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Оглавление2 Verfassungsrechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit (Behlert / Trenczek)
I-2.1 Die Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat
2.1.2.1 Bindung an Recht und Gesetz
2.1.2.3 Rechtsschutzgarantie und Justizgewährungsanspruch
2.1.2.4 Gleichheitsgebot und Willkürverbot
2.2.1 Geschichtliches – begriffliche Einordnung
2.2.3 Funktion der Grundrechte
2.2.4 Geltung von Grundrechten
2.2.5 Schutz der Menschenwürde und der Freiheit der Person
2.2.6 Grundrechte aus Art. 6 GG: Ehe und Familie
Gerade im Hinblick auf Menschen, die Hilfe bedürfen und in Gefahr stehen, von öffentlicher oder professioneller Unterstützung abhängig zu werden, empfiehlt es sich, die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik und das dahinter stehende Menschenbild genauer anzusehen:
„Der Einzelne ist zwar der öffentlichen Gewalt unterworfen, aber nicht als Untertan, sondern als Bürger … Dies muss besonders dann gelten, wenn es um seine Daseinsmöglichkeit geht. … Die unantastbare, von der staatlichen Gewalt zu schützende Würde des Menschen (Art. 1) verbietet es, ihn lediglich als Gegenstand staatlichen Handlungsbedarfs zu betrachten, [insbesondere] soweit es sich um die Sicherung des notwendigen Lebensbedarfs, also seines Daseins überhaupt handelt. Das folgt aus dem Grundrecht der freien Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Auch der Gemeinschaftsgedanke, der in den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 und 28 GG) und der Sozialgebundenheit des Eigentums (Art. 14 GG) Ausdruck gefunden hat, erschöpft sich nicht in der Gewährung von materiellen Leistungen, sondern verlangt, dass die Teilnehmer der Gemeinschaft als Träger eigener Rechte anerkannt werden, die grds. einander mit gleichen Rechten gegenüberstehen (Art. 3 GG), und dass nicht ein wesentlicher Teil des Volkes in dieser Gemeinschaft hinsichtlich seiner Existenz ohne Rechte dasteht“ (BVerwGE 1, 159 ff.).
Übersicht 6: Verfassungsrechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit
2.1 Die Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Rechtsstaat
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Das Grundgesetz, die Verfassung (vgl. 1.1.3.1) und rechtliche Grundordnung des deutschen Staates bestimmt in Art. 20 GG – und zwar mit Anspruch auf Unveränderlichkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) – Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat als wichtigste, ineinandergreifende Verfassungsgrundsätze (zum Föderalismusprinzip, der Gliederung des Bundes in Länder, vgl. 4.1.2).
Gewaltenteilung
Kennzeichen und gleichermaßen Voraussetzung für den demokratischen Rechtsstaat ist die von dem französischen Philosophen Montesquieu (1689 –1755) ausgeformte Lehre von der Dreiteilung der staatlichen Gewalten. Danach wird die Exekutive (Regierung und Verwaltung) abgegrenzt von der Legislative (Gesetzgebung, i. d. R. das Parlament) und der Judikative (Rechtsprechung (s. Übersicht 7). Grob gesagt, stellt die Legislative die Normen auf, die Exekutive (insb. die Verwaltung) wendet sie an und die Rechtsprechung kontrolliert die Einhaltung der Gesetze. Auf dieses („horizontale“) Gewaltenteilungsprinzip nimmt die Verfassung der Bundesrepublik ausdrücklich Bezug in Art. 20 Abs. 3 GG: Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Allerdings ist das Gewaltenteilungsprinzip heute nicht mehr in reiner Form angewendet. So wird die Regierung als Teil der Exekutive mittlerweile nicht mehr von einem „absoluten Herrscher“ eingesetzt, sondern vom Parlament gewählt, dessen Regierungsfraktionen die Regierung weniger kontrollieren denn stützen. Die Tätigkeit der Exekutive erschöpft sich auch nicht in der reinen Anwendung von Normen, vielmehr haben die Regierung und die sog. Selbstverwaltungsträger auch einen politischen Gestaltungsauftrag, während die übrige Verwaltung eher ausführend tätig ist. Zudem nehmen Exekutiv- und Verwaltungsbehörden auch Aufgaben wahr, die streng inhaltlich zur Gesetzgebung (Erlass von Verordnungen und Satzungen) oder Rechtsprechung (Bußgeldbescheide) gehören, andererseits werden auch die Gesetzgebung (z.B. bei Erlass eines Haushaltsplanes) und die Rechtsprechung (Register, Grundbuch) verwaltend tätig.
Übersicht 7: Staat und Gewaltenteilung
Verfassungsorgane
Ein Ausfluss der Gewaltenteilung ist die Zuweisung grundlegender Staatsaufgaben an die sog. Verfassungsorgane, also die Institutionen, die im GG ausdrücklich mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Das sind auf Bundesebene:
■ der Bundestag (Art. 38 – 48 GG)
■ der Bundesrat (Art. 50 –53 GG)
■ der Gemeinsame Ausschuss (Art. 53a GG)
■ die Bundesversammlung (Art. 54 GG)
■ der Bundespräsident (Art. 54 –61 GG)
■ die Bundesregierung (Art. 62 –69 GG)
■ das Bundesverfassungsgericht (Art. 93, 94 GG)
Der Bundeskanzler ist zwar im GG erwähnt, er ist aber als Teil der Bundesregierung kein eigenständiges Verfassungsorgan. Besteht zwischen den einzelnen Organen eine divergierende Auffassung über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten oder ihrer Mitglieder, kann das BVerfG im sog. Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerfGG) angerufen werden. Im Hinblick auf die wechselseitige Kontrolle („Checks and Balances“) und Verflechtungen der Verfassungsorgane spricht man auch von Gewaltenverschränkung, während die durch das Föderalismusprinzip (s. 4.1.2) geprägte Gliederung und wechselseitige Kontrolle von Bund, Ländern und Gemeinden (mittlerweile auch unter Einschluss der EU-Ebene) als „vertikale“ Gewaltenteilung bezeichnet wird.
