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Оглавление3 Grundlagen der Rechtsanwendung (Trenczek)
3.1 Rechtsanwendung als mehrstufiger normenbezogener Entscheidungsprozess
3.2.1 Tatbestands- und Rechtsfolgenseite
3.2.2 Rechtsfolge und Charakter der Rechtsnorm
3.3 Bestimmte und unbestimmte Rechtsbegriffe
3.3.1 Begriff, Arten und Funktionen
3.3.2 Auslegung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen
3.4.1 Gebundene Verwaltung und Ermessensspielräume
3.4.2 Die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung
3.5 Rechtsanwendung zwischen Logik und Interessenabwägung
3.6 Subsumtion und Stufen der Rechtskonkretisierung
Bei der Rechtsanwendung geht es darum, „Fälle“ und damit die dahinterstehenden Konflikte rechtlich zu entscheiden bzw. im Vorfeld gutachtlich die Konsequenzen menschlichen Verhaltens rechtlich zu würdigen. Die Rechtsanwendung und Rechtsdogmatik (Lehre vom geltenden Recht) ist nicht nur durch eine spezifische, als Subsumtion (hierzu im Einzelnen unten 3.6) bezeichnete Methode, sondern auch durch eine spezifische Sprache mit einer hohen Abstraktion sowie einer z. T. spezifischen Begriffsfindung gekennzeichnet.
Juristendeutsch
Die Sprache, vor allem die Schriftsprache, hat für das Recht eine besondere Bedeutung, sie ist für das Recht mittlerweile konstitutiv und bleibt es auch noch im Zeitalter des Internets (vgl. Boehme-Neßler 2005, 161 ff.). Damit einher geht ein im Vergleich zur Alltagssprache unverständlicher Stil (viele Substantive, schwierige Satzkonstruktionen mit vielen Verschachtelungen, echte Fachbegriffe und Professionalismen, vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende fachliche Bedeutungsinhalte). Die Sprache der öffentlichen Verwaltung und Justiz ist die Rechtssprache und erfolgt überwiegend schriftlich. Das macht es für die Bürger oft schwer, einen Zugang zum Recht zu finden. Andererseits richten sich Rechtsnormen als generelle Regelungen grds. an alle Bürger und nicht nur an einen kleinen Kreis von Experten. Anwälte, Sozialarbeiter, Betreuer und Mediatoren müssen deshalb hier sehr häufig eine Dolmetscherfunktion übernehmen. Voraussetzung für das inhaltliche Verstehen von Rechtsnormen ist das Erkennen der Struktur der Rechtssätze, die Auflösung ggf. vorhandener begrifflicher Mehrdeutigkeiten und das referenzielle Anwenden des Inhalts auf die Realität des Lebensalltags. Hierzu bedarf es zunächst eines grundlegenden Verständnisses über den Ablauf normativer Entscheidungsprozesse, die Struktur der Rechtsnormen, einer Einführung in die Technik der normativen Begriffsklärung (sog. Auslegung) und Entscheidungsfindung (Abwägung). Dies ist nicht nur notwendig, um Hilfe suchende Bürger in rechtlichen Fragen beraten zu können. Soziale Arbeit selbst äußert sich in vielen Fällen zunächst einmal als rechtsgebundene Verwaltungsentscheidung.
3.1 Rechtsanwendung als mehrstufiger normenbezogener Entscheidungsprozess
Soziale Arbeit als Bestandteil der staatlichen Daseinsvorsorge ist in ihren Voraussetzungen und Grenzen rechtlich geregelt. Der konkrete sozialrechtliche Anspruch des Berechtigten wird aber in aller Regel nicht unmittelbar durch die Sozialleistungsgesetze begründet. Es gibt kein Gesetz, nach dem Frau Gerda Schneider aus Mühlhausen einen Anspruch auf Sozialhilfe in Höhe von 382 €/mtl. hat oder nach dem Herr Frank Mustermann aus Stuttgart Anspruch auf Betreuung und Versorgung seiner Kinder im eigenen Haushalt während des Krankenhausaufenthaltes seiner Frau hat. Die Sozialleistungsgesetze regeln nur abstrakt die Leistungsvoraussetzungen. Zur Konkretisierung der Rechte und Pflichten des Einzelnen bedarf es einer besonderen Einzelfallentscheidung, in der die unmittelbaren Rechtswirkungen im Sozialrechtsverhältnis geregelt werden.
Übersicht 11: Soziale Arbeit als mehrstufiger rechtsbezogener Entscheidungsprozess
Die entscheidungsbezogene Soziale Arbeit (zur Rechtsberatung s. u. 4.2) läuft in einem mehrstufigen normbezogenen Entscheidungsprozess (s. Übersicht 11) ab (Maas 1996, 21 ff.). Der Zugang erfolgt oft durch die Betroffenen, indem sie um Hilfe nachsuchen, sich informieren oder sogar einen „Antrag“ (vgl. § 16 SGB I, § 18 SGB X; hierzu III-1.2.2) stellen. Häufig ist die Sozialverwaltung aber auch verpflichtet, von sich aus tätig zu werden. In beiden Fällen muss sie die zu treffende Entscheidung vorbereiten.
Informationsgewinnung
Diese besteht im Wesentlichen aus der Gewinnung von Informationen als Entscheidungsgrundlage (Sachverhaltsermittlung) und aus der fachlichen Bewertung des Sachverhalts. Die Informationsgewinnung wirft zwei Fragen auf:
■ nach dem Inhalt der Sachverhaltsermittlung: Welche Daten sind entscheidungsrelevant? Insoweit geht es zunächst um die Auswahl der Rechtsgrundlage, auf der die Entscheidung beruhen soll (vgl. Gesetzesvorbehalt, s. o. 2.1.2.1), und damit der einzelnen entscheidungsrelevanten Bedingungen, die nach dem Gesetz erfüllt sein müssen, damit eine entsprechende Entscheidung gefällt werden kann, z. B. die Leistungsvoraussetzungen für eine erzieherische Hilfe nach § 27 SGB VIII oder für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 19 SGB XII.
■ nach dem Verfahren der Sachverhaltsermittlung. Wie müssen die Informationsermittlung und das Entscheidungsverfahren ablaufen? Welche Verfahrensschritte, welche Schutzrechte und insb. Mitwirkungspflichten der Betroffenen müssen im Rahmen der Entscheidungsfindung beachtet werden (z. B. Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X; Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I; Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII; Datenschutzrecht nach § 35 SGB I, §§ 67 ff. SGB X, §§ 61 ff. SGB VIII; zum Verwaltungsverfahren vgl. III-1.2)?
Beweislast
In der Praxis ist die Informations- und Sachverhaltsermittlung am schwierigsten, während man sich in der Studienphase darauf verlassen kann, dass in der Übung und Prüfung in einer Art Trockenschwimmen nur feststehende Sachverhalte vorgegeben werden. Während im öffentlichen Verwaltungsrecht und im Strafrecht der Sachverhalt grds. von Amts wegen zu ermitteln ist (sog. Offizialprinzip, Untersuchungsgrundsatz) besteht im Privatrecht der sog. Beibringungsgrundsatz, d. h. die an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien sind für die „Beibringung“ (Einführung) der dem Streit zugrunde liegenden Fakten verantwortlich. Hier wie dort versucht die Verwaltungs- und Rechtspraxis, umstrittene Tatsachen zu klären bzw. den „wahren“ Sachverhalt ggf. durch die Erhebung von Beweisen als Grundlage ihrer Entscheidungsfindung zu ermitteln. Grds. trägt immer derjenige die sog. Beweislast, der sich auf einen für ihn vorteilhaften Umstand beruft. In diesem Zusammenhang sollte allerdings beachtet werden, dass die Wahrnehmung bei jedem Menschen begrenzt ist. Sie ist auch kein passiver, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten (vgl. Maturana / Varela 1987). Es ist deshalb ganz normal, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen an ein und denselben Vorgang haben. Nicht zuletzt deshalb ist die Suche nach der „objektiven“ Wahrheit oft vergeblich. Die Soziale Arbeit, deren Aufgabe es vornehmlich ist, die Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu stärken, stützt sich deshalb methodisch eher auf konstruktivistische Ansätze (vgl. hierzu auch die Mediation, 6.3). Dort, wo ein Dritter entscheiden muss (sei es im Rahmen eines Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahrens), lässt sich aber auf die Sachverhaltsermittlung und ggf. Beweisführung nicht verzichten.
Informationsbewertung
In der „theoretischen“ Ausbildungssituation erhalten die Studierenden einen als wahr unterstellten (unstrittigen) und abschließenden Sachverhalt. Hier darf nichts angezweifelt oder dazuspekuliert werden. Ausbildungsgegenstand ist zunächst das Erlernen der juristischen Arbeitsmethodik, die Methode der Rechtsanwendung, der Umgang mit Rechtsnormen im Rahmen der Informationsbewertung. Das entspricht auch dem korrekten Vorgehen der Rechtspraxis, insb. der Gerichte, in strittigen Sachverhalten. Die sachgemäße rechtliche Bearbeitung eines Falles (insb. der Frage: Was ist für die Entscheidungsfindung rechtlich überhaupt relevant?) erspart die u. U. aufwendige Beweiserhebung umstrittener Tatsachen, die für die abschließende Entscheidung letztlich rechtlich überflüssig sind. Auch die Informationsbewertung umfasst zwei Aspekte:
■ stets die Bewertung in rechtlicher Hinsicht (Subsumtion)
■ sehr häufig die Bewertung in fachlich-sozialpädagogischer Hinsicht, insb. die Diagnose und Prognose, z. B.: Was ist eine erzieherische Mangelsituation im Sinne der Leistungsvoraussetzungen der Erziehungshilfen nach § 27 SGBVIII? Welche Hilfe ist die „richtige“ (= geeignet und erforderlich) i. S. d. § 27 SGB VIII?
Fachkräfteprivileg
Beide Ebenen, sozialpädagogische Bewertung und rechtliche Subsumtion, sind oftmals untrennbar miteinander verknüpft (z. B. abstrakt-definitorische Ausfüllung des Begriffs „erzieherischer Bedarf“ in § 27 Abs. 2 SGB VIII sowie die Anwendung der Definition im konkret zu entscheidenden Einzelfall). Die rechtliche Bewertung baut einerseits auf der fachlich-diagnostischen Bewertung auf; andererseits darf sich jene in diesem justiziablen Zusammenhang nur auf die rechtlich vorgegebenen, relevanten Kriterien beziehen (im Hinblick auf § 27 SGB VIII z. B. Relevanz der Begriffe „erzieherischer Bedarf“ und „Kindeswohl“, nicht aber andere denkbare Maßstäbe, z. B. Einkommen, Kinderzahl). Im Rahmen der Subsumtion werden die rechtlich relevanten Kriterien und der Sachverhalt aufeinander bezogen, der Sachverhalt wird im Hinblick auf seine rechtliche Relevanz überprüft. Auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung und Durchführung der konkreten Leistung wirken rechtliche Kriterien weit in den Hilfeprozess hinein. Hilfe als Rechtsverhältnis führt allerdings nicht zu einer Verdrängung der außerrechtlichen, insb. der sozialpädagogischen Aspekte Sozialer Arbeit. Es ist gerade ein Element der Fachlichkeit, die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls sozialarbeiterisch-methodisch zu erfassen, diese bewusst in den Beratungs- und juristischnormativen Entscheidungsprozess einzubringen und dabei insb. Entscheidungsalternativen zu erkennen. Hingewiesen sei hier auf das sog. Fachkräfteprivileg gemäß § 72 SGB VIII und § 6 SGB XII, nach dem die Sozialleistungsgesetze von Fachkräften durchzuführen sind, um zu gewährleisten, dass die nach fachlicher Prüfung im Einzelfall als notwendig festgestellte Jugendhilfe bzw. Sozialhilfe geleistet wird. Es sind also die sozialpädagogischen Fachkräfte, die die Umsetzung des Gesetzeswillens, insb. die Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. u. 3.3.2) und Ermessensspielräumen (s. u. 3.4.1) vornehmen müssen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Entscheidungen der Sozialbehörden, sondern auch für die fachlichen Stellungnahmen im Rahmen gerichtlicher Verfahren (z. B. §§ 50 – 52 SGB VIII).
