende Gerechtigkeit
In der Rechts- und Sozialphilosophie gibt es durch die Jahrhunderte hindurch kaum einmal einen Beantwortungsversuch zu dieser Frage, ohne dabei zumindest in irgendeiner Weise auf das zu reflektieren, was Aristoteles hierzu im V. Buch seiner Nikomachischen Ethik (330 v. Chr.) entwickelt hat. In ihr finden wir die berühmte Unterscheidung zwischen ausgleichender (kommutativer) und austeilender (distributiver) Gerechtigkeit. Die ausgleichende Gerechtigkeit wird auch in heutigen Darstellungen noch immer wieder gern anhand des bekannten Symbols der Göttin Justitia, der Waage, verdeutlicht. Ist zwischen beiden Waagschalen ein Ausgleich hergestellt, liegt also in jeder der beiden Schalen gleich viel, dann ist Gerechtigkeit hergestellt: Der Ware in der einen Schale entspricht der Preis in der anderen, dem Schaden in der einen der Schadensersatz in der anderen usw. Die austeilende Gerechtigkeit hingegen sorgt für eine verhältnismäßige Gleichbehandlung einer Mehrzahl von Personen durch eine verteilende Instanz. Der Unterschied zur ausgleichenden Gerechtigkeit ist demnach folgender: Bei der Letztgenannten geht es um eine arithmetische Gleichheit, wie sie typischerweise aus dem Austausch von Äquivalenten resultiert: Ein Brot gleich 2 €; wer mehr verlangt oder weniger geben will, verletzt das Gerechtigkeitsprinzip. Demgegenüber stellt die austeilende Gerechtigkeit eine geometrische Gleichheit her. Das Gesetz weist hier jedem das zu, was für ihn aufgrund bestimmter Kriterien, die häufig unter den Begriffen Leistung oder Verdienst zusammengefasst werden, aber natürlich auch das genaue Gegenteil hiervon bedeuten können, angemessen ist. Die Güter werden also proportional zu den erbrachten Leistungen verteilt: Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Oder auch: Wer leistungsfähiger ist, soll auch stärker (z. B. mit Steuern) belastet werden (vgl. hierzu Ritsert 1997, 23 f.). Auch hier erfolgt also eine Gleichbehandlung (etwa aller Personen mit einem bestimmten Einkommen, aller Familien mit Kindern oder aller Alg-II-Bezieher). Jedoch wurde der Maßstab dafür, wer in welcher Hinsicht als gleich zu betrachten und zu behandeln sei, unter sozialen Gesichtspunkten gewonnen und zur Anwendung gebracht. Die ausgleichende Gerechtigkeit hat demnach – idealtypisch betrachtet – als Minimum zwei Personen zur Voraussetzung, die rechtlich gleichgeordnet sind. Die austeilende Gerechtigkeit hingegen benötigt noch einen Dritten, nämlich die öffentliche Gewalt, die einen konkreten Gleichheitsmaßstab aus der jeweiligen geschichtlichen (d. h. sozial, ökonomisch, politisch, kulturell usw.) geprägten Situation heraus festlegt und zur Anwendung bringt. Auch die gleiche Rechtsstellung in ihrer abstraktesten Form als Person wird demnach den Beteiligten erst einmal zugeteilt. Deshalb auch hat Radbruch die austeilende Gerechtigkeit, das suum cuique tribuere („Jedem möge das Seine zuteilwerden“), wie es der römische Rechtsgelehrte Domitius Ulpianus (170 – 228 n. Chr.) auf eine berühmt gewordene Formel gebracht hat, als die Urform der Gerechtigkeit verstanden. Die ausgleichende Gerechtigkeit hingegen ist nur eine abgeleitete Form von ihr (Radbruch 1910, 37).
Dieser Befund nun impliziert bereits eine Reihe von grundlegenden Annahmen zur Gerechtigkeitsproblematik, die zunächst einmal in einer Art Zwischenergebnis festgehalten werden sollen:
1. Geht es bei der konkreten Beantwortung der Gerechtigkeitsfrage um die Festlegung darauf, unter welchem Aspekt, in welcher Hinsicht, inwieweit Menschen als Gleiche zu betrachten und zu behandeln sind, so wird hierbei zugleich immer auch eine Wertung darüber getroffen, welche faktischen (sozialen) Ungleichheitsaspekte dabei unbeachtet bleiben und demzufolge als gerechtigkeitsirrelevant behandelt werden sollen. Hier wird im sozialen Vorgang nur deutlich, was bereits begriffslogisch vorgegeben ist: Wir können von Gleichheit nicht sinnvoll sprechen, ohne zu sagen, von welchen Verschiedenheiten, Un-Gleichheiten also, wir dabei abstrahieren.
2. Genau das ist auch ein ganz wichtiger Erklärungsansatz dafür, weshalb unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen und mit unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen unterschiedliche Wertungen darüber abgeben, was als gerecht gelten soll. Natürlich wurden diese Wertungen dann auch in ihre jeweiligen philosophischen Gebilde mit hineintragen. Die Frage, ob Gerechtigkeit eine Kategorie universellen oder relativen Inhalts ist, formuliert daher (wie in der Philosophie regelmäßig, wenn man in vermittlungslosen gesellschaftsabgehobenen Gegensätzen denkt) eine Scheinalternative. Denn der universelle normative Inhalt der Gerechtigkeit, die Gleichheit, vermittelt sich stets innerhalb der Wirklichkeit konkreter sozialer Handlungskomplexe. Oder anders herum: Gerechtigkeit ist eine gesellschaftlich-historische Kategorie, die über einen universellen ethischen Kern – die Idee der Gleichheit – verfügt.
3. Selbst dann, wenn sich unser Interesse primär auf die Gerechtigkeit im engeren, formalrechtlichen Sinne richtet, kommen wir an der Kenntnisnahme ihres gesellschaftlichen Hintergrundes nicht vorbei. Denn von diesem sozialen Kontext hängt es letztlich ab, welche jeweilige konkrete Bedeutung der Satz in einer Gesellschaft hat, dass die Menschen gleich und als Gleiche zu behandeln seien.