Es lassen sich jedoch noch andere, grundlegendere Entwicklungen des Gewaltenteilungsprinzips beobachten. Denn insb. dort, wo (wie in der Bundesrepublik Deutschland) Regierungen im Amt sind, die die parlamentarische Mehrheit hinter sich wissen, gestaltet sich das Wechselspiel zwischen Parlament und Regierung – zumal unter den Bedingungen des aus Art. 21 GG abgeleiteten sog. Fraktionszwangs – mitunter nicht sehr effektiv. Parlamentarische Kontrolle reduziert sich dann häufig auf Minderheitenrechte der parlamentarischen Opposition (z. B. Untersuchungsausschuss, Art. 44 GG; Große und Kleine Anfragen, §§ 100 ff. GO BT; Befragungen der Bundesregierung, § 106 GO BT). Die wirksamste Kontrolle von Regierung und Parlament geht daher heute vom BVerfG aus (hierzu 5.1.1), was zwar unter demokratietheoretischen Aspekten nicht unumstritten ist, sich im Ergebnis allerdings in aller Regel als segensreich für die politische und rechtliche Gestaltung des Gemeinwesens erwiesen hat.
2.1.1 Demokratie
Der Begriff Demokratie kommt aus dem Griechischen (demos – Volk; kratein – herrschen) und bedeutet „Volksherrschaft“. Der Begriff ist allerdings nicht unproblematisch und wird gerade von sog. populistischen Bewegungen recht schlicht und bizarr ausgelegt. In einer Demokratie hat sich nicht alles der Mehrheit zu beugen (s. u.), denn diese ist zu „monströsen Irrtümern“ fähig. „Eine Demokratie funktioniert nicht ohne Presse- und Versammlungsfreiheit, nicht ohne Oppositionsrechte, nicht ohne den Schutz der Schwachen“ (Janisch 2016a, 4).
Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Damit ist nicht gemeint, dass zwingend alle hoheitlichen Entscheidungen durch die Bürger unmittelbar getroffen werden müssen, sondern dass sie einer gesetzlichen Legitimation bedürfen, die sich auf einen Willensakt des Volkes zurückführen lässt. Konkretisiert ist das Demokratiegebot durch das Gebot allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG). Man unterscheidet zwischen „unmittelbarer“ Demokratie, in der das Volk in Abstimmungen direkt selbst über eine Frage entscheidet, und der sog. repräsentativen Demokratie, bei der das Volk „abgeordnete“ Volks-Vertreter wählt, die als ihre Repräsentanten in den Parlamenten, den Volksvertretungen, die wesentlichen (gesetzlichen) Entscheidungen treffen. Dem Grundgesetz liegt ein ganz überwiegend repräsentatives Demokratiemodell zugrunde (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), in welchem nur rudimentär Elemente der unmittelbaren Demokratie vorkommen, die allerdings in den letzten Jahren wieder verstärkt aktiviert werden (z. B. die beiden erfolgreichen Bürgerentscheide im Juli 2010, in Bayern für ein umfassendes Rauchverbot in öffentlichen Räumen und in Hamburg gegen die von der Bürgerschaft beschlossene Einführung der 6-jährigen Primarschule).
Eine besondere Beachtung finden im Grundgesetz auch die Parteien (Art. 21 GG), die als Vermittler der politischen Willensbildung einen besonderen Auftrag haben. Die Parteiendemokratie geht faktisch zulasten unmittelbarer Demokratieelemente. Dennoch ist, wie auch durch den Ausgang verschiedener Volks- bzw. Bürgerentscheide in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen europäischen Ländern belegt werden kann, allein von der Form unmittelbarer Demokratie nicht notwendigerweise auf eine größere demokratische Substanz der getroffenen Entscheidung zu schließen. Denn auch der unmittelbar entäußerte Volkswille kann, „fiktiv, fehlbar und verführbar“ sein (Offe 1992, 127).
Minderheitenschutz
Demokratie ist demnach etwas anderes als ein schlichtes Mehrheitsprinzip. Sie basiert auf der Anerkennung des einzelnen Bürgers als Träger universeller Grundund Menschenrechte (zur UN-Menschenrechtserklärung von 1948 und der EMRK s. 1.1.5). Soweit der Demokratiegedanke mit der Organisation von Mehrheiten und Mehrheitsentscheidungen verknüpft wird, muss beachtet werden, dass das Betätigungsrecht der Opposition gewährleistet ist und der Schutz von Minderheiten gewahrt bleibt (keine Diktatur der Mehrheit). Insoweit ergibt sich aus dem Demokratieprinzip ein besonderer Handlungsauftrag für die Soziale Arbeit, da sie es vielfach mit Menschen zu tun hat, die – aus welchen Gründen auch immer – einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe oder Minderheit angehören (z. B. Kinder und Jugendliche, alte, behinderte, einkommensarme Menschen, Migranten und ausländische Bevölkerungsgruppen in prekären sozialen und aufenthaltsrechtlichen Situationen). Hierbei geraten Sozialarbeiter u. U. in ein Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen: Auf der einen Seite steht der Auftrag des betroffenen Klienten, auf der anderen Seite stehen die Erwartungen des öffentlichen Arbeitgebers, dem sie arbeitsrechtlich und gesetzlich verpflichtet sind. Man spricht hier insofern von einem doppelten Mandat. Das Demokratiegebot verpflichtet die Mitarbeiter öffentlicher Träger, die demokratisch legitimierten Entscheidungen des Gesetzgebers vorbehaltslos (wenn auch nicht blind bzw. kritiklos) zu befolgen. Die sich aus dem doppelten Mandat mitunter ergebenden Konflikte sind nicht immer leicht aufzulösen, sie fordern aber zur demokratischen Teilnahme und damit zur rechtlich-politischen Einwirkung auf die Sozialverhältnisse auf. Die Soziale Arbeit hat einen politischen Gestaltungsauftrag insb. im Hinblick auf die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins und die Abwendung bzw. den Ausgleich von Benachteiligungen und Belastungen (vgl. z. B. § 1 SGB I, § 1 Abs. 3 SGB VIII).Auch deshalb muss sich Soziale Arbeit im Interesse ihrer Klienten einmischen und in den öffentlichen Diskurs einbringen.