3.2 Struktur der Rechtsnormen
3.2.1 Tatbestands- und Rechtsfolgenseite
Tatbestandsmerkmale
Eine sog. vollständige Rechtsnorm ist zweigliedrig aufgebaut: Sie besteht aus einer Tatbestands- und einer Rechtsfolgenseite.Auf der Tatbestandsseite der Rechtsnorm werden die einzelnen Bedingungen (die sog. Tatbestandselemente, -voraussetzungen oder -merkmale) aufgezählt, die erfüllt sein müssen, damit die in der Vorschrift genannte Konsequenz (Rechtsfolge) eintritt. Nicht selten werden nicht die Tatbestandsvoraussetzungen, sondern die Rechtsfolge zuerst genannt (z. B. § 42 SGB VIII: Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, wenn …). Auch wenn die zweigliedrige Struktur der gesetzlichen Tatbestände nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennbar ist, so lässt sich doch jede vollständige Rechtsnorm auf die geschilderte Weise in eine Tatbestands- und Rechtsfolgenseite (Wenndann-Relation) zerlegen. Art. 16a Abs. 1 GG: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ beispielsweise lässt sich als Wenn-dann-Relation formulieren: Wenn jemand politisch verfolgt ist (= Tatbestandselement), dann wird ihm Asyl gewährt (= Rechtsfolge). In Anlehnung an logisch-systematische Denkprozesse wird die Struktur von Rechtsnormen häufig mit Gleichungen dargestellt (x1 + x2 + x3 => R1), die mitunter komplexe Verschachtelungen und „Ketten“ beinhalten (s. Übersicht 12).
ungeschriebene Tatbestandsmerkmale
Teilweise werden einzelne Tatbestandsbedingungen nicht ausdrücklich genannt, sondern als sog. ungeschriebene Tatbestandsmerkmale aus rechtssystemdogmatischen Gründen mitgedacht. Die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht setzt z. B. stets eine in § 823 BGB nicht selbst noch einmal besonders erwähnte Ursachenkette zwischen der Verletzungshandlung und dem Schadenseintritt voraus (sog. Kausalität oder objektive Zurechnung).
Die Gesetze enthalten nicht nur vollständige Rechtsnormen. Der Gesetzgeber hat vielfach wichtige Tatbestandselemente von Normen selbst in gesonderten Paragrafen definiert oder Einzelheiten einer Rechtsfolge in mehreren Vorschriften zusammenhängend geregelt. Man spricht dann – je nach der speziellen Funktion dieser „unvollständigen“ Rechtsnormen, die aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Entlastung des gesetzlichen Tatbestands ausgegliedert worden sind – von einer:
■ Definitionsnorm, z. B.:
– § 276 Abs. 2 BGB: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
– § 7 Abs. 1 Nr.2 SGB VIII: Jugendlicher ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist.
– § 27a SGB XII: Der notwendige Lebensunterhalt umfasst insb. … [Definition des notwendigen Lebensunterhalts]
■ Verweisungsnorm, z. B.:
– § 7 Abs. 1 Nr.5 SGB VIII: Personensorgeberechtigter ist, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge zusteht.
Übersicht 12: Struktur von Rechtsnormen
– § 62 SGB X: Verweis auf die Rechtschutzmöglichkeiten gegen Verwaltungsakte, die im SGG, in der VwGO oder einem anderen Bundesgesetz geregelt sind.
■ Gegennorm, z. B.:
– § 49 Abs. 1 SGB X: § 45 Abs. 1 – 4, §§ 47 und 48 gelten nicht, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, …
Häufig ergibt sich daraus dann eine sog. Paragrafenkette, z. B. § 27 SGB VIII: Anspruch des Personensorgeberechtigten ➝ § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII ➝ §§ 1626 ff. BGB: Normierung der Personensorgeberechtigung. Unvollständige Rechtsnormen können sich auch auf eine Verweisung auf andere Rechtsvorschriften beschränken. Hierbei handelt es sich um bloße Rechtsfolgenverweisungen, wenn lediglich die Rechtsfolge der genannten Vorschrift für anwendbar erklärt wird, ohne dass deren Voraussetzungen erfüllt sein müssen (z. B. § 292 BGB: verschärfte Haftung bei Herausgabepflichten). Dagegen spricht man von Rechtsgrundverweisung (oder „Tatbestandsverweisung“), wenn nicht nur auf die Rechtsfolge, sondern (auch) auf den Tatbestand, also den Grund der anderen Norm verwiesen wird. Die in der Verweisung genannte Vorschrift ist nur dann anwendbar, wenn ihre tatbestandsmäßigen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies kommt im Privatrecht häufig im Hinblick auf Gewährleistungsansprüche (z. B. §§ 437, 634 BGB; zu den Ansprüchen bei Leistungsstörungen s. II-1.4.2) oder die Herausgabe einer sog. ungerechtfertigten Bereicherung vor (z. B. §§ 516 Abs. 2, 531 Abs. 2, 547, 951 BGB). Im Sozialrecht findet man eine solche Verweisung z. B. in § 26 Abs. 1 SGB X im Hinblick auf Anwendung der Fristenvorschriften der §§ 187 – 193 BGB oder in §§ 8a Abs. 1, 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII im Hinblick auf die sich an § 1666 BGB orientierende Definition der Kindeswohlgefährdung.
3.2.2 Rechtsfolge und Charakter der Rechtsnorm
Rechtsnatur
Die Art der vorgesehenen Rechtsfolge ist charakteristisch für das Rechtsgebiet, dem die Norm angehört; ob eine Vorschrift zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen (oder sogar strafrechtlichen) Charakter hat (man spricht hier auch von der „Rechtsnatur“), bestimmt sich in erster Linie nach der in ihr ausgesprochenen Rechtsfolge (vgl. § 823 BGB: Schadensersatz = zivilrechtlich; § 44 Abs. 1 SGB X und § 48 VwVfG: Rücknahme eines Verwaltungsaktes durch die Behörde = öffentlich-rechtlich; § 242 StGB: Geld- oder Freiheitsstrafe = strafrechtlich). Eine Norm wird als öffentlich-rechtlich angesehen, wenn aus ihr zwingend ein Träger öffentlicher Verwaltung berechtigt oder verpflichtet ist. Privatrechtlich ist eine Norm, wenn der betreffende Rechtssatz für jedermann gilt (sog. moderne Subjektstheorie, s. 1.1.4). In diesem Sinne regeln verwaltungsrechtliche Normen meist Befugnisse einer Behörde oder Rechte und Pflichten des Bürgers gegenüber einem öffentlichen Träger. Es ist aber durchaus möglich, dass in einem Gesetz Vorschriften enthalten sind, die verschiedenen Rechtsgebieten angehören: So sind z. B. im Straßenverkehrsgesetz (StVG) neben rein verwaltungsrechtlichen Normen (§§ 1 – 6e) und Straf- und Bußgeldvorschriften (§§ 21 – 27) sogar auch rein zivilrechtliche Regelungen über die Kfz-Haftpflicht (§§ 7 – 20) enthalten.
3.3 Bestimmte und unbestimmte Rechtsbegriffe
3.3.1 Begriff, Arten und Funktionen
Es ist das Kennzeichen von Rechtsnormen, dass sie abstrakt-generelle Regeln aufstellen und deshalb nicht nur für einen konkreten Einzelfall gelten (s. 1.1.3). Die in den Rechtsnormen enthaltenen Begriffe sind deshalb in allgemeiner Form definiert und daher mehr oder weniger (un)bestimmt (s. Übersicht 13). Sind sie eindeutig und klar abgrenzbar, so spricht man von bestimmten (deskriptiven oder normativ definierten) Rechtsbegriffen. Aber auch durch einen noch so genauen Gesetzestext ist es kaum möglich, alle künftigen Situationen durch entsprechende Begrifflichkeiten zu erfassen.
unbestimmte Rechtsbegriffe
Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse kann der Gesetzgeber daher nur durch Verwendung sog. unbestimmter Rechtsbegriffe gerecht werden, wenn er umfangreiche und letzten Endes doch lückenhafte Aufzählungen von Fallkonstellationen vermeiden will (vgl. die heute z. T. antiquiert wirkenden Beispiele in § 98 BGB oder die Kasuistik der Verjährungshemmung in § 204 BGB). Je allgemeiner und umfassender eine rechtliche Regelung sein soll, desto höher werden ihr Abstraktionsgrad und desto geringer die Bestimmtheit und Eindeutigkeit der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Eine feste Abgrenzung zwischen bestimmten und unbestimmten Rechtsbegriffen ist allerdings nicht immer möglich, da der Übergang zwischen beiden Arten von Tatbestandselementen fließend ist. Rechtbegriffe können normativ, d. h. durch eine Rechtsnorm bestimmt sein (z. B. Volljährigkeit, § 2 BGB; Jugendlicher, § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII), unbestimmte Rechtsbegriffe können sowohl deskriptiv (z. B. Nachtzeit, § 12 VwZG) als auch wertausfüllungsbedürftig sein (z. B. Würde, Wohl, sog. normativer Rechtsbegriff). Häufig erkennt der Laie nicht, ob er es mit einem bestimmten (die kostenpflichtige Miete in Abgrenzung zur kostenlosen Leihe; vgl. § 556b BGB vs. § 598 BGB) oder unbestimmten Rechtsbegriff zu tun hat (z. B. „wohnen“ – unbestimmt; „gewöhnlicher Aufenthalt“ – rechtlich bestimmt in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I). Im Übrigen lassen sich zahlreiche Rechtsfragen überhaupt erst bearbeiten, wenn man die Unbestimmtheit eines Begriffs erkannt hat. Nicht zuletzt deshalb verlangt die sog. Garantiefunktion des Strafrechts ein Mindestmaß an Bestimmtheit der Rechtsnorm (vgl. IV-1.3).
Übersicht 13: Arten von Rechtsbegriffen
bestimmte Rechtsbegriffe | unbestimmte Rechtsbegriffe | ||
beschreibend | normativ definiert | beschreibend (deskriptiv) | wertausfüllend (normativ) |
Orts-, Zahlenund Zeitangaben, z. B. Lebensalter;technische Angaben (Phon, Lux, km/h) | Person, Sache, Geschäfts- und Volljährigkeit, Eigentum, Besitz, Miete, Vorsatz, Fahrlässigkeit | Kurze Dauer in § 38 Abs. 1 SGB XIINachtzeit (§ 12 VwZG),Speisen, Getränke (§ 1 GaststG),Kraftfahrzeug (§ 1 StVG),Sonstiges Recht (§ 823 Abs. 1 BGB) | „Würde des Menschen“ (Art. 1 GG; § 1 SGB XII)„Wohl des Kindes“ (§ 1666 BGB, §§ 27 Abs. 1, 44 Abs. 2 SGB VIII)„Nichtgewährleistung einer kindeswohlgemäßen Erziehung“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII)Für Entwicklung „geeignete und notwendige Hilfe“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII)„Erforderliche Kosten einer Bestattung“ (§ 74 SGB XII)„Angemessener Barbetrag“ (§ 35 Abs. 2 SGB XII)Beeinträchtigung „sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ (§ 55 Abs. 1 AufenthG) |
Unbestimmte Rechtsbegriffe können sowohl auf der Tatbestandsseite (z. B. der Begriff „erforderlich“ als Voraussetzung für eine Sozialleistung, z. B. §§ 2 Abs. 1, 12 S. 2, 27 Abs. 3 SGB XII) als auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen („erforderlich“ als Beschreibung der Leistung, z. B. § 33 Abs. 1 SGB X), wobei derselbe Begriff selbst innerhalb einer Rechtsnorm in der konkreten Anwendung nicht immer die gleiche Konsequenz hat (z. B. bedeutet „unverzüglich“ in § 42 SGB VIII zwar stets „ohne schuldhaftes Verzögern“, deshalb im Hinblick auf die Benachrichtigung der Vertrauensperson gem. Abs. 2 S. 2 oder des FamG nach Abs. 3 nichts anderes als „sofort“, während im Hinblick auf die Information der Eltern gem. Abs. 2 mitunter eine kurze Frist verstreichen kann, damit vorweg eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden kann; vgl. Münder et al. 2013b, § 42 Rz. 33 u. 38).