1.2.3 Rechtliche und soziale Gerechtigkeit
Bereits diese Ableitungen unmittelbar im Anschluss an das aristotelische Gerechtigkeitsmodell legen nahe, dass es innerhalb des Gerechtigkeitsdiskurses offenbar darum geht, eine bestimmte soziale Spannung zu bearbeiten, nämlich die zwischen Gleichheit und Ungleichheit. Es kommt jedoch noch als weiteres Spannung erzeugendes Moment hinzu, dass sich bereits die oben skizzierten theoretischen Grundannahmen zur Gerechtigkeit regelmäßig an der Realität der politischen und sozialen Strukturen reiben. Dies war im Übrigen schon zur Zeit des Aristoteles so, wo die austeilende Gerechtigkeit eben keinesfalls erst einmal jedem Angehörigen der Polis eine abstrakt gleiche Rechtsstellung zuwies, sondern umstandslos Differenzierungen nach gesellschaftlicher Stellung, Geschlecht und Herkunft voraussetzte. Aus heutiger Sicht viel entscheidender ist jedoch, dass auch in der Realität des modernen westlichen Kapitalismus sozialstaatlicher Prägung die beiden Pfeiler der Gerechtigkeitskonstruktion – kommutative und distributive Gerechtigkeit – keineswegs auf unerschütterlichen empirischen Fundamenten stehen. Der konstitutive Bestandteil der kommutativen Gerechtigkeit nämlich, der „freie und gerechte Tausch“, darf zweifellos zu den „Kernlegenden des okzidentalen Kapitalismus“ (Ritsert 1997, 52) gezählt werden. Denken wir in diesem Zusammenhang nur an die zumindest im Jahr 2013 in Deutschland wiederum gesunkenen Reallöhne (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung 437 v. 19.12.2013) gerade auch in sozialen Berufen bei (mindestens) gleichbleibendem Einsatz von Arbeitskraft. Und für die zentrale Kategorie der distributiven Gerechtigkeit, die Leistung, wird man vergeblich nach einer klaren Definition suchen, handelt es sich hierbei doch um einen politisch heftig umkämpften Begriff. Die Debatte um den sog. aktivierenden Sozialstaat hielte hierfür eine Reihe von Beispielen bereit.
Das aristotelische Gerechtigkeitsmodell wirft also zunehmend mehr Fragen auf, als es beantwortet. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil das eingangs formulierte Problem des Verhältnisses zwischen gleichen rechtlichen Regeln für alle und einer damit verbundenen rechtlichen Gleichbehandlung einerseits und der moralischen Bewertung dieses Ergebnisses andererseits heute noch viel differenzierter besteht und dabei mitunter scharfe Gegensätze zwischen dem einen und dem anderen zum Ausdruck bringt: Wie etwa wäre die vieldiskutierte Steuergerechtigkeit herzustellen, wie eine gerechte Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme? Wie ist unter Gerechtigkeitsaspekten („Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“) das unterschiedliche Lohnniveau zwischen Ost und West zu interpretieren, wie die immer noch unterschiedlichen Lohneingruppierungspraxen bei Frauen und Männern? In welchem Umfang und in welcher Weise soll eine Verteilung nach der Leistung die unterschiedliche Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Menschen berücksichtigen und ggf. kompensieren? Es sind dies alles Fragen danach, welche Fallgruppen zu bilden wären, innerhalb derer intern eine Gleichbehandlung erfolgte, für die extern aber ein entsprechender Ausgleich zu schaffen wäre. Weiterhin ist damit nach den Kriterien gefragt, nach denen die einzelnen Menschen dann den entsprechenden Gruppen zuzuordnen wären. Spiegelbildlich stellt sich auf der Seite der Verteilung der Güter die Frage, welche Güter in welchem Umfang einer gleichen Verteilung unterliegen sollen. Sicher nicht alle, denn das Ergebnis wäre gleichermaßen absurd wie ungerecht.
All diese Fragestellungen, die im Übrigen auch für eine seit einiger Zeit zu konstatierende Tendenz stehen, Gerechtigkeitsfragen auch in der öffentlichen Debatte wieder verstärkt zu thematisieren, verweisen im Grunde auf eines: Sie zeigen, dass sich das Interesse der Teilnehmer an dieser Debatte keinesfalls schon in knappen Antworten auf juristische Gerechtigkeitsfragen erschöpft, sondern sich vor allem auf eine in einem weiteren Sinne soziale Gerechtigkeit richtet. Dies ist durchaus nachvollziehbar. Denn der Göttin Justitia mag man noch zugestehen, dass die Binde vor ihren Augen einigermaßen fest sitzt – obgleich man ihr durchaus auch den einen oder anderen Blick auf die soziale Wirklichkeit wünschen kann. Soziale Ungleichheit hingegen ist allenthalben mit Händen zu greifen und es stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen dann soziale Verhältnisse dennoch als gerecht beschrieben werden können und ob und in welcher Weise das Recht hierbei überhaupt mit heranzuziehen wäre.