2.1.2 Rechtsstaatsprinzip
staatliches Gewaltmonopol
In einem Rechtsstaat bildet das Recht die verbindliche Ordnung für das Zusammenleben der Menschen. Die Wortbildung selbst steht mit spezifischen deutschen Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts im Zusammenhang. Deshalb führt eine lineare Übersetzung des Wortes in andere Sprachen auch zu keinem sinnvollen Ergebnis. Es besteht aber heute weitgehend Einigkeit darüber, dass im Deutschen mit „Rechtsstaat“ das gemeint ist, was im angloamerikanischen Rechtsraum als „Rule of Law“ bezeichnet wird. In England finden sich auch mit der Magna Carta Libertatum (1215), vor allem aber mit der Bill of Rights (1689), die geschichtlichen Ursprünge des Rechtsstaats. Die theoretische Konzeption geht letztlich auf die Rechtsphilosophie Immanuel Kants zurück und basiert auf dem von ihm grundlegend beschriebenen Verhältnis des einzelnen Bürgers zum Staat, der Notwendigkeit des Schutzes des Bürgers vor der Übermacht des Staates und des Schutzes durch den Staat im Hinblick auf die Machtungleichgewichte in der Gesellschaft. Der Rechtsstaat war bei Kant konstitutiv für die bürgerliche Freiheit (vgl. 1.1.1). Der Gegensatz ist der Polizeistaat, in dem der Einzelne Objekt der staatlichen Gewalt ist. Andererseits lässt sich das Axiom des staatlichen Gewaltmonopols auf Thomas Hobbes zurückführen. In einem Rechtsstaat ist grds. nur der Staat Hoheitsträger und darf Zwang zur Durchsetzung der Verhaltensregeln anwenden (sog. staatliches Gewaltmonopol).
Die wesentlichen Funktionen des Rechtsstaats gehen aus heutiger Perspektive über die Gewährleistung der persönlichen Freiheit hinaus und liegen in der Strukturierung des Gemeinwesens und seiner wesentlichen öffentlichen Institutionen (Ordnungsfunktion), in dem Grenzziehungsauftrag zum Schutz der Bürger (Herrschaftskontrolle, insb. Schutz der „Schwächeren“, z. B. Minderheiten und Benachteiligten, vor den Mächtigeren) sowie – im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip – dem Auftrag zur Chancenermöglichung (Emanzipation und Aktivierung) zur Gewährung gesellschaftlicher Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn sich die Idee des Rechts an der Gerechtigkeit orientiert, kann dieses Ziel immer nur ansatzweise erreicht werden, da im Widerstreit gesellschaftlicher und privater Interessen optimal nur ein fairer Interessenausgleich geleistet werden kann (hierzu 1.2).
Allerdings wird der Rechtsstaat immer wieder bedroht, insbes. auch nicht selten durch politischen Extremismus und Terror. Möglicherweise nicht so offensichtlich sind aber die Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit durch Initiativen, die sich zu seiner Verteidigung berufen fühlen. Gerade aus Anlass von Terrorakten und schwersten Straftaten ertönt immer wieder in einem simplen „politischen Reiz-Reaktion-Mechanismus“ der Ruf nach schärferen (Straf-)Gesetzen und Ermittlungsmaßnahmen (s. IV-1.3), wird die Einschränkung von Bürgerfreiheiten (z. B. Datenschutz, s. III-1.2.3) zugunsten einer vermeintlich erhöhten Sicherheit gefordert. „Der Rechtsstaat wird es auf Dauer sicher nicht ohne Schaden überstehen, wenn er unablässig und fälschlich zum Hindernis bei der Bekämpfung des Terrors erklärt wird“ (Janisch 2016b, 4). Umgekehrt erweist sich der Rechtsstaat gerade im Umgang mit seinen Anfeindungen.
2.1.2.1 Bindung an Recht und Gesetz
Art. 20 Abs. 3 GG
Wesentlich für einen Rechtsstaat ist, dass die Macht des Staates nicht grenzenlos, sondern rechtlich gebunden und demokratisch legitimiert ist. Dies gilt insb. im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, deren vom Staat anerkannte (nicht verliehene) Menschen- und Grundrechte die individuellen und sozialen Freiheitssphären umschreiben (Art. 1 –19 GG), in die der Staat nur unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen eingreifen darf. Der Bürger ist nicht Untertan, sondern er verfügt über verfassungsrechtlich anerkannte Rechte und Pflichten. Greift die Exekutive in die Rechtsstellung des Bürgers ein, so muss er die Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen von unabhängigen Gerichten überprüfen zu lassen. Kernelement des Rechtsstaats ist also die Bindung der „hoheitlichen“ Gewalt (insb. auch der Sozialverwaltung) an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 f. GG).
Vorrang des Gesetzes
Aus dem Grundsatz, dass alles staatliche Handeln an Recht und Gesetz gebunden ist (Gesetzmäßigkeit), lassen sich zwei wesentliche Regeln ableiten, die insb. für die (Sozial-)Verwaltung von Bedeutung sind: Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Aus dem Vorrang des Gesetzes ergibt sich, dass jede Verwaltungsmaßnahme mit den geltenden Rechtsnormen im Einklang stehen muss, also nicht gegen gültige Rechtssätze verstoßen darf. Deshalb muss die Verwaltung, müssen die Sozialarbeiter das Grundgesetz, insb. die darin enthaltenen Grundrechte, sowie die Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen kennen und dürfen gegen diese Rechtsnormen nicht verstoßen. Ein vom Gesetz abweichendes Handeln ist rechtswidrig. Die fachlichen Standards der Sozialen Arbeit bestimmen sich ganz wesentlich durch rechtliche Regelungen.