Bestimmte wie unbestimmte Rechtsbegriffe können sich beziehen auf:
■ innere Tatsachen (z. B.Vorsatz, Kenntnis, Absicht) oder
■ äußere Umstände (z. B. Lebensalter, Einkommen, Vermögensverhältnisse, Staatsangehörigkeit, Eigentum). Zu den äußeren Umständen gehören nicht nur tatsächliche Verhältnisse (z. B. Sache, Schaden, Vermögen), sondern auch rechtliche Umstände (sog. Rechtstatsachen, z. B. Geschäftsunfähigkeit, Staatsangehörigkeit, Anerkennung der Gemeinnützigkeit, Schwerbehinderteneigenschaft).
3.3.2 Auslegung von (unbestimmten) Rechtsbegriffen
Normen können nur dann richtig angewandt werden, wenn man sich über die genaue Definition eines Rechtsbegriffs klar wird. Sprache ist aber nicht mathematisch exakt, Begriffe werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet, wobei ihnen verschiedene Inhalte und Bedeutungen beigemessen werden. Schon deshalb basiert die Rechtsanwendung nicht auf einer reinen inhaltsunabhängigen Logik, sondern es geht um ein hermeneutisches Vorgehen, um ein verstehendes Bemühen, den Inhalt des Rechts richtig zu deuten. Im konkreten Fall kann die Anwendung einer Rechtsnorm vor allem deshalb sehr schwer sein, weil der Sinngehalt eines Begriffs nicht eindeutig, sondern mehrdeutig ist. Darüber kann es zu Streit, ja zu einem Rechtsstreit kommen. Der genaue Inhalt eines normativen und unbestimmten Rechtsbegriffs ist deshalb zu definieren. Rechtsmethodisch nennt man diesen Klärungsprozess Auslegung. Hierunter versteht man eine fachlich-verstehende Deutung des relevanten Inhalts eines Rechtsbegriffs (im Hinblick auf Rechtsnormen) bzw. einer Willensäußerung (im Hinblick auf den Rechtsverkehr). Es handelt sich mithin um eine hermeneutische Methode, um eine normativ-bezogene Definition von Begriffsinhalten. Für die Methode der Auslegung sind verschiedene Argumentationsweisen entwickelt worden, von denen zwei eher „objektiv-systematischer“ und zwei eher „subjektiv-interessensbezogener“ Natur sind.
An einem häufig verwendeten, wohl auf Uwe Wesel (1984, 177 ff.) zurückgehenden Beispiel, möchten wir dies erläutern. Nehmen wir an, eine kommunale Satzung enthält im Hinblick auf die Eintrittspreise zu einer städtischen Einrichtung folgende Regelung: „Schüler zahlen nur den halben Eintrittspreis“. Wer ist Schüler? Nur die Schüler der allgemeinbildenden Schulen oder auch Berufsschüler, die über eine Ausbildungsvergütung verfügen? Gilt die Regelung auch für Studenten, Teilnehmer an Volkshochschulkursen oder nur für Personen in einem bestimmten Alter? Gilt sie gar für alle Personen mit niedrigem Einkommen?
wörtliche Auslegung
Ausgangspunkt jeder rechtlichen Begriffsklärung ist zunächst die wörtliche (philologisch-grammatikalische) Auslegung, die sich am natürlichen Sprachsinn, der Syntax und den sonstigen Regeln der Grammatik orientiert. Die Auslegungsmethode ist deklaratorisch, sie darf nicht gegen den „klaren“ Wortlaut eines Begriffs vorgenommen werden. Die Grenze der Auslegung liegt im noch möglichen Wortsinn. Zum Beispiel ist der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ in § 1666 Abs. 1 BGB sicht- und hörbar etwas anderes als die Formulierung „Nichtgewährleistung einer dem Kindeswohl entsprechenden Erziehung“ in § 27 Abs. 1 SGB VIII.Man kann davon ausgehen, dass der Gesetzgeber des Kindes- und Jugendhilferechts statt der umständlichen Formulierung den kurzen Begriff „Kindeswohlgefährdung“ verwendet hätte, wenn er dasselbe wie bei den Voraussetzungen des bürgerlich-rechtlichen Eingriffs in die Personensorge nach § 1666 BGB hätte ausdrücken wollen. In unserem Beispielsfall der kommunalen Satzung umfasst im gewöhnlichen Sprachgebrauch der Begriff „Schüler“ zwar Schüler aller allgemeinbildenden ebenso wie Berufs- und Abendschulen, nicht aber die in aller Regel nicht als Schüler bezeichneten Teilnehmer von Volkshochschulkursen oder Studenten. Eine enge („restriktive“) Auslegung wird die Privilegierung nur auf noch schulpflichtige Kinder und Jugendliche anwenden, eine weite („extensive“) Auslegung auf alle Personen, die eine Schule, welcher Art auch immer, besuchen.
systematische Auslegungsmethode
Die systematische Auslegungsmethode geht von einem widerspruchsfreien Gesamtgefüge der Gesetze aus und stellt die einzelne Norm in den Zusammenhang mit den anderen Vorschriften des entsprechenden Gesetzes sowie in Beziehung zur gesamten Rechts- und Verfassungsordnung. Ein Prototyp systematischer Auslegung erfolgt durch gesetzliche Verweisungs- und Definitionsnormen (Legaldefinitionen). Beispielsweise ist zwar ein Tier im deutschen Rechtsverständnis mittlerweile keine Sache mehr, damit aber noch keine „Person“ im Rechtssinne. Vielmehr werden auf Tiere die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend angewandt, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist (vgl. § 90a BGB). Der vielfach genutzte Begriff „unverzüglich“ (s. 3.3.1) ist in § 121 Abs. 1 BGB im Zusammenhang mit der Anfechtung von Willenserklärungen definiert als „ohne schuldhaftes Verzögern“. Hieran knüpft wegen der Einheit der Rechtsordnung auch die Auslegung im Sozialrecht an (vgl. z. B. § 42 Abs. 2 und 3 SGB VIII), mit der Folge differenter Konsequenzen (vgl. III-3.4.1.1). Im Konfliktfall widersprechender Normenbezüge gehen höherrangige Vorschriften den nachrangigen vor (vgl. 1.1.3.7). Mit Blick auf das Grundgesetz spricht man von einer verfassungskonformen Auslegung, d. h. keine Vorschrift darf im Widerspruch zum Grundgesetz stehen und jede muss „in seinem Geiste ausgelegt werden“ (BVerfG NJW 1958, 257). Bei Gleichrangigkeit gehen neuere Rechtsnormen im Konfliktfall den älteren Gesetzen vor, speziellere verdrängen die allgemeinen Regelungen.
In dem Schülerbeispiel fehlen für eine systematische Überlegung weitere Informationen. Das Auslegungsproblem stellt sich z. B. im Hinblick auf die Studenten nur dann, wenn diese nicht an anderer Stelle besonders erwähnt werden. Gäbe es in der kommunalen Satzung in einem anderen Zusammenhang (z. B. Zuschuss für den öffentlichen Nahverkehr) eine Regelung, die ausdrücklich auch Studierende oder Arbeitslose berücksichtigt, so läge systematisch der („Umkehr“)Schluss (s. u.) nahe, dass diese im Hinblick auf die Eintrittspreise nicht gleichzeitig auch mit dem Begriff Schüler gemeint sein sollen.
Umstritten ist die Reichweite der Berichts- und Aufsichtspflichten eines Betreuungshelfers gegenüber dem Jugendgericht nach § 38 Abs. 2 JGG, auf den § 52 Abs. 1 SGB VIII im Rahmen der Aufgabenbeschreibung des JA verweist: Mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung (Justiz vs. Verwaltung, s. 2.1) und die vom Staat unabhängige kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) kommt die h. M. zu der Auffassung, dass die Betreuungshelfer der Jugendhilfe gegenüber der Justiz nur insoweit berichts- und aufsichtspflichtig sind, wie sich dies mit ihren im SGB VIII rechtlich normierten fachlichen Handlungsmaximen vereinbaren lässt.
historische Auslegung
Die historisch-genetische Interpretation berücksichtigt die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Rechtsnorm. Hierzu werden etwa die Sitzungsberichte des Parlaments und Begründungen zu Gesetzesentwürfen herangezogen, um den Willen des (historischen) Gesetzgebers zu ermitteln. Es ist dabei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch unter der Bedingung gewandelter Verhältnisse eine zweckmäßige und vernünftige Regelung getroffen hätte.
Die Begründung zum KJHG (BT-Ds 11 / 5948) ist z. B. eine inhaltsreiche und gewichtige Stütze für den besonderen sozialleistungsorientierten Charakter des Jugendhilferechts. Sie weist auf den besonderen Charakter des Kinder- und Jugendhilferechts als pädagogisch intendiertes Sozialleistungsrecht hin. Es müsse vermieden werden, straf- und ordnungsrechtliche Gesichtspunkte in das Kinder- und Jugendhilferecht hineinzutragen, die dessen Charakter zwangsläufig verändern müssten (BT-Ds 11 / 5948, 117). Diese Aussage ist auch für die Auslegung des Umfangs der Berichtspflicht der Jugendhilfe von erheblicher Bedeutung und stützt die oben vorgenommene Interpretation zum Verhältnis von § 52 SGB VIII und 38 JGG.
class="marginalie">teleologische Auslegung
Normen haben stets eine Funktion, sie sind Verhaltensregeln, die das gegenwärtige oder das zukünftige Handeln der Menschen in bestimmten Situationen verbindlich bestimmen sollen (vgl. 1.1.1). Die teleologische Auslegung (telos = Sinn, Zweck) bestimmt die Rechtsbegriffe nach Ziel und Zweck (ratio legis) der Norm. Anders als bei der historischen Auslegung geht es hier nicht darum, welchen Sinn der „damalige“ Gesetzgeber ursprünglich mit der Norm bezweckt hatte, sondern welchen aktuellen Zweck die Norm erfüllen soll. Dies setzt voraus, dass der Zweck der Norm erkannt bzw. ermittelt wird, was nicht immer ganz einfach ist, zumal es dazu durchaus widersprechende Ansichten gibt. In modernen Gesetzen wird der Gesetzeszweck deshalb oft an zentraler Stelle genannt, im Kinder- und Jugendhilferecht z. B. in § 1 SGB VIII. Unter mehreren möglichen Auslegungen einer Rechtsnorm ist dann diejenige vorzuziehen, die den Gesetzeszweck optimal verwirklicht.
Welche Personen in der kommunalen Satzung mit dem Begriff „Schüler“ gemeint und durch die Preisregelung privilegiert sind, hängt maßgeblich von dem Zweck der Regelung ab. Es ging dem Satzungsgeber aber erkennbar nicht darum, nur Personen einer bestimmten Altersgruppe zu privilegieren, denn das hätte man klar mit einer Altersangabe oder durch gesetzlich definierte Begriffe wie „Kinder und Jugendliche“ (vgl. z. B. § 7 Abs. 1 SGB VIII; § 1 Abs. 1 JSchuG) regeln können. Sollen durch die Regelung alle Personen begünstigt werden, die sich in einer Ausbildungssituation befinden und deshalb kein Einkommen erhalten, dann träfe dies auf Studierende ebenso zu, nicht aber auf Berufsschüler, die eine Ausbildungsvergütung erhalten. Im Hinblick auf die Studenten könnte aber der natürliche Wortsinn einer solchen Auslegung entgegenstehen, da Schüler und Student im normalen Sprachgebrauch voneinander verschieden sind. Sollte der Satzungsgeber diesen Fall, „die Studierenden“, tatsächlich versehentlich nicht bedacht und geregelt haben, so kann man eine planwidrige Gesetzeslücke feststellen.