Verteilungsgerechtigkeit und Aneignungsungerechtigkeit
Analysiert man diese Art von Fragestellungen, so zeigt sich, dass sie alle auf eine ganz bestimmte Ebene gesellschaftlicher Interaktion, nämlich die des Austausches von Gütern und Leistungen, gerichtet sind. Natürlich ist ein solcher Rekurs durchaus erst einmal naheliegend, denn er betrifft eine Gesellschaft, in der die sozialen Beziehungen der Menschen wesentlich über den Austausch von Waren und Geld, den sachlichen Austausch von Dingen, vermittelt sind. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die Gerechtigkeitsproblematik innerhalb einer streng auf die Distributionssphäre ausgerichteten Perspektive wirklich voll ausgeleuchtet werden kann. Karl Marx’ Argument hierzu lautet, dass die Gleichheit der Menschen innerhalb der Verteilungsprozesse lediglich eine Folge ihrer Ungleichheit innerhalb der Aneignungsprozesse sei (Marx 1857, 167 f.). Wolle man daher die Gleichheit in der Verteilung verstehen, müsste zunächst die Ungleichheit bei der Aneignung erklärt sein. Hierbei aber fiele dann sofort auf, dass diese in ihrer geschichtlichen Entstehung und Wirkung regelmäßig an personale oder sachliche Macht- und Herrschaftsarrangements gebunden war – von der Versklavung von Menschen und der Okkupation fremder Territorien über die „Einhegungen“ von Gemeindeland etwa in England zur Zeit des Hochmittelalters bis zur ökonomischen Ausnutzung sachlicher Abhängigkeitsverhältnisse zur Aneignung von ökonomischen Werten, die andere geschaffen haben. Mit anderen Worten: Wir begegnen Aneignungsungerechtigkeiten regelmäßig in der Form des Erwerbs von Eigentum durch Enteignung. Dies alles vollzieht sich übrigens keineswegs in einem rechtsindifferenten Raum, denn, um das Bild der Göttin ein letztes Mal zu bemühen: Justitia hält nur in einer Hand die Waage, in der anderen aber hält sie das Schwert!
Was bedeutet es nun aber für die Bildung von Gerechtigkeitstheorien, wenn solche tragenden gesellschaftlichen Konstruktionselemente wie Aneignung und Eigentum einerseits und Macht und Herrschaft andererseits in ihnen weitgehend unthematisiert bleiben? Die Annahme liegt nahe, dass sich dies, wie wir bereits gesehen haben, in bestimmten Erklärungsdefiziten niederschlägt. Für Ungerechtigkeiten jedenfalls, „die dem Kontext von Macht und Appropriation (der Arbeitskraft, der Arbeitsprodukte, des Körpers und Willens) anderer Subjekte entstammen“, stellt auch für Jürgen Ritsert der klassische Akzent auf Verteilung, Anteiligkeit und Verteilungsalgebra keine ausreichende Perspektive dar (Ritsert 1997, 74 f.).
Mit der Kenntnisnahme von Ungerechtigkeiten in der Aneignungssphäre sind zugleich auch Erwartungen an die rechtliche Gerechtigkeit in eine realistische Perspektive gerückt. Denn es muss sich selbstredend auch in der normativen Forderung, gerecht zu tauschen, in irgendeiner Weise und an irgendeiner Stelle bemerkbar machen, wenn der Verteilung der Güter ungerechte Aneignungsverhältnisse vorausgehen. Jedoch ist es nicht nur so, dass die rechtliche Gerechtigkeit durch die Aneignungsungerechtigkeit faktisch begrenzt wird. Auf der anderen Seite verleiht sie ihr gleichzeitig auch eine gewisse gesellschaftliche Stabilität. Gerade die Analyse von Marx zeigt nämlich, dass die Gleichheit bei der Verteilung nichts anderes ist als eine spezifische Wahrnehmungsform der Ungleichheit in den Aneignungsverhältnissen (Marx 1857, 168 ff., 575). Dies aber bedeutet dann auch, dass Ungerechtigkeiten bei der Aneignung auf der Verteilungsebene in eben jenen rechtlichen Gleichheitsbeziehungen wahrnehmbar sind, die ihrerseits aber als gerecht gelten und deshalb insoweit für ein höchstmögliches Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz sorgen.
Sind Gerechtigkeitsfragen in derartiger Weise gewendet, kann man in sie allerdings auch dann analytische Schärfe und damit durchaus ein kritisches Potenzial hineinlegen, wenn sie üblicherweise an der Verteilungsproblematik ansetzen.
Chancengleichheit
Dies versuchen die aktuellen Gerechtigkeitsdiskurse vornehmlich in einem Rekurs auf die Chancengleichheit. Auch hierbei geht es ja im Kern um Austauschprozesse mit dem Ziel der Umverteilung von Gütern und Leistungen zum Zweck der Kompensation ungleicher Ausgangsbedingungen. Ob und inwieweit damit jedoch wirklich der erhoffte Durchbruch in der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gelungen ist, muss offen bleiben. Denn zunächst wäre einmal zu entscheiden, was mit Chance und was mit Chancengleichheit gemeint sein soll: Eine Chance kann in einer tatsächlichen Gelegenheit bestehen, das zu erhalten, was man angestrebt oder gewünscht hat, aber auch darin, dass eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass der angestrebte Erfolg eintritt. Chancengleichheit wiederum kann man in Bezug auf die Lebensaussichten oder auch mit Blick auf den Mittelgebrauch zur Erreichung eines Ziels annehmen (Ritsert 1997, 81). Das Problem ist also, dass Chance und Chancengleichheit über keine hinlänglich ausgeprägte begriffliche Schärfe verfügen. Um es in der praktischen Konsequenz deutlich zu machen:
In der Bundesrepublik stehen weiterführende Schularten und höhere Bildungseinrichtungen den Kindern aus allen sozialen Schichten gleichermaßen offen. Verfügen Eltern über ein weniger hohes Einkommen, so erhalten ihre Kinder für die Zeit ihres Studiums sogar eine staatliche Ausbildungsförderung. Dennoch besteht, wie es der Bildungssoziologe Wulf Hopf formuliert, eine „auffällig enge Koppelung des Bildungserfolgs an den Schichtstatus der Familie“ (Hopf 2010, 21). Besteht also eine Gleichheit der Bildungschancen in Deutschland?