Im Rahmen einer Inobhutnahme hat das JA die Eltern „unverzüglich“ zu unterrichten und mit ihnen gemeinsam das Gefährdungsrisiko abzuschätzen (§ 42 Abs. 3 S. 1 SGB VIII; im Einzelnen III-3.4.1.1). Überredet ein Sozialarbeiter einen 16-jährigen Jugendlichen, der über seine autoritären Eltern klagt, ohne Abklärung mit den Eltern zu einem Umzug in eine Wohngemeinschaft, verstößt dies gegen Art. 6 GG, §§ 1631 ff. BGB sowie §§ 1 Abs. 2, 8a Abs. 1, 9 Ziff.1, 27 ff. bzw. 42 SGB VIII.
Privatautonomie
Soweit keine Rechtsnormen vorliegen, besteht für alle Bürger Handlungsfreiheit. Sie dürfen tun und lassen, was sie wollen, solange sie nicht gegen Rechtsnormen verstoßen. Im Rechtsverkehr der Bürger spricht man insoweit von Privatautonomie, im Hinblick auf Verträge gilt die Vertragsfreiheit (§ 311 BGB, hierzu II-1), d. h. solange die gesetzlichen Regelungen eingehalten werden (z. B. keine rechtswidrigen und sittenwidrige Geschäfte, §§ 134, 138, 242 BGB; Einhaltung von Formvorschriften, §§ 126 ff. BGB; Schutz vor unangemessener Benachteiligung oder mehrdeutigen und überraschenden Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, §§ 305 ff. BGB; Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften, § 312 BGB; zu den Vorschriften zum Verbraucherschutz vgl. II-1.3.1), können die Vertragsparteien ihre Verträge frei gestalten.
Vorbehalt des Gesetzes
Die allgemeine Handlungsfreiheit im Rahmen der Gesetze besteht zwar für den Bürger, nicht aber für den Staat und andere öffentliche Träger. Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes knüpft an das Demokratiegebot an und besagt, dass der Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, selbst entscheiden muss und nicht der Verwaltung zur Entscheidung überlassen darf (BVerfG NJW 1976, 34; 1976, 1309; 1979, 359). Wesentliche Maßnahmen sind also nur rechtmäßig, wenn sie auf einer (ausreichenden) gesetzlichen Grundlage ergehen (Gesetz oder mit gesetzlicher Ermächtigung erlassene Rechtsnorm; nicht ausreichend ist hingegen eine Verwaltungsvorschrift) und die Grundrechte nur im zulässigen Umfang einschränken. Damit sollen einerseits Willkür und unkontrollierte Eigengesetzlichkeiten verhindert, andererseits die Berechenbarkeit der Verwaltung und die Gleichbehandlung der Bürger verbessert werden. Wesentliche Maßnahmen in diesem Sinne sind:
a) Eingriffe in die Rechts- und Freiheitssphäre einer natürlichen oder juristischen Person, d. h. Maßnahmen, die zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen verpflichten bzw. ein Recht entziehen oder einschränken. Dies betrifft also nicht nur kontrollierende Maßnahmen der Polizei, sondern alle in die Rechtsstellung der Bürger eingreifenden Maßnahmen öffentlicher Verwaltungsträger (z. B. auch Inobhutnahme oder Gebührenerhebung durch das JA; zum Kopftuchverbot ohne gesetzliche Grundlage s. BVerfG 2 BvR 1436 / 02 v. 24.09.2003). So ist z. B. auch jede Erhebung und Speicherung von personenbezogenen Daten und ihre Mitteilung an Dritte ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. das sog. Volkszählungsurteil des BVerfG v. 15.12.1983 – E 65, 1; hierzu III-1.2.3). Auch innerhalb sog. Sonderrechtsverhältnisse (z. B. Strafvollzug, geschlossene Unterbringung) bedürfen weitere, über das Grundverhältnis hinausreichende Beschränkungen der Grundrechte (z. B. Briefzensur, beschränkte Nutzung von Medien) einer gesetzlichen Grundlage (BVerfGE 33, 1 ff. = NJW 1972, 811; BVerfG 2 BvR 1673 / 04 – 31.05.2006 – ZJJ 2006, 193 ff. zum Jugendstrafvollzug). Ein Eingriff liegt immer dann vor, wenn grundrechtlich geschützte Rechtspositionen nicht unerheblich beschränkt werden (vgl. z. B. im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG die Einführung der Sexualerziehung in der Schule, BVerwG NJW 1975, 1181).
Die Polizei darf Wohnungen, z. B. das Wohnheim eines freien Trägers, nur dann betreten und durchsuchen, wenn und soweit ihr dies durch Art. 13 GG und die einschlägigen Vorschriften der Polizeigesetze der Länder gestattet ist (grds. nur auf Anordnung des Amtsrichters, nur zur Abwendung einer gemeinen Gefahr, einer Lebensgefahr für einzelne Personen oder zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; vgl. z. B § 25 ThürPAG). Die dauerhafte Rundumüberwachung eines aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Mannes durch die Polizei ist aufgrund der polizeilichen Generalklausel nur für eine kurze Zeit, ohne eine spezifische gesetzliche Grundlage aber nicht dauerhaft lässig (BVerfG 1 BvR 22 / 12 – 8.11.2012).
b) Auch Leistungsentscheidungen, mit denen der Staat (oder andere Hoheitsträger) in die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit der Bürger interveniert (z. B. Subventionen, Förderung von freien Trägern) sind wesentlich und bedürfen der gesetzlichen Regelung. Für die Begründung oder Feststellung von Rechten reicht es allerdings nach der Rechtsprechung aus, dass in einem Haushaltsgesetz oder in einer Haushaltssatzung zweckgebundene Mittel bereitgestellt werden (z. B. im Hinblick auf Subventionen BVerwG NJW 1979, 2059 f.).
Sind im Haushaltsplan eines Kreises für die Bezuschussung von Altentagesstätten (§ 71 SGB XII) 50.000 € vorgesehen, ist die Verwaltung berechtigt und verpflichtet, diese Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen auf die verschiedenen Antragsteller zu verteilen.