Hier möchten wir wieder an die Auslegung von § 38 JGG i. V. m. § 52 SGB VIII anknüpfen: Um überhaupt mit jungen Menschen und ihren Familien im Sinne des §§ 1 f. SGB VIII arbeiten zu können, muss die Jugendhilfe von Weisungen der Justiz unabhängig sein und ein Vertrauensverhältnis zu ihren Klienten aufbauen. Mit diesem sozialanwaltlichen Handlungsauftrag (hierzu III-3.2.1) verträgt es sich nicht, wenn Betreuungshelfer Überwachungs- und Sanktionsaufgaben der Jugendgerichte übernehmen.
Abwägung
Das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es, dass der Normadressat weiß, was von ihm erwartet wird. Deshalb muss nach der funktionalen Logik der Rechtsnorm am Ende des Auslegungsprozesses nur ein Ergebnis als rechtlich relevant und verbindlich, also als „richtig“ anerkannt werden. Natürlich wird es häufig unterschiedliche Auffassungen darüber geben, welches nun die richtige Auslegung in einem konkreten Fall ist. Entscheidend ist die angemessene Abwägung aller Auslegungsgesichtspunkte, wobei Sinn und Zweck der Rechtsnorm am gewichtigsten sind. Abwägung bedeutet, die Argumente und Gegenargumente aufeinander zu beziehen, die Vor- und Nachteile jeder Entscheidung im Hinblick auf die zugrunde liegenden Interessen sorgfältig zu prüfen und zu wiegen. Für den Konfliktfall widerstreitender Auslegungsergebnisse hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik auf folgende Grundregeln hingewiesen. Die Entstehungsgeschichte einer Norm und damit die „subjektiv-historische“ Auslegung der „damals“ am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe ist letztlich nicht maßgebend, da sich der Inhalt einer Norm aufgrund der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern kann. Wesentlich ist der aktuell relevante im Wortlaut der Rechtsnorm und in dem Sinnzusammenhang zum Ausdruck kommende „objektivierte“ Sinn und Zweck einer Regelung (vgl. BVerfGE 1, 299 ff.). Dessen Erfassung ist freilich ebenso wenig „objektiv“ wie die historische Interpretation. Andererseits müssen die „historische“ und teleologische Auslegung bei allen neueren, aktuellen Gesetzen zu den gleichen Ergebnissen führen, da nach dem Demokratieprinzip der Gesetzgeber und nicht die Rechtsprechung für die Normsetzung verantwortlich ist. Allerdings wendet die Rechtsprechung die Rechtsnormen nicht nur an, sondern wird auch rechtsfortbildend tätig, nämlich dann, wenn Inhalt und Grenzen von Rechtsnormen nicht durch Auslegung bestimmt werden können, sondern planwidrige Lücken des Gesetzes festgestellt wurden und geschlossen werden müssen.
Analogie
Eine Analogie ist eine Rechtsfortbildung. Sie wird gebildet, wenn festgestellt wird, dass eine Rechtsnorm im konkreten Fall nicht passt, eine andere, passende Rechtsnorm aber ebenso wenig vorhanden ist und damit offenkundig wird, dass der Gesetzgeber diesen Fall nicht bedacht hat. Bei der Analogie geht es also um die Schließung einer planwidrigen Gesetzeslücke durch die entsprechende Anwendung einer Norm. Eine Analogie ist nicht leichtfertig bei jeder auf den ersten Blick nicht geregelten Sachfrage zu formulieren. Vielmehr muss genau geprüft werden, welche Fälle der Gesetzgeber geregelt haben wollte und welche er versehentlich nicht geregelt hat. Nur im letzten Fall dürfen (planwidrige) Gesetzeslücken durch eine Analogie ausgefüllt werden. Im Fall der kommunalen Satzung, nach der Schüler nur einen ermäßigten Eintritt bezahlen müssen, spricht viel dafür, die nicht genannten Studenten, die ebenso wie Schüler aufgrund ihrer Ausbildung i. d. R. über kein Einkommen verfügen, wie diese zu behandeln und deshalb die Norm auf sie analog anzuwenden.
Unzulässig ist eine Analogie im Strafrecht (s. IV.1.3) zur Strafbegründung oder Strafverschärfung aufgrund der Garantiefunktion des Strafgesetzes (Art. 103 Abs. 2 GG). Wie schwierig die Abgrenzung von noch zulässiger Auslegung und nicht mehr zulässiger Strafbarkeitsbegründung durch die Rspr. z. T. ist, zeigt sich z. B. bei der strafrechtlichen Definition des Gewaltbegriffs im Rahmen der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB (vgl. Schönke / Schröder et al. 2010, § 240 Rz. 4 ff.).
Juristische Logik
Bei der teleologischen Reduktion geht es um den entgegengesetzten Fall, d. h. eine Norm wird nicht angewendet, obwohl sie nach dem reinen Wortsinn passen würde (z. B. eine versuchte Selbsttötung ist kein versuchter Mord i. S. d. § 211 StGB). Auch beim Umkehrschluss (argumentum e contrario) soll eine Regelung gerade nicht angewendet werden, weil der Normzweck einer „entsprechenden“ Rechtsanwendung entgegensteht (z. B. folgt aus § 248b StGB, dass der unbefugte Gebrauch einer Kutsche straflos ist, weil es sich nicht um ein Kraftfahrzeug oder Fahrrad handelt; damit ist aber nichts gesagt über die zivilrechtliche Haftung!). Darüber hinaus spielen in der juristischen Logik eine Reihe weiterer Schlussfolgerungen eine Rolle (z. B. „a majore ad minus“ – vom Größeren auf das Kleinere: bspw. wenn ein Verbot zulässig ist, dann ist auch die Genehmigung unter angemessenen Bedingungen zulässig), wobei sich freilich manche Anwender verheddern (z. B. Zirkelschluss) und / oder Logik vortäuschen, wo keine ist (vgl. hierzu 3.5).
3.3.3 Beurteilungsspielraum
Die Rechtsprechung ist Aufgabe der Gerichte (Art. 92 GG; hierzu I-5). Ihnen obliegt es, die richtige Anwendung der Gesetze durch die Verwaltung zu überprüfen. Deshalb wird von den (Verwaltungs-)Gerichten auch überprüft, ob die von der Verwaltung vorgenommene Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe mit dem Gesetz im Einklang steht, also „richtig“ ist. Diese Überprüfung ist grds. allumfassend, nur ausnahmsweise wird der Verwaltung von der Rechtsprechung bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbarer „Beurteilungsspielraum“ oder eine sog. Einschätzungsprärogative im Rahmen der Abwägung zuerkannt. Den Ausnahmefällen ist gemeinsam, dass es sich um Wertentscheidungen der Verwaltung handelt, die das Gericht aufgrund der besonderen, einmaligen Konstellation der Entscheidungsfindung oder aus sonstigen Gründen nicht nachholen kann, z. B.:
■ von pädagogisch-wissenschaftlichen Wertungen gekennzeichnete Prüfungsentscheidungen im Schul- und Hochschulbereich (Versetzung, Abitur, Abschlussprüfung im Studium), da sie auf der vom Gericht nicht nachvollziehbaren längeren Beobachtung des Schülers / Studenten bzw. auf der Einmaligkeit der nicht rekonstruierbaren Prüfungssituation beruhen (BVerwGE 57, 130).
■ der dienstlichen Beurteilung von Beamten, Richtern und Soldaten, da es sich hier um sog. unvertretbare persönlichkeitsbezogene Werturteile handelt (z. B. dienstliche Eignung, Bewährung, Verfassungstreue eines Beamten; vgl. BVerfG DVBl. 1981, 1053 f.; BVerwG NVwZ–RR 1989, 420 f.).
■ bei planerischen und prognostischen Entscheidungen (BVerwGE 64, 238 ff.; 80, 270 ff.).
■ Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse, z. B. Personalgutachterausschuss (BVerwGE 12, 20 ff.), im Bereich des Jugendschutzes die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BVerfG NJW 1991, 1471; BVerwG NJW 1993, 1491; vgl. III-6.2.7).
In diesen Fällen beschränkt sich das VG darauf zu überprüfen, ob bei der Rechtsanwendung im konkreten Fall
■ die Verwaltung von falschen Tatsachen oder einem unvollständigen Sachverhalt (z. B. wenn im Rahmen einer schriftlichen Prüfung nicht alle Seiten der Lösung bewertet worden sind, vgl. BVerwG DVBl 1998, 474) ausgegangen ist,
■ die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind (beachte z. B. die besonderen Verfahrensvorschriften im Rahmen der Risikoabschätzung und der Hilfeplanung im Jugendhilferecht, insb. §§ 8a, 36 f. SGB VIII),
■ sachfremde Erwägungen maßgebend waren oder der Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde,
■ allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe (insb. der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, s. 2.1.2.2) oder Beurteilungsrichtlinien nicht beachtet worden sind.
Beurteilungen und Stellungnahmen in der Sozialen Arbeit
In der Sozialen Arbeit sind häufig auf einer Anamnese und Diagnose bzw. Prognose beruhende Entscheidungen zu treffen, die ihrer Art nach auf einer besonders sorgfältigen Abwägung beruhen, z. B. welche Leistungen oder Maßnahmen im Hinblick auf das Kindeswohl geeignet und erforderlich sind und ihm am besten gerecht werden. Insoweit war es umstritten, ob der Jugendhilfe bei psychosozialen Diagnosen und Bewertungen ein Beurteilungsspielraum zusteht oder nicht. Teilweise wurde dies bejaht (VGH Mannheim NDV-RD 1997, 133 ff.; BVerwG ZfJ 2000, 31, 35 f.; OVG Koblenz ZfJ 2001, 23 ff.) mit Hinweis auf den Prognosecharakter der Entscheidung des JA. Zudem könne eine gerichtliche Entscheidung dem in § 36 SGB VIII verankerten kooperativen Interaktionsprozess zur Entscheidungsfindung unter Beteiligung aller Betroffenen und dem Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte nicht Rechnung tragen (VGH BW NDV-RD 1997, 133, 134).
Die Einräumung von – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren – Beurteilungsspielräumen ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber auf Ausnahmefälle beschränkt worden. Nicht jede diagnostische, prognostische oder aus anderen Gründen spezifisch-fachliche Kompetenzen erfordernde Entscheidung führt zu einem Beurteilungsspielraum. Eine zu weitgehende Gewährung gerichtsfreier Beurteilungsspielräume wäre rechtsstaatlich bedenklich, da sie die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unterliefe. Die Rechtsprechung des BVerfG (E 84, 34 ff.; 84, 59 ff.; 88, 40 ff.; BVerfG NVwZ 1992, 55; NJW 1993, 917) hat die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen erheblich eingeschränkt und klargemacht, dass der Verwaltung auch bei besonderer fachlicher Kompetenz und bei komplexen fachlichen Einschätzungen grds. kein Beurteilungsspielraum zusteht (das sieht auch der EGMR – 13.07.2000 – 25735 / 94 – NJW 2001, 2315 nicht anders, vielmehr verweist auch dieser auf eine genaue Überprüfung durch das Gericht). Das BVerfG stellt den Grundrechtsschutz über die Erfordernisse der Verwaltungspraxis und gesteht der Fachverwaltung aufgrund ihrer Sachkunde keine Letztentscheidungskompetenz zu. Auch ein Gericht kann sich ggf. durch einen Sachverständigen die erforderliche Sachkunde aneignen. Für die Anerkennung eines Bewertungsvorrechts wäre Voraussetzung, dass es sich um eine derart komplexe Einschätzung handelt und eine gerichtliche Überprüfung an ihre Funktionsgrenzen stoßen würde (BVerfGE 84, 34 ff., 59 ff.). Dies ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 27 SGB VIII nicht der Fall. Zudem würde es dem Sinn des Verfahrens nach § 36 SGB VIII, den Beteiligten möglichst umfangreiche Rechte einzuräumen, zuwiderlaufen, ihnen unter Berufung auf eben diese Verfahrensvorschriften den effektiven Rechtsschutz zu verkürzen. Das bedeutet im Ergebnis, dass auch bei den Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII nicht von einem Beurteilungsspielraum des JA ausgegangen werden kann, sondern dessen Auslegung von den VG voll überprüft wird (s. III-3.3.4.1; ausführlich Münder et al. 2013b, § 27 Rz. 56 f.; a. A. OVG NW 11.10.2013 – 12 A 1590 – JAmt 2014, 90).