Das Nachdenken darüber, wie diese und viele ähnliche mehr oder weniger vertrackten Gerechtigkeitskonstellationen theoretisch wie praktisch aufgelöst werden können, bringt uns jenes Spannungsverhältnis zu Bewusstsein, in dem sich der Einzelne mit seinen je individuellen Freiheitsansprüchen und die Gesamtgesellschaft mit ihrem Bedürfnis nach einem für ihre innere Stabilität jeweils notwendigen Maß an Gleichheit / Gerechtigkeit zueinander befinden. Um es an den idealtypisch konstruierten Extremfällen (vgl. auch Radbruch 1932, 67) deutlich zu machen: In einer anarchistisch, radikal-liberal verfassten Gesellschaft mag der Einzelne über ein Höchstmaß an individueller Freiheit verfügen; eine gesellschaftliche Bindung, wie sie von Gleichheit und Gerechtigkeit ausgeht, wird man in ihr jedoch weitgehend vermissen. Umgekehrt verfügen sozialistische Gesellschaften leninistischer oder maoistischer Provenienz über eine vergleichsweise große gesellschaftliche Homogenität, also Gleichheit, jedoch kaum über individuelle Freiheiten für ihre Bürger.
Capability Approach
Eine Auflösung dieses Dilemmas wird aktuell vor allem vom sog. Fähigkeitsbzw. Verwirklichungsansatz (Capability Approach) erwartet, der u. a. auf den Ökonomen Amatya Sen und die Sozialphilosophin Martha Nussbaum zurückgeht. Begründet sind derartige Erwartungen dadurch, dass in diesem Ansatz der Chancengleichheits- und der Freiheitsaspekt insoweit zusammengeführt sind, als Freiheit als Chance der Menschen verstanden wird, jene Ziele verfolgen zu können, die sie sich vernünftigerweise gesetzt haben. Chancen hängen daher eng mit ihren individuellen, freilich sozial geprägten Fähigkeiten zusammen, also damit, wie die Befähigung einer Person beschaffen ist, „die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund (Hervorhebung d. Verf.) hochschätzt“ (Sen 2010, 253 ff. u. 259). Es ist dies nicht der Ort, den Capability Approach, der vor allem auch innerhalb entwicklungspolitischer Diskurse eine herausragende Bedeutung erlangt hat, einer umfassenden Kritik zu unterziehen. Unter den hier relevanten Gesichtspunkten soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass der Fähigkeitsansatz selbst nach Einschätzung seiner Protagonisten zwar sagt, was unter seinen Gesichtspunkten gerecht oder ungerecht ist, er aber keinen entscheidenden Anknüpfungspunkt für die institutionelle Verankerung von Gerechtigkeitsregeln bietet (Sen 2010, 260). Eindrucksvoll macht Sen dies in seinem mittlerweile schon bekannten Gleichnis von den drei Kindern und der Flöte deutlich. In ihm geht es darum, unter Gerechtigkeitsaspekten zu entscheiden, welches der drei Kinder die eine zur Verfügung stehende Flöte bekommen soll. Jedes der Kinder hat gute Gründe, sie für sich zu beanspruchen: das erste, weil es die Flöte hergestellt hat, das zweite, weil keines der beiden anderen Kinder auf ihr zu spielen vermag, und das dritte, weil es als einziges von den dreien so arm ist, dass es, bekäme es die Flöte nicht, kein anderes Spielzeug besäße (Sen 2010, 41 ff.). Es liegt auf der Hand, dass es für eine derartige Konstellation nicht die Lösung, sondern immer nur gute Argumente für eine der Optionen (und damit zugleich gegen die beiden anderen) geben kann.
Gerechtigkeit als Fairness
Die nach wie vor wohl einflussreichste Gerechtigkeitstheorie innerhalb der sozialtheoretischen Diskurse stammt von dem 2002 verstorbenen amerikanischen Moralphilosophen John Rawls, der sie erstmals 1971 als „A Theory of Justice“ (dt.: Rawls 1979) vorlegte. Ihre außerordentliche Anziehungskraft verdankt sie vor allem dem Umstand, dass sie die liberale Freiheitsidee und die sozialstaatliche Idee des Ausgleichs sozialer Ungleichheit zumindest im Ansatz auf institutioneller Ebene zusammenbringt. Sie bietet damit nicht nur gemeinsame Anknüpfungspunkte für ansonsten recht unterschiedliche politische Strömungen und theoretische Denkrichtungen, sondern zielt eben auch und vor allem sehr genau auf konkrete Gerechtigkeitspotenziale (und -defizite!) moderner Gesellschaften. Auf den Punkt gebracht ist sie in zwei Gerechtigkeitsprinzipien, die in einem Neuentwurf, der 2001 unter dem Titel „Justice as Fairness“ erschien, wie folgt lauten (Rawls 2003, 78):
a) Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter den Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).
Vervollständigt werden diese beiden Prinzipien noch durch zwei Vorrangsregeln. Die eine lautet, dass das erste Prinzip gegenüber dem zweiten Vorrang hat. Weiterhin hat innerhalb des zweiten Prinzips die Chancengleichheit Vorrang vor dem Differenzprinzip (Rawls 2003, 78). Diese Gerechtigkeitskonzeption soll Basisnormen für eine gerechte Gesellschaft aufstellen und begründen, die von der Ausgangsfrage her formulieren sollen, was „freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ (Rawls 1979, 28). Deshalb auch muss in ihr das Freiheitsprinzip Vorrang haben, weil nämlich erst die Gleichheit der politischen Freiheit und der Gedankenfreiheit den Bürgern die Möglichkeit geben zu bestimmen, wie die Gerechtigkeitsstruktur ihrer Gesellschaft gestaltet sein soll (vgl. Rawls 2003, 81 f., 130 f.).
Im zweiten Prinzip wird das Problem der Verteilungsgerechtigkeit formuliert. Es besteht darin, wie „langfristig und generationenübergreifend ein faires, leistungsfähiges und produktives System der Kooperation aufrechterhalten werden kann“ (Rawls 2003, 88). Hierauf gibt Rawls zwei Antworten: Zunächst durch eine faire Chancengleichheit nicht nur in dem Sinne, dass öffentliche Ämter und soziale Positionen formal allen gleichermaßen offenstehen, sondern darüber hinaus, dass alle eine faire Chance haben sollen, diese Ämter und Positionen auch tatsächlich zu bekleiden. Die institutionelle Herstellung einer derartigen Chancengleichheit stellt sich Rawls konsequenterweise wiederum marktförmig vor (Rawls 2003, 79 f.). Soziale und ökonomische Ungleichheit zwischen Menschen, die im Ergebnis hieraus entsteht, ist dann nicht ungerecht, denn sie ist nicht nur „nötig oder überaus effizient (…), wenn es darum geht, im Rahmen eines modernen Staates die Wirtschaftsordnung funktionsfähig zu erhalten“, sondern zudem auch moralisch gerechtfertigt, insofern als diejenigen, die ihre Chancen besser genutzt haben als andere, höhere Ansprüche auch tatsächlich verdient haben (Rawls 2003, 128 f.).