§ 31 SGB I
c) Im Hinblick auf die Sozialverwaltung hat der Gesetzgeber alle Entscheidungen über Sozialleistungen einem besonderen Gesetzesvorbehalt unterworfen. Nach § 31 SGB I ist die Begründung, Feststellung, Änderung oder Aufhebung von Rechten und Pflichten nach dem SGB nur zulässig, soweit ein Gesetz sie vorschreibt oder zulässt. Dieser sozialrechtliche Gesetzesvorbehalt geht über die allgemeinen Grundsätze hinaus. Die öffentlichen Träger z. B. der Jugend- und Sozialhilfe dürfen aufgrund des sozialrechtlichen Gesetzesvorbehalts Sozialleistungen nur bewilligen und durchführen, wenn sich dies aus dem SGB ergibt, wenn also die fachliche Prüfung ergeben hat, dass die gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind (zur sog. Steuerungsverantwortung s. III-3.3.4.4).
Im Rahmen des Jugendgerichtsverfahrens muss das JA frühzeitig prüfen, ob und ggf. welche Jugendhilfeleistungen für einen Jugendlichen oder sog. Heranwachsenden geeignet und erforderlich sind (§ 52 SGB VIII). Leistungen der Jugendhilfe sind zu erbringen, sofern die formellen und materiellen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB VIII (nicht JGG!) vorliegen. Das JA muss diese Prüfung vornehmen und kann nicht vom Jugendrichter zur Durchführung einer Betreuung oder anderen Maßnahmen angewiesen werden.
2.1.2.2 Verhältnismäßigkeit
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet und hat Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 19, 348; 65, 54; 70, 286; 76, 50; 77, 334; 104, 347), und zwar auch im Hinblick auf die EU-Grundrechtecharta, wie der EuGH zuletzt in seiner geradezu historischen Entscheidung zum Sozialdatenschutz unter besonderer Hervorhebung des Verhältnismäßigkeitsgebots deutlich gemacht hat (EuGH C-293 / 12 u. C-594 / 12 – 08.04.2014; s. a. I-5 u. III-1.2.3). Er ist geradezu das vornehmste Prinzip der Rechtsanwendung in einer rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft und bei allen Entscheidungen, Handlungen etc. der öffentlichen Hand (Staat, Kommune, öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungsträger) immer (in jeder logischen Sekunde) zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung kommt ihm bei Eingriffen in die Freiheitssphäre der Betroffenen (zum Strafrecht vgl. IV-1.2) und bei Ermessensentscheidungen zu (vgl. 3.4.2). Auch (scheinbar) vom Wortlaut eines Gesetzes gedeckte Maßnahmen und (Ermessens-) Entscheidungen sind rechtswidrig, wenn sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Bei jeder „hoheitlichen“ Entscheidung und Maßnahme ist zu prüfen, ob diese geeignet, erforderlich und angemessen ist.
Geeignetheit
■ Geeignetheit: Maßnahmen und Leistungen sind nur zulässig, wenn sie geeignet sind, den vom Gesetz angestrebten Zweck zu erreichen. Sofern der Gesetzgeber (anders als z. B. in § 1 SGB VIII) den Zweck nicht selbst ausdrücklich formuliert hat, werden über die Frage, was die richtige Entscheidung oder die geeignete Maßnahme ist, oft unterschiedliche Auffassungen bestehen, die vom fachlichen und politischen Vorverständnis der Beteiligten abhängen (z. B. Geeignetheit von freiheitsentziehenden Maßnahmen für die angestrebte Legalbewährung im Hinblick auf die extrem hohen Rückfallziffern nach Vollzug der Freiheitsstrafe, vgl. OLG Schleswig NStZ 1985, 475). Gleichwohl darf die Entscheidung nicht nur auf Meinungen basieren, rechtliche Entscheidungen dürfen nicht „am grünen Tisch“ losgelöst von den empirisch nachweisbaren Zusammenhängen der Lebenswelt getroffen werden. Im Rahmen der Entscheidungsfindung müssen vielmehr die „außerrechtlichen“ Wirklichkeiten anerkannt werden.
Erforderlichkeit
■ Erforderlichkeit: Kann ein bestimmtes Ziel durch verschiedene, allesamt geeignete Vorgehensweisen erreicht werden, so darf nur diejenige ausgewählt werden, die die Betroffenen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt und zur Erreichung des Ziels unerlässlich ist. Die Intervention darf im Hinblick auf das gesetzliche Ziel weder überflüssig sein noch durch ein weniger einschneidendes, aber auch geeignetes Mittel erreicht werden können („So wenig wie möglich, so viel wie nötig“; zur sog. Subsidiarität staatlicher Interventionen s. a. 2.1.3). Bei der Auswahl der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten muss eine Verwaltung bewusst die Vor- und Nachteile der verschiedenen geeigneten Möglichkeiten abwägen und dann das am wenigsten einschneidende Mittel ergreifen.
Beispielsweise darf die Polizei nicht den sofortigen Abbruch einer Musikveranstaltung in einem Jugendheim verlangen, wenn es zur Vermeidung der Lärmbelästigung der Nachbarn ausreicht, die Fenster des Veranstaltungsraumes zu schließen. Sind in einer Heimeinrichtung im Hinblick auf die in ihr betreuten Kinder Mängel aufgetreten, so soll die Einrichtung zunächst beraten werden, wie die Mängel abgestellt werden können. Reicht das nicht aus, um die Mängel abzustellen, können und müssen zunächst (geeignete) Auflagen erteilt werden, bevor die Betriebserlaubnis widerrufen und das Heim geschlossen werden darf (vgl. § 45 Abs. 3 SGB VIII).