Die Überprüfung bezieht sich sowohl auf den erzieherischen Bedarf als auch auf die geeignete und erforderliche Hilfe. Das Gleiche gilt für die Definition und Feststellung der Kindeswohlgefahr, z. B. im Hinblick auf die Interventionen nach § 8a Abs. 1 S. 1 SGB VIII oder die Voraussetzungen und damit Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. Etwas anderes ist die dem JA in § 8a Abs. 1 S. 3 SGB VIII ausdrücklich zugewiesene Einschätzungsbefugnis (Beurteilungsspielraum), ob es bei Vorliegen einer kindeswohlgefährdenden Situation erforderlich ist, das FamG anzurufen. Aufgrund der Überlegenheit des dialogischen Prozesses unter Einbeziehung insb. der Eltern für einen nachhaltigen Schutz von Kindern hat der Gesetzgeber es den Fachkräften (§ 72 SGB VIII) des JA übertragen, zunächst mit ihren Mitteln die Bereitschaft und / oder Fähigkeit der Eltern zur Abwendung der kindeswohlgefährdenden Situation zu wecken und zu fördern. Nur wenn dies nicht ausreicht, das JA keinen Zugang zu den Eltern gewinnen kann, diese keine Bereitschaft oder Fähigkeit zur Mitwirkung erkennen lassen und sämtliche geeigneten und erforderlichen Angebote ablehnen, so dass die kindeswohlgefährdende Situation des Kindes nicht abgewendet werden kann, muss das JA das FamG anrufen, damit dieses die ggf. notwendigen personenrechtlichen Entscheidungen treffen kann. Diese Klarstellung ist wegen der den Mitarbeitern des JA drohenden zivil- wie strafrechtlichen Haftung (vgl. I-4 u. IV-2.2.2) bei einer fehlerhaften Einschätzung erforderlich. Im Übrigen ist zu beachten, dass es sich bei der Anrufung des FamG wie auch bei den sonstigen Stellungnahmen des JA im Rahmen seiner Mitwirkung im gerichtlichen Verfahren nicht um einen Antrag (z. B. auf Entzug der elterlichen Sorge oder auf Verhängung einer Maßnahme) oder um eine selbstständig anfechtbare Entscheidung (Verwaltungsakt; hierzu III-1.3.1) handelt (s. III-3.2.2). Diese nimmt erst das FamG aufgrund einer von ihm selbst vorgenommenen Prüfung der Voraussetzungen, z. B. des § 1666 BGB, vor. Die uneingeschränkte Überprüfung der (ggf. fehlerhaften) Auslegung des JA findet aber im Rahmen der verwaltungsinternen Kontrolle durch Vorgesetzte bzw. übergeordnete Verwaltungsinstanzen (z. B. im Rahmen des Widerspruchverfahrens, s. u. 5.2.1) statt (BVerwG DVBI 1979, 424 ff.; DÖV 1979, 791 ff.).
3.4 Rechtsfolgenentscheidung
3.4.1 Gebundene Verwaltung und Ermessensspielräume
gebundene Verwaltung
Sind die Voraussetzungen der Rechtsnorm auf der Tatbestandsseite erfüllt („Wenn …“), so sehen sog. vollständige Rechtsnormen eine Rechtsfolge („dann …“) vor. In manchen Fällen wird der Verwaltung die Rechtsfolge konkret vorgeschrieben. In diesen Fällen spricht man von gebundener Verwaltung:
■ es ergibt sich aus §§ 62, 66 EStG, dass Eltern Anspruch auf Kindergeld in Höhe von 184 € monatlich für ihr erstes Kind haben;
■ aus § 27 Abs. 1 SGB VIII folgt, dass Personensorgeberechtigte einen Anspruch auf die geeignete und erforderliche Erziehungshilfe haben;
■ nach § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII ist das JA zur Inobhutnahme verpflichtet;
■ nach § 19 Abs. 1 S. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, wenn …
Man spricht in diesen Fällen davon, dass der Bürger ein subjektiv-öffentliches Recht, d. h. einen Anspruch gegen den öffentlichen Träger auf die begehrte Leistung hat. Wenn die im Tatbestand genannten Leistungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen, muss die Leistung in diesen Fällen gewährt werden. Ein Fall gebundener Verwaltungsentscheidung liegt aber auch in den Fällen vor, in denen die Behörden eine Maßnahme ggf. auch zulasten des Bürgers ergreifen müssen, z. B. muss die Führerscheinbehörde im Fall des § 4 Abs. 1 StVG die Fahrerlaubnis entziehen. Nach § 87 Abs. 1 SGB XII ist der Einsatz eigenen, über der Einkommensgrenze liegenden Einkommens im angemessenen Umfang zuzumuten.
Muss-Regelung
Im Hinblick auf den Grad der Verwaltungsbindung unterscheidet man zwischen „Muss“- und „Soll“-Bestimmungen. Bei „Muss-Bestimmungen“ hat die Verwaltung keinen Entscheidungsspielraum, die angegebene Rechtsfolge ist zwingend. Dieser Verpflichtungsgrad ergibt sich aus den Formulierungen der Rechtsnorm, wie „die Behörde muss …“, „es ist zu …“, „hat zu erfolgen“, „darf nicht“. Auch die Formulierung, dass jemand „einen Anspruch auf“ ein bestimmtes Handeln hat, ist ein Fall der zwingend-gebundenen Verwaltung. Beispiele für „Muss“-Bestimmungen: §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 1, 24 Abs. 1 – 3, 27 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2 SGB VIII; §§ 11 Abs. 5 S. 1, 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII.
Soll-Regelung
Bei „Soll-Bestimmungen“ (Formulierungen wie „die Behörde soll …“, „hat in der Regel“, „grds. ist“) ist die Verwaltung im Regelfall an die vorgesehene Rechtsfolge gebunden (z. B. §§ 5 Abs. 2 S. 1, 16 Abs. 1, 19 Abs. 1 S. 1, 20 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 3 SGB VIII; §§ 9 Abs. 2, 12 S. 1, 15 Abs. 1 SGB XII).Abweichungen sind nur im Ausnahmefall zulässig, d. h. bei Vorliegen besonderer atypischer Umstände. Diese atypischen Umstände müssen sich auf den Zweck der Regelung beziehen. Ausgeschlossen sind hier finanzielle Überlegungen, insb. ist die Finanzknappheit der Haushalte kommunaler oder sonstiger Sozialleistungsträger kein atypischer Grund, der einem Leistungsanspruch entgegenstehen könnte.
Ansprüche auf Sozialleistungen entstehen nach § 40 SGB I, sobald ihre im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Nach § 38 SGB I besteht auf Sozialleistungen ein Anspruch, soweit nicht nach den besonderen Teilen des SGB die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über die Leistung nach ihrem Ermessen zu handeln.
Ermessen
Der Gesetzgeber kann die Verwaltung – anstatt ihr zwingend eine Rechtsfolge vorzuschreiben – auch ermächtigen (berechtigen und verpflichten), bei Erfüllung des Tatbestands innerhalb eines gewissen Handlungsspielraums die zweckmäßigste Regelung zu treffen. Diesen Entscheidungsspielraum nennt man Ermessen, das entsprechende Behördenhandeln Ermessensverwaltung. Der Grund für die Einräumung solcher Handlungsspielräume ist, dass der Gesetzgeber angesichts der Kompliziertheit und Unvorhersehbarkeit der Lebensverhältnisse nicht alle erforderlichen und angemessenen Rechtsfolgen vorherbestimmen kann und daher der Verwaltung die Möglichkeit einräumt, innerhalb bestimmter Grenzen flexibel auf die konkrete Situation zu reagieren. Zu unterscheiden ist dieses Verwaltungsermessen von den (politischen) Entscheidungsspielräumen der Exekutive beim Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen.
Das Ermessen kann sich darauf beziehen, ob die Verwaltung überhaupt tätig werden soll (Entschließungsermessen), oder auch darauf, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen sie ergreifen und wer Adressat einer Verfügung sein soll (Auswahlermessen hinsichtlich des Mittels und des Adressaten). Rücknahme und Widerruf eines Verwaltungsaktes nach §§ 45 Abs. 1, 46 SGB X sind Fälle reinen Entschließungsermessens; bei der Festsetzung von Gebühren handelt es sich häufig um Auswahlermessen hinsichtlich der Höhe des Betrages innerhalb des gesetzlich vorgesehenen Rahmens; die Erteilung von Auflagen, z. B. im Hinblick auf eine Betriebserlaubnis (§ 45 Abs. 2 SGB VIII), ist ein Fall der Ausübung von Entschließungsermessen und gleichzeitig von Auswahlermessen hinsichtlich der konkreten Auflagen.
Das der Verwaltung eingeräumte Ermessen betrifft immer nur die Rechtsfolge einer Rechtsnorm und ist daher stets nur Rechtsfolgeermessen (sog. volitives Ermessen); es kann und darf sich nie auf die Tatbestandsseite der Vorschrift beziehen. Ein Ermessen auf der Tatbestandsseite (sog. kognitives Ermessen) würde die verfassungsrechtlich gebotene Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes zerstören. Vom Ermessen zu unterscheiden ist der äußerst selten eingeräumte Beurteilungsspielraum der Verwaltung im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (vgl. 3.3.3 sowie Übersicht 14). Rechtsmethodisch folgt daraus, dass bei der Anwendung einer Vorschrift das Ermessen erst dann ausgeübt werden darf, wenn alle Tatbestandsmerkmale der betreffenden Vorschrift geprüft und bejaht worden sind. Es ist z. B. falsch, bei der Anwendung von § 42 SGB VIII zu prüfen, ob die Unterbringung eines Kindes in einer Einrichtung unverhältnismäßig ist, bevor man nicht festgestellt hat, ob überhaupt ein Rechtsgrund für eine solche Schutzmaßnahme (z. B. Gefahr für das Wohl des Kindes) vorliegt.
Kann-Bestimmung
Ob der Verwaltung Ermessen eingeräumt ist, kann man an den Formulierungen auf der Rechtsfolgenseite der Norm erkennen. Nicht immer wird der Begriff „Ermessen“ gebraucht (so aber z. B. in § 2 Abs. 2 SGB I; § 74 Abs. 3 S. 1 SGB VIII; §§ 17 Abs. 2 S. 1, 52 Abs. 1 S. 2 SGB XII). Ausdrücke wie „die Behörde kann …“, „darf …“, „ist befugt …“ oder „ist ermächtigt …“ sind ebenso Anzeichen für die Einräumung von Ermessen. Das Gleiche gilt, wenn Maßnahmen für „zulässig“ erklärt werden. Man spricht hier auch von sog. Kann-Bestimmungen, Beispiele: §§ 15 Abs. 2, 16 Abs. 1 S. 2 SGBII; §§ 11 Abs. 5 S. 4, 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII; §§ 13 Abs. 3 S. 1, 19 Abs. 1 S. 3, 32 S. 2 SGB VIII.