Während das erste Gerechtigkeitsprinzip für die Freiheitslosung und das Prinzip der fairen Chancengleichheit für die Gleichheitslosung der Französischen Revolution stehen, will das Differenzprinzip die Forderung nach Brüderlichkeit bzw. wie wir heute sagen würden: nach Solidarität einlösen. Es zielt auf die Bearbeitung jener gravierenden Ungleichheiten in den Einkommensverhältnissen, die, wie Rawls meint, mit drei Arten von Zufallsumständen in Zusammenhang stehen: erstens der sozialen Klasse, in die der Einzelne hineingeboren wurde und von der er sich nicht lösen kann, bis er selbst erwachsen ist, zweitens den angeborenen Begabungen sowie den von der ursprünglichen Klassenzugehörigkeit abhängigen Chancen zu ihrer Entfaltung und schließlich drittens Glück oder Pech im Leben, was etwa Krankheit, Arbeitslosigkeit oder die Auswirkung von Wirtschaftsflauten betrifft (Rawls 2003, 96). Diese sozialen Ungleichheiten sollen den von ihnen am stärksten negativ Betroffenen die größten Vorteile bringen, insofern und weil die im Freiheits- sowie im Gleichheitsprinzip beschriebene Hintergrundgerechtigkeit, wie Rawls sie in diesem Zusammenhang bezeichnet, institutionell hergestellt ist. Unter dieser Prämisse könnten staatliche Regulierungen etwa in Bereichen der Preisbildung, der Arbeitsmarktregulierung, der Absicherung eines Existenzminimums, der Besteuerung von hohen Vermögen oder der allgemeinen Besteuerung zur Aufbringung von Mitteln, die im Sinne einer gerechten Umverteilung eingesetzt werden müssen, als gerecht anerkannt werden. Denn eines ist für Rawls evident: Wenn Vermögensunterschiede eine gewisse Grenze überschreiten, dann werden die Institutionen zur Absicherung der Chancengleichheit gelähmt, verliert die politische Freiheit ihren Wert, und die repräsentative Regierungsform ist nur noch Schein (Rawls 1979, 312).
Erkennbar erhebt auch ein solches Gerechtigkeitskonzept nicht den Anspruch einer universellen Gültigkeit (Hofmann 2000, 210), sondern bezeichnet vielmehr präzise, welche Gleichheitsaspekte in der modernen westlich-kapitalistischen Gesellschaft Berücksichtigung finden sollen und welche nicht. Es verweist dabei im Übrigen implizit auch auf die Grenzen und Defizite marktförmiger Gesellschaftssteuerung, insofern es nämlich z. B. diejenigen, die überhaupt keinen Tauschwert in den gesellschaftlichen Austauschprozess einzubringen vermögen – etwa: arbeitsunfähige Behinderte, dauernd Beschäftigungslose, Nichtsesshafte, Kinder – schlicht ausblendet. Insgesamt – mit ihren produktiven Fragestellungen wie mit ihren blinden Flecken – steht jedenfalls auch diese Gerechtigkeitskonzeption dafür, dass der kategoriale Inhalt von (sozialer) Gerechtigkeit keineswegs einmal vorgegeben und von da an für alle Zeiten feststehend ist. Zwar wird er sich im Kern immer über Gleichheitsfragen bestimmen lassen müssen; welche Gleichheits- bzw. Ungleichheitsverhältnisse jedoch innerhalb eines konkreten sozialen Zusammenhanges, einer konkreten Gesellschaft jeweils als gerechtigkeitsrelevant ausgemacht werden, ist damit, wie auch hier deutlich werden konnte, allerdings noch längst nicht entschieden. Oder, um es in den Worten des amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer zu sagen: „Gerechtigkeit ist ein menschliches Konstrukt; und es steht keineswegs fest, dass sie nur auf eine einzige Weise hergestellt werden kann“ (Walzer 1994, 30).
1.2.4 Juristische Gerechtigkeit
Die soziale Dimension von Gerechtigkeit weist also deutlich über rechtliche Fragestellungen im engeren Sinn hinaus und begrenzt zugleich deren soziale Wirkungsmacht. Dennoch kommt dem Recht, wie eingangs gesehen, eine Schlüsselstellung innerhalb der Gerechtigkeitsproblematik zu. Denn die unterschiedlichen Möglichkeiten, Gerechtigkeit zu begreifen, d. h. also aus den realen gesellschaftlichen Ungleichheitsrelationen heraus Maßstäbe der Gleichheit und der Gleichbehandlung zu formulieren, sind im Recht in der Gleichheit der Person auf ihre abstrakteste Ausdrucksmöglichkeit zurückgeführt.