Angemessenheit
■ Angemessenheit: Der Nachteil, der durch eine geeignete und an sich erforderliche Intervention entsteht, darf nicht erkennbar in grobem Missverhältnis zu dem angestrebten und erreichbaren Erfolg stehen. Die Grenzen staatlicher Handlungen sind durch Abwägung der in Betracht kommenden Interessen der Betroffenen und des Gemeinwesens bzw. der öffentlichen Verwaltung zu ermitteln. Die öffentlichen Interessen müssen umso bedeutender und ihre Verwirklichung umso dringlicher sein, je stärker der Eingriff in eine geschützte Rechtsstellung wirkt.Ausdrücklich formuliert ist dieser Grundsatz z. B. in § 112 StPO: Danach darf die Untersuchungshaft trotz Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und obwohl ein Haftgrund besteht nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht (zu den Grenzen der strafrechtlichen Zwangsmaßnahmen s. IV-3.3.1).
Die Polizei darf zur Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten nicht von der Schusswaffe Gebrauch machen, auch wenn dies das einzige geeignete Mittel wäre, diese zu verhindern. Bei der Entscheidung über die geschlossene Unterbringung eines psychisch kranken Straftäters sind das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Einzelnen gegeneinander abzuwägen. Hierbei ist es erforderlich, detailliert darzulegen, aufgrund welcher konkreten Tatsachen und mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gefahr weiterer schwerer Straftaten besteht und aus welchen Gründen ambulante Hilfen außerhalb des Maßregelvollzuges nicht ausreichen (BVerfG NJW 1993, 778). Die geschlossene Unterbringung einer Person, die weder sich noch andere gefährdet, ist ungeachtet der scheinbar weitreichenden Rechtsgrundlage (§§ 1631b, 1906 BGB) unverhältnismäßig. Im Fall Gustl Mollath haben dies Gerichte und Ärzte missachtet. Das BVerfG (2 BvR 371 / 12 BvR – 26.08.2013) hat den Unterbringungsbeschluss des OLG Bamberg vom 26.08.2011 als unzureichend eingestuft, da das Gericht nicht ausreichend belegt und konkretisiert habe, warum von Mollath angeblich weiter die Gefahr künftiger rechtswidriger Taten ausgehe. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete es zudem, die Unterbringung nur solange zu vollstrecken, wie der Zweck der Maßregel dies unabweisbar erfordere und weniger belastende Maßnahmen nicht genügen. Im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung hat der EuGH betont, dass die Speicherung von (Kommunikations-)Daten auf Vorrat nur auf das „absolut Notwendige“ sowie auf einen Personenkreis zu begrenzen ist, der in irgendeiner Weise in eine schwere Straftat verwickelt sein könnte (EuGH C-293 / 12 u. C-594 / 12 – 08.04.2014; EuGH C-203 / 15 u. C-698 / 15 – 21.12.2016; s. a. III-1.2.3).
So knapp und geradezu einfach das Verhältnismäßigkeitsgebot auf den drei Stufen ausformuliert ist, so schwer scheint es Behörden bzw. öffentlichen Trägern mitunter zu fallen, die Grenzen staatlicher Befugnisse an dieser Grenze auszurichten, wie zahlreiche Entscheidungen des BVerfG und der europäischen Gerichte (EGMR und EuGH) dokumentieren. Es geht also nicht nur darum, jeweils den bloßen Wortlaut eines Gesetzes umzusetzen bzw. einzuhalten, sondern den freiheitlich-bürgerfreundlichen Gehalt der (europäischen und grundgesetzlichen) Rechtsordnung zu erkennen und mit einer entsprechenden Haltung gegenüber dem Bürger umzusetzen. Dies ist insb. auch für die Soziale Arbeit im Hinblick auf das asymmetrische Verhältnis zu ihren Klienten von besonderer Bedeutung. Das Verhältnismäßigkeitsgebot wird mitunter auch als Übermaßverbot („Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“; „Die Kirche im Dorf lassen“) bezeichnet, wobei dieser Aspekt vor allem im Hinblick auf die zweite und dritte Ebene des Verhältnismäßigkeitsgebots, also die Erforderlichkeit (im engeren Sinne) und die Angemessenheit hoheitlicher Maßnahmen, relevant ist.
Im Rahmen der Gesetzgebung hat der Gesetzgeber einen weiten (politischen) Bewertungs- und Entscheidungsspielraum. Freilich müssen auch hier im Hinblick auf die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, mithin die Auswirkungen neuer Regelungen, stets die zu dieser Zeit verfügbaren empirischen Fakten und fachlichen Beurteilungen berücksichtigt werden. Stellt sich die Bewertung empirisch als falsch heraus, muss die Regelung für die Zukunft unter Berücksichtigung eines Anpassungs- und Übergangszeitraums korrigiert werden (BVerfGE 25, 13, 17; 50, 335; 95, 314).
Während der abwehrende („negative“) Aspekt des Verhältnismäßigkeitsgebots zur Begrenzung von Eingriffen und zur Zurücknahme des staatlichen Kontrollzugriffs verpflichtet, beinhaltet seine positive Seite die Verpflichtung des Staates, den Einzelnen hilfreich zu unterstützen, wenn seine Ressourcen und Kompetenzen zur sozialadäquaten Lebensbewältigung nicht ausreichen. In dieser Ausprägung spricht man vom Verhältnismäßigkeitsgebot zumeist als Subsidiaritätsprinzip (hierzu 2.1.3).
2.1.2.3 Rechtsschutzgarantie und Justizgewährungsanspruch
Justizgewährleistungsanspruch/-pflicht
Nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG steht jedem der Rechtsweg zu einem Gericht offen, wenn er durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Ob das der Fall ist, haben dann letztlich die Gerichte zu prüfen (zur Rechtskontrolle vgl. ausführlich I-5). Damit verknüpft und aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet ist der sog. Justizgewährleistungsanspruch des Bürgers, zur umfassenden Wahrung seiner Rechte die staatlichen Gerichte in Anspruch nehmen zu können und von diesen eine Entscheidung in der Sache treffen zu lassen (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK). Dem entspricht (insb. mit Blick auf das Rechtsprechungs- und Gewaltmonopol des Staates sowie das Selbsthilfeverbot für den Bürger) auf der anderen Seite die Pflicht des Staates, für alle Rechtsverletzungen und Rechtsstreitigkeiten den gerichtlichen Schutz zur Verfügung zu stellen (Justizgewährleistungspflicht).