Gelegentlich werden Muss- und Kann-Regelungen innerhalb einer Vorschrift kombiniert. So regelt z. B. § 21 SGB VIII den Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung und räumt der Verwaltung im Hinblick auf die Übernahme der Kosten der Unterbringung in einer geeigneten Wohnform ein Ermessen ein.
3.4.2 Die Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung
Während bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe rechtsdogmatisch nur eine Definition maßgebend sein darf (s. 3.3.2) und es in den Fällen der gebundenen Verwaltung immer nur eine zulässige Entscheidung geben kann und dies von den Gerichten unbeschränkt geprüft wird, ist das in den Fällen der Ermessensverwaltung anders. Hier können grds. mehrere im Rahmen des Ermessensspielraumes liegende Handlungsalternativen rechtmäßig sein (z. B. bei einer Gebühr im gesetzlich vorgegebenen Rahmen von 100 € bis 500 € jeder innerhalb dieser Grenze liegende Betrag). Aus diesem Kreis der rechtmäßigen Alternativen hat die Verwaltung die im Einzelfall zweckmäßigste Rechtsfolge auszuwählen. Das Ermessen darf nicht beliebig, „frei“ und willkürlich ausgeübt werden. Vielmehr muss es stets pflichtgemäß vorgenommen werden; hierauf hat der Bürger einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I).
pflichtgemäßes Ermessen
Das bedeutet zunächst im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit, dass nicht die persönliche Meinung desjenigen, der die Norm anzuwenden hat, relevant ist, sondern es allein auf den gesetzlich mit der Rechtsnorm verfolgten Zweck ankommt (vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB I, § 40 VwVfG). Wie dieser gesetzliche Zweck erfüllt werden kann, darf wiederum nicht von den individuellen Kompetenzen des Einzelnen abhängen, maßgebend sind die jeweiligen fachlichen Kriterien. Fachliche Standards (vgl. Jordan, ZfJ 2001, 48 ff.; Merchel 1998) sind deshalb nicht erst im Zusammenhang von Haftungsfragen (zur sog. Garantenstellung von Sozialarbeitern s. IV-2.2) zu entwickeln, sondern Orientierung und Richtschnur bei der alltäglichen Ermessensentscheidung (vgl. auch das sog. Fachkräfteprivileg, § 72 SGB VIII, § 6 Abs. 1 SGB XII).
Im Übrigen müssen bei Ermessensentscheidungen die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Grundsätze des Verwaltungshandelns auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen beachtet werden, im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Ermessensverwaltung insb. die Grundrechte, das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG (s. 2.1.2.4), das Verhältnismäßigkeitsprinzip (s. 2.1.2.2) und das Gebot der sachgerechten Abwägung widerstreitender Interessen. Die Pflichtgebundenheit der Ermessensausübung kommt als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungshandelns ausdrücklich in § 39 SGB I, § 40 VwVfG zum Ausdruck, nach denen die Behörden nicht nur verpflichtet sind, das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung auszuüben, sondern auch die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Im Rahmen der Rechtskontrolle überprüfen die Gerichte nur die Einhaltung dieser Schranken (vgl. § 114 VwGO). Man unterscheidet rechtsmethodisch folgende Fehler, die zur Rechtswidrigkeit der Ermessensausübung führen:
Ermessensfehler
■ Ermessensüberschreitung: Die Ermessensentscheidung liegt nicht mehr innerhalb des gesetzlich eingeräumten Rahmens, die Grenzen des Ermessens sind überschritten.
Bsp.: Eine Verwaltung kann aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung eine Gebühr in Höhe von 30 € bis 60 € festsetzen, sie setzt aber 20 € oder 70 € fest. In beiden Fällen ist der Ermessensrahmen überschritten, einmal nach unten, einmal nach oben hin.
■ Ermessensmangel, auch Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung genannt: Hierbei findet eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Ausübung des Ermessens (überhaupt) nicht statt. Es mangelt an einer sachgemäßen Ermessensbetätigung.
Übersicht 14: Unbestimmter Rechtsbegriff, Beurteilungsspielraum und Ermessen
Die Begriffe „Ermessen“, „Beurteilungsspielraum“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“ werden häufig verwechselt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass diese Begriffe funktional zwei verschiedenen Gegensatzpaaren angehören. Zu unterscheiden sind:
■ das Gegensatzpaar „bestimmter / unbestimmter Rechtsbegriff“, dem auch die Fälle des Beurteilungsspielraums (als Sonderfälle des unbestimmten Rechtsbegriffs) zuzurechnen sind,
■ das Gegensatzpaar „gebundene Verwaltung / Ermessensverwaltung“.
Bei unbestimmten Rechtsbegriffen stellt sich die Frage nach Inhalt und Grenzen einzelner Tatbestandselemente, die durch Auslegung näher bestimmt werden müssen. Das Ermessen betrifft die Frage, ob die Verwaltung bei Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes im Hinblick auf die Rechtsfolge einen gewissen, gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren Handlungsspielraum hat.
Unbestimmter Rechtsbegriff | Ermessen |
1. findet sich in fast allen Vorschriften des Öffentlichen und privaten Rechts; | wird i.d.R. nur der öffentlichen Verwaltung eingeräumt; der Begriff wird i.d.R. nicht bei Privatpersonen verwendet (Ausnahme: §§ 315, 317 BGB), diese können im Rahmen der Gesetze frei entscheiden; |
2. findet sich häufig auf der Tatbestandsseite einer Rechtsnorm, kann aber ggf. auch auf der Rechtsfolgenseite vorkommen; | findet sich nur auf der Rechtsfolgenseite; Ermessen auf der Tatbestandsseite wäre mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar (Schutz- und Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes); |
3. ist erkennbar an Formulierungen mit nicht eindeutigem Inhalt (z.B. Angemessenheit, erforderlich, Zuverlässigkeit, Gemeinwohl, Sicherheit und Ordnung, Gefahr); | ist erkennbar an Formulierungen wie „kann“, „darf“, „ist befugt“ (sog. „Kann-Bestimmungen“ im Unterschied zu „Soll- und Muss-Bestimmungen“ bei den Fällen der gebundenen Verwaltung); |
4. Unbestimmte Rechtsbegriffe erlauben nur eine richtige (rechtmäßige) Auslegung, die der uneingeschränkten richterlichen Nachprüfung unterliegt; wichtig: Begründung!Ausnahme sind jedoch die unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum (grundsätzlich nur bei Prüfungsentscheidungen, Beamtenbeurteilungen und wertenden Entscheidungen pluralistischer Gremien), die nur einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung auf bestimmte Beurteilungsfehler unterliegen (insbesondere wenn von falschen Tatsachen ausgegangen wurde, sachfremde Erwägungen maßgebend waren oder wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes). | Die Ermessenseinräumung erlaubt grundsätzlich (unter Beachtung des Gleichheits-, Sozialstaatsund Verhältnismäßigkeitsgebot) mehrere rechtmäßige Handlungsalternativen; wobei die Verwaltung die zweckmäßigste auszuwählen hat. Die Ausübung des Ermessens durch die Verwaltung unterliegt nur der eingeschränkten richterlichen Nachprüfung (§ 114 VwGO) auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensnichtgebrauch, Ermessensmissbrauch), wohl aber der vollständigen Überprüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit durch übergeordnete Verwaltungsinstanzen (deshalb auch hier wichtig: Begründung!). |
5. Soweit überhaupt ein Beurteilungsspielraum anerkannt wird, ist dieser sehr eng, wenn besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) betroffen sind. | Sog. „Ermessensschrumpfung“ (-reduzierung) auf Null liegt vor, wenn im Einzelfall im Hinblick auf besonders wichtige Rechtsgüter (insbes. Leben, Gesundheit) nur eine einzige Entscheidung als rechtmäßig angesehen werden kann. |
Bsp.: Ein Beamter wägt bei dem oben gegebenen Ermessensspielraum (30 € bis 60 €) entweder überhaupt nicht oder nur teilweise ab, weil er (ggf. aufgrund einer Verwaltungsvorschrift) fälschlicherweise meint, nur Gebühren in Höhe von 45 € auferlegen zu dürfen. Hier fehlt es an einer den Ermessensspielraum ausschöpfenden Pro- und Contra-Abwägung.
■ Ermessensmissbrauch, auch als Ermessensfehlgebrauch bezeichnet, der insb. dann gegeben ist, wenn die Behörde von dem Ermessen nicht in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht oder sonstige rechtsstaatliche Grundsätze bei der Ermessensausübung missachtet hat, z. B. sachwidrige Kriterien angewendet hat.
Bsp.: Der Beamte ermäßigt die festzulegende Gebühr um die Hälfte, weil der Betroffene Angehöriger der Regierungspartei, ein Verwandter oder Freund ist oder weil er selbst an dem Tag einfach gut gelaunt ist. Der Ermessensmissbrauch umfasst alle Fälle, in denen sachfremde, d. h. normativ irrelevante Gesichtspunkte (vgl. insb. Art. 3 Abs. 3 GG) in die Ermessensentscheidung einfließen.
Begründungspflicht
Damit der Bürger als Adressat einer Verwaltungsentscheidung überprüfen kann, wie das Ermessen ausgeübt worden ist und ob die Grenzen der Ermessensbetätigung eingehalten worden sind, verpflichten § 35 Abs.1 SGB X/§ 39 Abs. 1 VwVfG die Verwaltung im Hinblick auf Ermessensentscheidungen ausdrücklich dazu, im Rahmen der ohnehin notwendigen Begründung eines (schriftlichen) Verwaltungsaktes die entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte und damit die vorgenommene Abwägung transparent darzulegen.
Ermessensschrumpfung
Vom Grundsatz, dass im Rahmen der Ermessensbetätigung mehrere rechtmäßige Alternativen möglich sind, gibt es eine Ausnahme. In besonderen Fällen kann der Ermessensspielraum der Behörde derart schrumpfen, dass nur noch eine Handlungsalternative infrage kommt. Man spricht in diesem Fall von einer „Ermessensschrumpfung auf Null“. Ein solcher Fall liegt insb. bei einer erheblichen Gefährdung wesentlicher Rechtsgüter, vor allem Leben und Gesundheit, vor.
Nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist das JA bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Minderjährigen zu einer Inobhutnahme des Minderjährigen (s. III-3.4.1) verpflichtet. Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nach § 42 Abs. 5 SGB VIII (nur) zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Kann aber die Lebensgefahr nicht anders als durch den vorläufigen Freiheitsentzug abgewendet werden, dann muss dieser vorgenommen werden. Ist die Jugendhilfe allerdings in der Lage, für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen auch in diesen außergewöhnlichen, extremen Situationen, ohne Einschließen durch „offene“ Angebote, z. B. durch eine (personal)intensive, sozialpädagogische Einzelbetreuung („Menschen statt Mauern“) zu sorgen, dann ist die geschlossene Unterbringung auch nicht erforderlich und damit unzulässig. Das JA hat differenziert und substantiiert zu begründen, warum Alternativen zur geschlossenen Unterbringung nicht ausreichen, nicht vorliegen oder geschaffen werden können.
gerichtliche Kontrolle
Von der Rechtmäßig- bzw. Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung ist deren Zweckmäßig- bzw. -widrigkeit zu unterscheiden. Während die Sozial- und Verwaltungsgerichte nach § 54 Abs. 2 SGG/§ 114 VwGO nur die Einhaltung der Ermessensschranken nachprüfen, sind sie nicht zur Überprüfung befugt, ob die getroffene Ermessensentscheidung unter den gegebenen, rechtlich zulässigen Handlungsalternativen auch die zweckmäßigste war. Zur uneingeschränkten Überprüfung auch der Zweckmäßigkeit einer Entscheidung sind vielmehr die übergeordneten Verwaltungsinstanzen berufen, aufgrund ihres Aufsichts- und Weisungsrechts insb. im Rahmen eines Widerspruchverfahrens (vgl. § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO: Recht- und Zweckmäßigkeit; vgl. 5.2.1).