Einzelfallgerechtigkeit
Für die gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts, die gelebten rechtlichen Beziehungen (also etwa die Beziehungen zwischen Vertragspartnern, zwischen Schadensverursacher und Geschädigtem oder zwischen Behörde und Leistungsbezieher) bedeutet dies, dass in ihr der Gerechtigkeitsgedanke unter einem stark formalisierten Aspekt abgehandelt ist. Daran ändert sich auch prinzipiell nichts, wenn wir die sehr abstrakten Ebenen der Gleichstellung der Individuen als Rechtspersonen, z. B. als Staatsbürger, als Eigentümer oder bei der Abgabe einer Willenserklärung verlassen und bestimmte Kategorisierungen der Rechtsbeteiligten vornehmen: als Wahlberechtigte, ArbN, Verbraucher, Bezieher von Sozialleistungen, Verheiratete o. Ä. Stets neigen wir dazu, im rechtlichen Sinne immer genau dann von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn innerhalb ein und derselben Kategorie für alle die gleichen Regeln zur Anwendung kommen. Jene abstrakte, formale Gerechtigkeit ist demnach „ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen“ (Perelman 1967, 28). Mit anderen Worten kann sich auch die Betrachtung des Einzelfalles, sofern sie unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten erfolgen soll, stets nur an der allgemeinen Norm orientieren. In rechtsphilosophischer Hinsicht hiervon zu unterscheiden wäre dann die Billigkeit, die, freilich auch in einer Weise, die letztlich wieder verallgemeinerbar sein muss, ihre rechtliche Bewertung unmittelbar an-hand des Einzelfalles, d. h. auch unter Berücksichtigung seiner Besonderheit, vielleicht sogar Einmaligkeit, abgibt. Insofern kann man mit Radbruch die Billigkeit als die Gerechtigkeit des Einzelfalles bezeichnen (Radbruch 1932, 37).
gerechtes Recht
Jedoch ist Recht nicht nur normativer Ausdruck, sondern zugleich auch Regulator und damit Gestalter sozialer Beziehungen. Sollen diese dem Anspruch der Gerechtigkeit standhalten, so muss auch das Recht imstande sein, seinerseits die Gerechtigkeitsanforderungen zu erfüllen. Grundlegend hierfür ist, dass die Regeln des Rechts selbst als gerecht gelten können. Damit ist nicht mehr und nicht weniger als das Problem des richtigen Rechts bezeichnet, womit wir innerhalb dieses kleinen Gerechtigkeitsexkurses wieder zu unserer rechtsphilosophischen Ausgangsfrage zurückgelangt sind. Beantwortet werden kann sie auf ganz unterschiedlichen theoretischen Ebenen. Für Kant etwa ist das richtige Recht dann gegeben, wenn der eigene freie Wille zugleich „mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze (… der Freiheit – wäre noch zu ergänzen, wenn man dem Text Kants in dieser knappen Wiedergabe gerecht werden will, d. Verf.) bestehen könne“ (Kant 1797, 338). Das ist zugegebenermaßen wiederum sehr abstrakt. Dennoch ist damit zumindest schon einmal klargestellt, dass – normativ gesprochen – nicht alles, was in Geschichte und Gegenwart in der Form des Rechts auf uns gekommen ist, auch schon notwendigerweise als gerecht angesehen werden muss. In die Wirklichkeitsperspektive des Rechts gewendet bedeutet das, dass soziale Verhältnisse nicht schon deshalb für sich in Anspruch nehmen können, gerecht zu sein, weil sie in der Form des Rechts gesellschaftlich etabliert wurden. Ganz im Gegenteil kann und muss das Recht selbst auch unter Gerechtigkeitsaspekten legitimer Gegenstand der Kritik, notfalls auch des sozialen Protestes sein, wie dies etwa als Reaktion auf die europäische Finanzkrise der letzten Jahre, die sich in verschiedenen europäischen Ländern zu einer sozialen Krise ausweitete, tatsächlich zu beobachten war.
Freilich wird sich die Frage, ob Regeln als gerecht bezeichnet werden können oder nicht, in praktischer Weise kaum von der von Kant besetzten Abstraktionshöhe herab entscheiden lassen. Die juristischen Gerechtigkeitsfragen im engeren Sinn bleiben hier noch einigermaßen unproblematisch und blass. Ihre eigentliche soziale Sprengkraft entwickeln sie erst dann, wenn das allgemeine Diktum der Gleichbehandlung konkretisiert wird. In dem bereits erwähnten Ansatz von Chaim Perelman etwa wird die Gerechtigkeit juristischer Regeln davon abhängig gemacht, ob die Kriterien für die unterschiedlichen Kategorien, innerhalb derer die Menschen gleich behandelt werden, von hinreichender sozialer Relevanz sind und ob die Zuordnung zu ihnen sachlich begründet vorgenommen wurde (Perelman 1967, 119).
Solche Kategorien sind z. B. auf das Arbeitsrecht (vgl. V-3.1) bezogen: ArbGeb, ArbN, leitende Angestellte, andere arbeitnehmerähnliche Personen, Frauen, Schwangere, Behinderte, Jugendliche, Betriebsräte, Gewerkschaftsmitglieder, ArbN in Kleinbetrieben, ArbN in Tendenzbetrieben, befristet Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, Leiharbeiter, Beschäftigte auf Probe, Beschäftigte je nach unterschiedlicher Dauer der Betriebszugehörigkeit. Für sie alle gelten, je nach Kategorisierung, unterschiedliche Regeln, nach denen sie gleich behandelt werden. Zwischen den einzelnen Gruppen hingegen ist eine Ungleichbehandlung innerhalb des großen Rechtsstoffes „Arbeitsrecht“ möglich, ohne dass deshalb notwendigerweise Gerechtigkeitsgrundsätze verletzt würden.
gerechte Rechtsordnung
Erst unter der Voraussetzung eines in diesem Sinne gerechten Rechts kann der schon auf Aristoteles zurückgehende Satz gelten, wonach die Verletzung einer Regel des Rechts ein Akt der Ungerechtigkeit, die Wiederherstellung ihrer Geltung demnach der grundlegende Vorgang der Herstellung rechtlicher Gerechtigkeit sei. Jedoch bleibt auch eine solche Aussage formal, und zwar in dem Maße, in dem die Regelgerechtigkeit selbst nur formal bestimmt werden konnte. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Realverläufe ist nämlich ohne Weiteres einsichtig, dass in einer bestimmten Situation keineswegs immer nur eine Entscheidungsmöglichkeit zu Kategorisierung und Zuordnung vorstellbar ist. Deshalb lässt sich auch eine gerechte Rechtsordnung insgesamt wieder nur auf eine derart abstrakte Weise beschreiben, wie uns dies bereits bei Kant begegnet ist. Konkret werden die Fragen nach einer gerechten Rechtsordnung hingegen erst dann, wenn die interessengeleiteten Wertungen wieder mit in den Blick genommen werden. Geschieht dies aber, dann steht auch die gerechte Rechtsordnung sofort wieder in einem Spannungsverhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Abstrakt kann und muss man daher den Rechtsstaat sehr wohl als Ausdruck und Symbol der gerechten Rechtsordnung begreifen. Werden jedoch die konkreten Bewertungsvorgänge mit in den Blick genommen, dann mag das Rechtsstaatsprinzip zwar immer noch für das Versprechen der Gerechtigkeit stehen. Nach Beispielen und Belegen dafür, wie wenig man aus ihm jedoch eine Garantie für Gerechtigkeit ableiten kann, wird man auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit des demokratischen und sozialen Rechtsstaates leider nicht allzu lange suchen müssen (z. B. zum Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot im „Fall“ Gustl Mollath s. 2.1.2.2).