2.1.2.4 Gleichheitsgebot und Willkürverbot
Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Das Gleichheitsgebot ist im Rechtsstaat nicht als Gebot sozialer Gleichheit ausformuliert, sondern nur als Gleichbehandlung nach dem Gesetz. Das Gleichheitsgebot des GG überwindet deshalb nicht das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit (vgl. 1.2). Rechtspositivistisch gesehen verbietet das Recht – wie es der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France (1844 – 1924) formuliert hat – in seiner „majestätischen Gleichheit Reichen wie Armen unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen“ (France 1919, 112).
Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt nicht, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes (s. Übersicht 8) ist nur verletzt, wenn der Staat einen Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten ungleich (und damit ungerecht und unfair) behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (Verbot der Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte, vgl. BVerfGE 74, 9 ff.). Deshalb hat das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 3 GG schon vorweg festgelegt, dass der Staat niemanden aufgrund des Geschlechts, seiner Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen oder politischen Ansichten benachteiligen oder bevorzugen darf. Insoweit ist also eine unterschiedliche Behandlung durch staatliche Instanzen nicht gerechtfertigt.
Racial Profiling
Dies betrifft auch das sog. Racial Profiling (vgl. Cremer 2013, 11 f., 16 ff.). Hierbei handelt es sich um polizeiliche Personenkontrollen ohne Vorliegen eines Straftatverdachts, u. a. im Rahmen von §§ 22 Abs. 1a, 23 Abs. 3 BPolG, die nach äußerem Erscheinungsbild, insb. nach der Hautfarbe der Betroffenen, vorgenommen werden, damit aber gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen (OVG Rh-Pf 7 A 10532 / 12 – 29.10.2012).
Der Gleichheitsgrundsatz verbietet der Verwaltung jedes willkürliche Verhalten, d. h. nicht nur die nicht durch sachliche Unterschiede gerechtfertigte Ungleichbehandlung gleicher, sondern auch die nicht durch zulässige sachliche Gründe begründete Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände. Grob ausgedrückt: Gleiches soll gleich, Ungleiches kann und soll unterschiedlich behandelt werden. Beispielsweise verstößt die finanzielle Förderung einer (juristischen) Person, die anders als andere Leistungsempfänger die aufgestellten, z. B. landesrechtlichen, Förderrichtlinien nicht erfüllt, gegen Art. 3 GG. Hierin liegt freilich gleichzeitig ein Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes. Ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung im Rahmen von Ermessensentscheidungen ist gegeben, wenn z. B. aufgrund eines im Haushaltsplan vorgesehenen Budgettitels eine Reihe von Antragstellern Zuwendungen erhalten haben (z. B. für Altenerholung, Mitarbeiterschulung), der Betrag aber verbraucht ist und nun andere leer ausgehen.
Mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist allerdings ausdrücklich auch die Möglichkeit eröffnet, mittels sog. positiver Maßnahmen (zuweilen wird auch, semantisch sicher wenig überzeugend, von „positiver Diskriminierung“ gesprochen) bestehende Ungleichheiten zu beseitigen (z. B. Frauenquoten). In ähnlicher Weise verbietet Art 3. Abs. 3 S. 2 GG nicht nur die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung, sondern erlaubt i. V. m. § 1 BGG eine bevorzugte Berücksichtigung von Bewerbern mit Behinderung auf einen Arbeitsplatz bei gleicher Eignung.
Die unterschiedliche Förderung von Familien (z. B. im Hinblick auf die kostengünstigere Teilnahme an Familienfreizeiten nach § 16 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII) durch das städtische JA aufgrund der Anzahl der Kinder oder von allein oder gemeinsam erziehenden Eltern kann durchaus mit Art. 3 GG vereinbar sein. Wenn ein städtisches Jugendzentrum seine Räume unterschiedlichen Jugendgruppen für deren (Vereins-)Treffen und Aktivitäten zur Verfügung stellt, darf der Antrag einer Gruppe von rechtsradikalen Jugendlichen auf Überlassung von Räumen für eine „Pogo-Party in geschlossener Gesellschaft“ nicht allein mit Bezug auf ihre verquere politische Weltanschauung abgelehnt werden. Eine Ablehnung wäre aber im Hinblick auf Art. 3 GG zulässig, wenn bei den früheren Veranstaltungen der Gruppe – und anders als bei anderen Gruppen – besonders viel Mobiliar zu Bruch ging, strafbares Verhalten angekündigt wird oder das JA generell Tanzveranstaltungen im Jugendzentrum mangels Interesses nicht mehr zulassen will.
Die von verschiedenen Gerichten gebilligte Behördenpraxis, die davon ausgeht, dass ein einmaliger Cannabiskonsum Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen begründet und die Einholung eines tief in den Persönlichkeitsbereich eingreifenden medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigt, während bei alkoholauffälligen Kraftfahrern ein derartiges Gutachten erst „nach wiederholten Verkehrszuwiderhandlungen unter Alkoholeinfluss“ eingeholt wird, hält das BVerfG für sachlich nicht gerechtfertigt (BVerfG 24.06.1993 – 1 BvR 689 / 92). In einer anderen Entscheidung hat das BVerfG (9.03.1994 – 2 BvL 43 / 92, 2 BvR 2031 / 92) aber im Hinblick auf die Strafbarkeit des Drogenbesitzes entschieden, dass Art. 3 GG es nicht gebiete, alle potenziell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen, weshalb der Gesetzgeber den Umgang mit Cannabisprodukten einerseits, mit Alkohol oder Nikotin andererseits unterschiedlich regeln dürfe (zum Drogenstrafrecht s. IV-2.3.5).