3.5 Rechtsanwendung zwischen Logik und Interessenabwägung
Nach der vor allem im 19. Jahrhundert praktizierten, von ihren Gegnern abwertend als Begriffsjurisprudenz bezeichneten Rechtsdogmatik war man der Überzeugung, dass man jeden Fall rein begrifflich-logisch lösen könne. Die Jurisprudenz wurde überhöht gar als „Mathematik des Rechts“ (Rudolf v. Ihring 1865) bezeichnet. Wenn allerdings eine Auslegung nicht nur streng systematisch, sondern auch nach dem Sinn und Zweck der Norm vorgenommen wird, kann das Auslegungsergebnis nicht zwingend-logisch, sondern muss notwendig intentional und interessengerichtet sein. Auch die Analogie und der Umkehrschluss sind als gedankliche Schlüsse nicht zwingend-logisch, sondern nur mit Blick auf den Sinn und Zweck der Rechtsnormen verständlich zu machen. Im Rahmen der Abwägung geht es deshalb nicht nur um rein begrifflich-logische Ableitungen (Deduktionen) und Verknüpfungen, sondern gleichzeitig um wertende Entscheidungen (sog. Wertungsjurisprudenz). Das ist freilich wieder das Einfallstor für Sitte, Moral und Ideologien sowie partikulare Interessen (deshalb spricht man auch von Interessenjurisprudenz). Die sog. Freirechtsschule löste sich nahezu völlig von dem begrifflich-rechtssystematischen Denken und wollte die Rechtsfindung dem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden des einzelnen Richters überlassen. Freilich verliert damit das Recht seine überindividuelle, gesellschaftliche Orientierungsfunktion und öffnet der Willkür Tür und Tor. „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“, eine bissige Kritik, die der Jurist Johann Wolfgang von Goethe in „Zahme Xenien II“ an die Adresse seiner Zunft richtete. Die Rechtsgeschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, welche schlimmen Interpretationen Rechtsbegriffen untergeschoben wurden und wie grobes Unrecht als Recht „im Namen des Volkes“ verkündet wurde. In der deutschen Rechtsdogmatik der Gegenwart hat die Freirechtsschule deshalb keinen Widerhall mehr, während im Case-Law-Rechtssystem angelsächsischer Prägung der einzelne Richter weitaus größere Interpretationsspielräume besitzt. Andererseits hat man erkannt, dass Rechtsbegriffe nur vermeintlich logisch-deduktiv zu klären sind, Rechtsnormen vielmehr die Aufgabe haben, typische Konflikt- und Interessenlagen zu regeln und deshalb innerhalb der Rechtsordnung einen spezifischen Zweck erfüllen sollen. Die Interessenjurisprudenz heutiger Prägung lehnt deshalb ein reines, die konkreten Folgen ignorierendes Operieren mit Begrifflichkeiten ab, ohne aber auf systematisch-logische Überlegungen völlig zu verzichten. Auch bei der Gesetzesanwendung sind die in der Rechtsnorm offenbar werdenden Interessen und Folgen zu berücksichtigen. Wenn man Recht nicht nur abstrakt versteht, sondern seine soziale Funktion erkennt, wird man dies offenlegen und damit umgehen (lernen) müssen. Um den Einfluss von Willkür so gering wie möglich zu halten und für die Bürger ein Mindestmaß an Rechtssicherheit zu garantieren, ist es von entscheidender Bedeutung, dass bei der Anwendung von Rechtsnormen die grundlegenden Wertentscheidungen der Verfassung, des Grundgesetzes, berücksichtigt werden, hinter die keine Auslegung zurückfallen darf.
Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung sind also keine „exakten“ oder gar „objektiven“ Wissenschaften oder Methoden. Freilich gilt das auch für andere Fachrichtungen, Objektivität ist stets vermeintlich und selbst in der Mathematik und Physik hat man von dieser Vorstellung zugunsten einer subjektiv-konstruktivistischen Betrachtungsweise Abstand genommen. Rechtsdogmatik, die „Kunst“ und Lehre der Anwendung des geltenden Rechts, insb. im Umgang mit den Rechtsbegriffen, muss aber zumindest auf intersubjektiv überprüfbaren Kriterien basieren. Rechtsanwendung benötigt – wie jede andere Fachdisziplin – spezifische „Regeln der Kunst“ und fachliche Standards, Grundsätze für den Umgang mit Rechtsbegriffen und letztlich die entsprechende Fertigkeit, diese anzuwenden. So ist z. B. bei der Auslegung zu beachten, dass sie auch im Rahmen der Fallprüfung abstrakt erfolgen muss, d. h. unabhängig vom jeweiligen Sachverhalt (unabhängig z. B. von den handelnden Personen, auf die die Rechtsnorm angewandt werden soll), da ansonsten der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt werden würde. Das Gebot der Rechtssicherheit erfordert es, dass der Normadressat im Vorfeld weiß, was von ihm erwartet wird. Verhaltensgebote müssen deshalb klar und berechenbar sein. Das Rechtsstaatsgebot verlangt, dass (zumindest rechtsdogmatisch) am Ende nur ein Auslegungsergebnis rechtlich relevant, insofern also nur eines „richtig“ sein kann. Dieser Widerspruch ist letztlich nur durch ein transparentes Kontrollverfahren aufzulösen. Im Rechtsstaat wird deshalb Legitimation vor allem durch das gewählte Verfahren, also durch ein Set von Regeln, wie man zu einem Ergebnis kommt, hergestellt (vgl. Luhmann 2006). Dies gilt für die Genese der Rechtsnormen und die Anwendung der Gesetze ebenso wie für die Rechtskontrolle. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Kontrolle über die richtige Anwendung der Rechtsnormen den Gerichten übertragen. Zwar gibt es auch verwaltungsinterne Kontrollmechanismen (hierzu 5.2.1), letztlich unterliegt aber die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Sozialverwaltung in aller Regel der vollen richterlichen Überprüfung. Hier gibt es – anders als bei manchen Rechtsfolgeentscheidungen („Ermessen“) – grds. keinen Interpretationsspielraum der Exekutive.
Freilich haben auch Richter ihre Vorverständnisse, sie sind zwar institutionellrechtlich unabhängig (Art. 97 Abs. 1 GG), als Menschen allerdings beeinflussbar. Aufgrund unterschiedlicher Vorverständnisse wird der eine eher einer „konservativ-restriktiven“, der andere eher einer „progressiv-weiten“ Auslegung folgen. Das lässt sich weder verhindern noch ist es besonders schlimm, wenn wenigstens das Verfahren transparent ist und einer öffentlichen Kontrolle unterliegt. Dabei spielen nicht nur die Gerichte eine Rolle, sondern auch die wissenschaftliche Diskussion, die sich in der Fachliteratur, in Kommentaren und Aufsätzen und anderen Fachforen artikuliert und die auf die Rechtsprechung Einfluss nimmt.
herrschende Meinung
In dieser oft heftigen Diskussion bilden sich die Meinungen über die Anwendung der Rechtsnormen heraus, es bilden sich Mehrheits- oder „herrschende“ Meinungen (sog. h. M., gelegentlich als „Meinung der Herrschenden“ diskreditiert) und andere Ansichten (a. A.). Von entscheidender Bedeutung ist neben der höchstrichterlichen Rechtsprechung die im Rahmen der Auslegung gelieferte Begründung. Grds. müssen Gerichtsentscheidungen (§ 38 Abs. 3 FamFG, § 313 Abs. 1 Nr. 6 u.Abs. 3 ZPO, § 54 JGG, § 267 StPO, § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) und hoheitliche Entscheidungen der Behörden (§ 35 SGB X) begründet werden. Hierbei sind vor allem die tragenden Argumente schlüssig und nachvollziehbar darzulegen. Ungeachtet aller Hierarchien und Machtungleichgewichte sollte deshalb die Kraft des Wortes, des überzeugend stringenten und „vernünftigen“ Arguments nicht unterschätzt und das Ausdiskutieren, die Debatte strittiger Themen zumindest während des Studiums geübt werden.
3.6 Subsumtion und Stufen der Rechtskonkretisierung
Im Alltag neigt man im Rahmen von Problemlösungen häufig dazu, dem Verlauf der tatsächlichen Geschehnisse folgend chronologisch vorzugehen. Klärungsprozesse in der Sozialen Arbeit beruhen zumeist auf einem zirkulär-prozesshaften Denken. Aus juristischer Sicht hat dies den Nachteil, dass man sich schnell in den Einzelheiten einer Fallgestaltung verliert, sich (häufig zu Recht, aber im Hinblick auf die Fallfrage nicht zielführend) über die Geschehnisse empört und die gestellte Aufgabe, die Lösung der Fallfrage, aus dem Auge verliert. Dieses auf die Fallfrage beschränkte Denken in binären Strukturen (etwas ist gegeben oder nicht gegeben) wird Juristen gelegentlich als Schwarz-Weiß-Denken vorgeworfen, welches die vielfältig grauen oder bunten Schattierungen des Lebens nicht abbilden könne (instruktiv sind die „Empfehlungen für Sozialarbeiter im Umgang mit Strafjuristen“ von Ed Watzke (1997, 79 ff.), die allerdings nur diejenigen gewinnbringend lesen, die auch seine „Empfehlungen für Strafjuristen im Umgang mit Sozialarbeitern“ ertragen). Dieser Vorwurf trifft freilich nur dann zu, wenn die spezifische juristische Arbeitsmethodik verwechselt wird mit der der rechtlichen Bewertung vorausgehenden (eingeschränkten) Wahrnehmung der sozialen und gesellschaftlichen Realitäten. Unterscheiden muss man zudem zwischen Rechtsdogmatik als der Anwendung des geltenden Rechts und Rechtspolitik im Sinne rechtsverändernder Aktivitäten.
Im Unterschied zur sozialpädagogisch-chronologischen Vorgehensweise ist für die juristische Arbeitsmethodik eine systematische Bearbeitung der Fragestellungen kennzeichnend, die nicht von den tatsächlichen Geschehnissen, sondern von den normativen Verhaltensanweisungen, also von Rechtsnormen ausgeht. Die konkrete Anwendung des geltenden Gesetzes auf einen Einzelfall nennt man Subsumtion. Bei diesem Denkvorgang handelt es sich um einen juristischen Syllogismus, der sich in den drei Stufen „Obersatz-Untersatz-Schlussfolgerung“ deduktiv (d. h. vom Allgemeinen zum Besonderen) vollzieht, wobei Ober- und Untersatz durch denselben Mittelbegriff verknüpft sind. Die abstrakt-generelle Regelung, die Rechtsnorm, stellt insoweit den Obersatz dar (z. B. § 212 StGB: „Wer einen anderen Menschen – ohne Rechtfertigung und schuldhaft – tötet, wird als Totschläger bestraft“). Der Untersatz beschreibt den konkreten Einzelfall (z. B. „A ersticht den B, ohne dass er von diesem angegriffen wurde.“). Es werden sodann die Elemente des Sachverhalts mit denen der Rechtsnorm verglichen. Durch die Verknüpfung von Ober- und Untersatz („B ist ein Mensch. Diesen hat der A wissentlich und willentlich (= vorsätzlich) und ohne Notwehr oder eine sonstige Rechtfertigung getötet. Anzeichen, dass A. nicht voll schuldfähig ist, liegen nicht vor.“) kann der Rechtsanwender daraufhin eine Schlussfolgerung ziehen (hier: A hat den B vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft getötet, damit einen Totschlag begangen − also wird A wegen Totschlags bestraft). Unter Subsumtion versteht man also die Prüfung, ob die Tatbestandselemente der abstrakten Rechtsnorm („Obersatz“) durch die einzelnen Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) erfüllt werden und welche Rechtsfolge infolgedessen gegeben ist („Schlussfolgerung“).