Gerechtigkeit im Rechtsverkehr
Das Verhältnis zwischen abstraktem Gleichheitssatz und konkreter Zuordnungsentscheidung nach den Regeln des Gleichheitssatzes setzt sich auch im Rechtsverkehr zwischen den Rechtspersonen, etwa bei der vertraglichen Gestaltung von Rechtsbeziehungen, fort. Zwar treffen in ihm zunächst in ihrer Willensbildung autonome Partner aufeinander, sodass der allgemeine Grundsatz der Vertragstheorie insoweit zugleich ein Gerechtigkeitspostulat ist: volenti non fit iniuria, was zu Deutsch etwa heißt, dass einem willentlich Zustimmenden eben deshalb, weil er aus freiem Willen zustimmt, auch kein Unrecht erwachsen kann. Nur eine Folge dieses Grundsatzes ist das einem größeren, auch nichtjuristischen, Publikum geläufige pacta sunt servanda (dt.: Verträge sind einzuhalten). Die Hauptelemente der Verkehrsgerechtigkeit betreffen deshalb vor allem den Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit. Jedoch ist der grundlegende Gedanke der Privatautonomie (vgl. II-1.3) an die stillschweigende soziale Voraussetzung des Rechts gebunden, dass der mit einem freien Willen ausgestattete Mensch zugleich auch über die sozialökonomischen Voraussetzungen autonomer Willensentscheidungen verfügt (hierzu Sinzheimer 1930, 50 f.). Genau dieses Gefüge ist aber spätestens dann aus dem Lot, wenn sich das Fiktionale dieser Voraussetzung als reales Ausgeliefertsein an sachliche Abhängigkeitsverhältnisse zeigt und sich der Einzelne unversehens einer faktisch überlegenen Regelungs- und Verfügungsmacht seines Vertragspartners gegenübersieht. Hierauf verweist auch Max Weber, wenn er schreibt (1921, 439):
„Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen und garantiert ihm an sich auch keinerlei Einfluß darauf.“
Nicht nur im Arbeitsrecht (IV-3), sondern auch im Mietrecht, im Verbraucherrecht und in vielen anderen Rechtsgebieten können derartige Situationen entstehen (vgl. II-1.3). Deshalb werden sich auch zur Verkehrsgerechtigkeit die wirklich schlüssigen Antworten erst wieder aus der Analyse der Klassifikationen von entsprechenden Kategorien und der Beurteilung der jeweiligen Zuordnungen zu ihnen ableiten lassen.
Verfahrensgerechtigkeit
Auch hinsichtlich der Verfahrensgerechtigkeit, also der gerechten Abwicklung rechtlicher Prozesse (Straf-, Zivil-, Familien-, Arbeits-, Verwaltungs- und andere Prozesse) lässt sich an Rawls Gerechtigkeitstheorie anknüpfen. Der verfahrensbezogene Aspekt seines „Justice as Fairness“ ist sowohl aus strafrechtstheoretischer (vgl. Hörnle 2004; hierzu IV-4.1) als auch konstruktivistisch-methodischer Sicht (vgl. I-6) bedeutend. Für John Rawls war ein faires Verfahren die Grundlage für die Gerechtigkeit und das Recht schlechthin, ein Ansatz, der sich im angelsächsischen Recht des Common Law stärker als in kontinentaleuropäischen Civil-Law-Rechtsordnungen wiederfindet. Nach dem Fairnessparadigma ist die Gewährleistung eines fairen Verfahrens für die Gerechtigkeit konstitutiv – Gerechtigkeit wird, wenn überhaupt, im demokratisch dialogischen Verfahren hergestellt. Rawls beschränkte sich aber nicht auf ein funktionalistisches Verfahrensprinzip (s. o. „Legitimation durch Verfahren“), vielmehr betrifft Verfahrensgerechtigkeit im Wesentlichen den Grundsatz der „Waffengleichheit“ im Verfahren. Dies kann man z. B. im Strafprozess von den Verteidigungsrechten des Beschuldigten bzw. Angeklagten bis hin zu den gesetzlichen Beweisverwertungsverboten verfolgen. Die bekannteste Maxime der Verfahrensgerechtigkeit ist das audiatur et altera pars, d.h. der Grundsatz, in einem Verfahren beide Seiten zu hören (verfassungsrechtlich geregelt als Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG). Weitere Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit sind vor allem im Strafrecht (vgl. IV-1.3 u. IV-5.1) zu finden, so z. B. das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot im Strafrecht bzw. das Verbot der rückwirkenden Bestrafung (nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege) oder auch das Verbot der doppelten Bestrafung für ein und dieselbe Tat (ne bis in idem), Art. 103 Abs. 2 u. 3 GG.