Lange Zeit hat die Jurisprudenz versucht, zu suggerieren, Rechtsdogmatik sei nichts anderes als eine wissenschaftliche Anwendung der Regeln der Logik, deren dreistufiger Aufbau auch im Rahmen der Rechtsanwendung gepflegt wurde. Mit Blick auf die Wenn-dann-Relation von Rechtsnormen und die Verknüpfung von Tatbestandsmerkmalen einer oder mehrerer Normen kann man bei der Rechtsanwendung durchaus von einer systematisch-methodischen Vorgehensweise sprechen. Versteht man Recht und seine Genese freilich als Instrument des Interessensstreits und -ausgleichs (vgl. 1.1.2), so kann auch die Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall davon nicht unberührt sein (s. 3.5). Auch bei der Würdigung des Sachverhalts wirken sich Sichtweisen und Vorverständnisse aus; insb. im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geht es nicht nur um logisch-systematische Überlegungen, sondern um wertende Entscheidungen, die allerdings der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Subsumtion ist also die spezifisch rechtsmethodische Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Lebenssachverhalt, die zwar in Anlehnung an die Begriffe der Logik durch eine sprachlich genaue und systematisch-strukturierte Arbeitsweise, dessen ungeachtet aber durch eine Interessen abwägende, wertende Ergebnisorientierung gekennzeichnet ist.
Voraussetzung für die Rechtsanwendung ist, dass der Lebenssachverhalt feststeht und nicht erst noch untersucht werden muss oder Behauptungen be- und nachgewiesen werden müssen. Hier ist es von Bedeutung, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht objektiv, sondern ein aktiv-selektiver Prozess der Konstruktion von Wirklichkeiten ist (vgl. Maturana/Varela 1987). Wird dies ignoriert, helfen weder zirkuläres Denken noch binäre Entscheidungsstrukturen, um zu angemessenen Ergebnissen und Entscheidungen zu kommen.
Suchen und Finden der Rechtsgrundlage
Da nach dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts Eingriffe in die Rechtsposition des Bürgers nur zulässig sind und Ansprüche auf Sozialleistungen nur bestehen (§ 31 SGB I), wenn ein Gesetz den Eingriff legitimiert bzw. das Gesetz die Erbringung der Leistung vorsieht (s. 2.1.2.1), muss man zuerst eine „einschlägige“ Rechtsnorm finden, deren Rechtsfolge die gewünschte Entscheidung legitimiert. Entsprechendes gilt im Hinblick auf einen privatrechtlichen Konflikt. Auch hier muss zunächst eine Anspruchsgrundlage gefunden werden. Da man sich während seines Studiums nicht in alle Rechtsmaterien einarbeiten (und diese auswendig lernen) kann, in denen die Klienten möglicherweise Beratungsbedarf haben, müssen Fachkräfte der psychosozialen Arbeit (wie alle anderen professionellen Rechtsanwender auch) die Bereitschaft und Fähigkeit haben, sich in neue, unbekannte Rechtsmaterien und Sachgebiete hineinzufinden. Dazu muss man wissen, welche Gesetzessammlungen es überhaupt gibt und wie man sich darin z. B. mithilfe des Inhaltsverzeichnisses oder Registers zurechtfinden kann. Man muss erkennen, wie ein Gesetz in seiner Struktur aufgebaut ist und worin der innere Zusammenhang der Rechtsnormen besteht. Weniger die inhaltlichen Details, vielmehr muss man wissen, „wo etwas steht“ bzw. wie man etwas findet und wie man damit umgeht.
Ausgangspunkt der juristischen Fallprüfung ist die Klärung der sog. vier W-Fragen: Wer will Was von Wem Woraus? Wenn der Bürger (insb. von der Sozialverwaltung) etwas will, geht es um die Suche einer entsprechenden Anspruchsnorm, wenn die Sozialverwaltung etwas (insb. vom Bürger) will, geht es um die Suche einer das Handeln legitimierenden Rechts- bzw. Anspruchsgrundlage.
Auslegung von Willenserklärung
Nicht immer sind die Willensäußerungen der Bürger eindeutig und den Gebrauch rechtlicher Fachbegriffe kann und darf man von ihnen nicht erwarten. Deshalb sind Erklärungen der handelnden Personen mitunter auszulegen. Anders als bei der Definition von unbestimmten Rechtsbegriffen (s. 3.3.2) geht es hier bei der Auslegung um die Deutung des Inhalts von Willenserklärungen.
Ist z. B. der als „Eingabe“ bezeichnete Protest eines Bürgers als Widerspruch i. S. d. § 62 SGB X i. V. m. § 83 SGG/§ 68 VwGO zu werten? Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Dieser Grundsatz gilt über das Privatrecht hinaus. Im Sozialrecht ist eine Willenserklärung im Zweifel zugunsten des Bürgers auszulegen, im obigen Beispiel im Hinblick auf die „günstigeren“ Verfahrens- und Kostenregelungen als Widerspruch, sofern nur ersichtlich ist, dass der Bürger mit der Entscheidung nicht einverstanden und der Widerspruch überhaupt rechtlich zulässig ist.
Nachdem man eine im Hinblick auf die Rechtsfolge geeignete Rechtsgrundlage herausgesucht hat, beginnt man mit der Prüfung der Tatbestandsseite der Vorschrift. Am Anfang steht die Identifizierung und Definition der einzelnen Tatbestandsmerkmale; hierbei müssen die Grenzen unbestimmter Rechtsbegriffe ggf. durch Auslegung bestimmt werden.
Am Maßstab der so gewonnenen Definition der Tatbestandselemente sind dann die entsprechenden Umstände des Lebenssachverhaltes daraufhin zu prüfen, ob sie die einzelnen Begriffselemente und Bedingungen der Rechtsnorm erfüllen. Ist auch nur ein einziges Tatbestandselement nicht erfüllt, so greift die Rechtsfolge nicht ein, die Rechtsnorm ist auf diesen Sachverhalt nicht anwendbar. Am besten macht man es sich beim Lösen von Rechtsfällen zur Gewohnheit, nach dem Auffinden der einschlägigen Rechtsnorm zunächst Inhalt und Grenzen der einzelnen Tatbestandsmerkmale klar herauszuarbeiten, bevor man mit der Einordnung des Sachverhalts unter den Tatbestand – der Subsumtion im engeren Sinn – beginnt. Hierbei wird man feststellen, dass eine einzelne Rechtsnorm selten für die Beantwortung der Fallfrage ausreicht. Es müssen oft weitere Rechtsnormen herangezogen werden, die die Rechtsgrundlage ergänzen oder einen Anspruch konkretisieren, es müssen (insb. die vorhergehenden und nachfolgenden) Normen überprüft werden, die eine Ausnahme regeln oder einem Anspruch entgegenstehen (vgl. oben Definitions-, Verweisungs- oder Gegennormen). Hilfreich sind hierbei die sog. Aufbauschemata, die die relevanten Aspekte einer Fragestellung systematisch aufeinander beziehen (s. hierzu V-Anhang 4 ff.). Freilich dürfen diese Schemata nicht blind, sondern müssen durchdacht angewendet werden, damit nicht alle (auch die in einem konkreten Fall nicht relevanten) Aspekte stur abgearbeitet, sondern die Schwerpunkte im Fall angemessen gesetzt werden.
Sind alle Tatbestandsmerkmale erfüllt, so ist festzustellen, welche Konsequenz daraus folgt, also welche Rechtsfolge damit verbunden ist. In Fällen der gebundenen Entscheidung (s. 3.4.1) steht die Rechtsfolge mit der Erfüllung des Tatbestands fest. In den Fällen der Ermessensverwaltung sind die erforderlichen Erwägungen zur Ausübung des Ermessens (s. 3.4.2) anzustellen und zu begründen.
Bei der Anwendung der gängigen Bundes- und Landesgesetze (z. B. BGB, SGB, PsychKG, Schulgesetze) kann man in der Ausbildung davon ausgehen, dass diese ordnungsgemäß zustande gekommen und inhaltlich verfassungsgemäß sind. Wenn aber tatsächlich Anhaltspunkte für die Verfassungs- oder Rechtswidrigkeit einer (abgeleiteten) Rechtsnorm vorliegen, sind diese am Maßstab höherrangigen Rechts zu überprüfen. Dies wird in aller Regel nur von (in der Ausbildung befindlichen) Juristen erwartet. Im Kollisionsfall geht das höherrangige Recht dem rangniedrigeren Recht vor, d. h. die rangniedrigere Norm ist nichtig, wenn sie gegen höherrangiges Recht verstößt (z. B. Art. 31 GG). Bei Kollisionen gleichrangiger Vorschriften verdrängt das neuere Gesetz das ältere, die speziellere die allgemeine Norm.
Arbeitsschritte
Zusammenfassend beschrieben vollzieht sich der Vorgang der Subsumtion somit in folgenden fünf Schritten:
1. Aufsuchen der einschlägigen Anspruchsgrundlage oder Rechtsgrundlage im Hinblick auf die „gewünschte“ Rechtsfolge. Für die Beantwortung einer Rechtsfrage sind sämtliche einschlägigen Rechtsvorschriften zu beachten. Grds. ist mit der rangniedrigsten und speziellsten Rechtsnorm (nicht Verwaltungsvorschrift!) zu beginnen. Merke: Ein Verwaltungsakt oder die Ablehnung einer Leistung darf niemals nur mit Hinweis auf eine Verwaltungsvorschrift erlassen bzw. abgelehnt werden.
2. Zerlegung der einschlägigen Rechtsnorm in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, ggf. unter Heranziehung von Verweisungs- oder Gegennormen; Feststellung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen (x1, x2 …).
3. Definition / Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale, ggf. unter Heranziehung von Definitionsnormen: x1 bedeutet …, x2 bedeutet … Hieraus gewinnt man die rechtsmethodisch „Obersatz“ genannte Entscheidungsgrundlage.
4. Feststellung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Umstände des konkreten Lebenssachverhaltes („Untersatz“) mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen: x1 ist erfüllt durch S1, x2 ist erfüllt durch S2 usw.
5. Feststellung der Rechtsfolge Rn; bei Ermessensverwaltung Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessens (Zweckmäßigkeitsüberlegungen) hinsichtlich der Wahl des Mittels und der Wahl des Adressaten. Für und gegen R1 spricht, für und gegen R2 spricht, nach Abwägung aller dafür und dagegen sprechenden Umstände … folgt Entscheidung Rn.
Wesel 2014
1. Auf welche Weise sind fachlich-sozialpädagogisches Arbeiten und juristisches Denken miteinander verwoben? (3.1)
2. Was ist eine „vollständige“«, was eine „unvollständige“ Rechtsnorm? (3.2.1)
3. Welche Formen der Auslegung gibt es? Beschreiben Sie kurz die wesentlichen Merkmale dieser Auslegungsmethoden. Was muss im Rahmen der Auslegung beachtet werden? (3.3.2)
4. Verfügt die Soziale Arbeit im Hinblick auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe über einen Beurteilungsspielraum? (3.3.3)
5. Wie erkennt man, ob einer Behörde ein Ermessen zusteht? (3.4.1)
6. In welchen Fällen spricht man von und was versteht man unter gebundener Verwaltung? (3.4.1)
7. Was ist bei der Ermessensausübung zu beachten? (3.4.1 und 3.4.2)
8. Welche Konsequenzen hat ein Ermessensfehler? (3.4.2)
9. Was bedeutet „Ermessensschrumpfung auf Null“? (3.4.2)
10. Beschreiben Sie die wesentlichen Schritte im Rahmen der Subsumtion. (3.6)