Strafgerechtigkeit
Die Strafgerechtigkeit betrifft eine vielleicht auch eine nicht juristische Öffentlichkeit in besonderer Weise interessierende und zugleich besonders kontrovers verhandelte Perspektive von Gerechtigkeit. Debatten wie etwa die um die Angemessenheit der Sanktionen im Jugendstrafrecht oder um die Strafverschärfung für Sexualstraftaten (s. o.) belegen dies. Ihre Schärfe gewinnen sie dadurch, dass offensichtlich gerade hier Werturteile aufeinanderprallen, die deshalb vergleichsweise weit auseinanderliegen, weil die sozialen Grundannahmen, aus denen sie sich herleiten, entsprechend stark differieren. Diese betreffen im Wesentlichen den Zweck der Strafe, der in der Vergeltung begangenen Unrechts oder in dem Gedanken der Resozialisierung und der Erziehung des Täters liegen oder der auf die abschreckende Wirkung von Strafen abzielen kann (vgl. hierzu im Einzelnen unter IV-2.3). Die Annahme von Strafgerechtigkeit hängt daher zum einen davon ab, welcher der genannten Strafzwecke über eine aktuell ausgeprägte soziale Plausibilität verfügt und zum anderen davon, inwieweit dann der konkrete Strafausspruch diesem Strafzweck in angemessener Weise Geltung verschafft. Seit Mitte der 1980er Jahre hat das mit Restorative Justice („Wiederherstellende Gerechtigkeit“) bezeichnete Gerechtigkeits- und Fairnesskonzept, nach dem das aus der Begehung von Unrecht erfahrene Leid so weit wie möglich ausgeglichen werden soll (Wiedergutmachung), die traditionelle Strafzwecklehre (Vergeltung vs. Resozialisierung) herausgefordert, ohne diese allerdings in der Praxis überwinden zu können (hierzu Trenczek 2014; s. IV-4.1).
Die permanenten Relativierungen, denen jeder einzelne der hier behandelten Gerechtigkeitsaspekte unterworfen werden musste, mögen für den einen eine Bestätigung einer bereits vorhandenen Aversion, für den anderen eine Enttäuschung sein. Notwendig wurden sie jedes Mal, weil es sich bei der Gerechtigkeit um eine Kategorie handelt, deren Wesensgehalt zwar eine starke ethisch rückgebundene Zentrierung um Gleichheits- und Gleichbehandlungsfragen ausmacht, deren jeweilige konkrete inhaltliche Bestimmung jedoch je nach interessengeleitet-wertendem Blickwinkel ausfällt. Wer also an eine „absolute“ Gerechtigkeit glauben will und sie definiert haben möchte, der muss auf die naturrechtlich geprägte Annahme universeller Normen, deren Geltung sich unabhängig von menschlicher Einflussnahme auf sie vorstellen ließe, verwiesen werden (vgl. 1.1.2). In der Realität des Rechts hingegen – der gelebten wie der normativen – muss „absolute“ Gerechtigkeit ein Widerspruch in sich bleiben. Denn zwischen Gerechtigkeit und positivem Recht besteht ein permanentes potenzielles Spannungsverhältnis. In ihm ist – außer in den nach Radbruch besonders zu beurteilenden Fällen, wo Recht in einem unerträglichen Gegensatz zur Gerechtigkeit steht oder aber den Kern der Gerechtigkeit, die Gleichheit, bewusst verleugnet (1.1.2) – der Geltung des positiven Rechts, der Rechtssicherheit also, Vorrang einzuräumen (Radbruch 1932, 73 ff.). In einem modernen Verfassungsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland wird dieses Spannungsverhältnis zwar zunächst auf den verschiedensten Ebenen demokratischer Diskurse und judikativer Interpretationen prinzipiell bearbeitet werden können (vgl. auch Dreier 1991, 37); dennoch wird man von Richtern, übrigens ebenso wie von Sozialarbeitern, die für eine Behörde tätig sind, erwarten müssen, dass sie auch dann, wenn sie normative Vorgaben subjektiv als ungerecht empfinden, in ihrem Handeln dem Gesetz folgen. Zu einem fatalistischen Schluss führt dies gleichwohl nicht. Denn einerseits müssen gerade auch Sozialarbeiter immer wieder den Realitätsbezug ihrer jeweiligen Hoffnung auf Gerechtigkeit des Recht an dessen normativen Möglichkeiten überprüfen: Allen zu gefallen ist auch dem Recht unmöglich, für alle zu gelten freilich erwarten wir von ihm. Andererseits wird aber gerade auch von Menschen in sozialen Berufen erwartet, dass sie in und mit ihrem jeweiligen professionellen Handeln Einfluss auf die normativen Inhalte von Gerechtigkeit nehmen, die gesellschaftlichen Diskurse hierzu beeinflussen und vorantreiben und im Einzelfall den Klienten dabei unterstützen, sich selbst und des Rechts zu ermächtigen (Empowerment).
Rawls 2003; Ritsert 1997; Sen 2010; Dreier 1991
1. Welche Bedeutung hat der Staat für das Recht und was versteht man unter dem Begriff Rechtsstaat? (1.1.1, vgl. auch 2.1.2)
2. Wie bestimmt sich das Verhältnis von Recht und Moral? (1.1.1)
3. Was sind die Kennzeichen einer Rechtsnorm und welche Typen von Rechtsnormen gibt es in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland? (1.1.3)
4. Was unterscheidet eine kommunale Satzung von der Satzung eines Vereins? (I-1.1.3.4 und II-1.1)
5. Weshalb ist die Unterscheidung von Privatrecht und Öffentlichem Recht bei der Beantwortung von Rechtsfragen im Einzelfall wichtig? (1.1.4)
6. Welche EU-Regelungen haben unmittelbare rechtliche Wirkungen für das Alltagsleben der Bürger? (1.1.5)
7. Inwieweit kann man von einem Europäischen Sozialrecht sprechen? (1.1.5)
8. Aufgrund welchen völkerrechtlichen Abkommens sind die Jugendämter in Deutschland verpflichtet, ausländischen Minderjährigen Schutz zu gewähren, und was versteht man insoweit unter Schutz? (1.1.5.2)
9. Was versteht man unter dem Begriff Einzelfallgerechtigkeit? (1.2.4)
10. Was versteht man unter dem Begriff Legitimation durch Verfahren, und welche Bedeutung hat dies für die Soziale Arbeit? (1.2.2)