Selbstbindung der Verwaltung
Grds. ist eine Verwaltung nur an gesetzliche Vorschriften gebunden, nicht an interne Verwaltungsvorschriften (1.1.3.6). Eine Bindung der Verwaltung tritt aber auch dann ein, wenn durch Verwaltungsvorschriften festgelegt ist, wie ein Ermessensspielraum ausgefüllt werden soll. Insoweit muss die Verwaltung alle Bürger, die die gleichen Voraussetzungen mitbringen, gleich behandeln. Von einer derartigen von Art. 3 GG geforderten Selbstbindung kann die Behörde aber abweichen, wenn sie beabsichtigt, ihre Entscheidungen im Rahmen ihres Ermessensspielraumes künftig an anderen Gesichtspunkten zu orientieren.
Aus dem Gleichheitsgrundsatz kann nicht abgeleitet werden, dass die Behörde, die durch pflichtwidriges Verhalten einen oder mehrere Beteiligte begünstigt hat, in gleicher Weise auch in Zukunft rechtswidrig verfährt: keine Gleichheit im Unrecht (vgl. z. B. im Hinblick auf die Einberufung von Wehrpflichtigen BVerwG NJW 72, 1483 f.).
Das Gleichheitsgebot richtet sich wie alle Grundrechte unmittelbar nur an alle Hoheitsträger, also öffentliche Institutionen und Einrichtungen, Verwaltungen und Dienste, entfaltet jedoch eine sog. mittelbare Drittwirkung (s. u. 2.2.4) letztlich im Hinblick auf die durch § 138 BGB geschützte, herrschende Rechts- und Sozialmoral („ethisches Minimum“; vgl. 1.1.2).
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Inzwischen wurde das Gleichbehandlungsgebot bzw. Diskriminierungsverbot explizit auf andere Regelungsbereiche ausgeweitet. Dies geschah durch das am 18.08.2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), mit dem entsprechende EU-Richtlinien (s. 1.1.5.1) umgesetzt wurden (hierzu Däubler / Bertzbach 2013). Das Gesetz enthält v. a. Regelungen, die sich an private ArbGeb richten (§§ 6 ff.AGG; hierzu IV-3.2 u. IV-3.4.1), aber auch solche, nach denen das Diskriminierungsverbot in bestimmten Bereichen des Zivilrechts zu beachten ist. Ziel des Gesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse (eine sicherlich höchst umstrittene Wortwahl, die aber auf Art. 2 AEMR aus dem Jahr 1948 zurückgeht) oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG). Allerdings gilt das Benachteiligungsverbot im Zivilrecht nach § 19 Abs. 1 AGG nur eingeschränkt und zwar nur bei sog. Massengeschäften, d. h. Rechtsgeschäften, die typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen bzw. bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen, sowie Rechtsgeschäften, die eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben. Unter Massengeschäfte im Sinne des Gesetzes fallen der Besuch von Gaststätten und Diskotheken (vgl. AG Hannover 462 C 10744 / 12 – 14.08.2013; AG Bremen 20.02.2011 – 25 C 0278/10) oder anderen Freizeiteinrichtungen, der alltägliche Einkauf im Einzelhandel, die Buchung einer Pauschalreise, der Frisörbesuch, der Geschäftsabschluss mit dem Gebrauchtwagenhändler oder die Inanspruchnahme von Personenbeförderungsunternehmen.
Übersicht 8: Anwendung des Gleichheitsgebotes des Art. 3 GG
Keine Anwendung findet das Gesetz auf Verträge, bei denen ein besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis zwischen den Vertragspartnern begründet wird (§ 19 Abs. 5 S. 1 AGG). Kreditverträge sollen deshalb nicht unter das Verbot der Ungleichbehandlung fallen, weil hier die individuelle Kreditwürdigkeit des Kreditnehmers eine ausschlaggebende Rolle spielt (im Einzelnen vgl. Degener et al. 2008, 293). Zudem benennt § 20 AGG einzelne Fallgruppen, in denen eine unterschiedliche Behandlung aus „sachlichen Gründen“ (z. B. Verhinderung von Gefahren, Schutz der Intimsphäre, Gewährung besonderer Vorteile, vgl. auch § 5 AGG) zulässig ist. Bei privaten Versicherungen ist dies bspw. der Fall, wenn für bestimmte Gruppen (Schwangere, Behinderte, besonders junge und ältere Menschen o. Ä.) versicherungsmathematisch ein statistisch höheres Schadenseintrittsrisiko vorliegt (§ 20 Abs. 2 AGG). Allerdings hat der EuGH (hierzu 5.1) die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Versicherungstarifen beanstandet und die Einführung sog. Unisex-Tarife gefordert (EuGH C-236 / 09 – 01.03.2011).
Eine Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft ist darüber hinaus auch bei der Begründung, Durchführung und Beendigung sonstiger zivilrechtlicher Schuldverhältnisse unzulässig, die den Sozialschutz, einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste, die sozialen Vergünstigungen, die Bildung bzw. den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum, zum Gegenstand haben. Hierzu dürften Arztverträge ebenso gehören wie Angebote von Hausaufgabenhilfen von Vereinen oder von betreuten Wohnformen durch private Träger. Für öffentliche Sozialleistungsträger, auch soweit sie sich privater Anbieter zur Leistungserbringung bedienen, gilt Art. 3 GG ohnehin. Die Vermietung von nicht mehr als 50 Wohnungen ist in der Regel kein Massengeschäft (§ 19 Abs. 5 S. 3 AGG). Das AGG richtet sich deshalb grds. nicht an Privatvermieter einzelner Wohnungen, wohl aber an Wohnungsbaugenossenschaften o. Ä. Im Hinblick auf die Vermietung von (Hotel-)Zimmern hat das OLG BB (1 U 4 / 10 – 18.04.2011) entschieden, dass Hotelbetreiber als private Unternehmer – anders als der Staat – nicht zur Gleichbehandlung aller potenziellen Gäste verpflichtet sind und deshalb Personen mit extremer politischer Gesinnung den Zugang verwehren können. Weder das AGG noch entsprechende EU-Richtlinien stünden dem Hausverbot entgegen, da die Weltanschauung nur in Bezug auf Beschäftigung und Beruf, nicht aber im allgemeinen zivilrechtlichen Bereich mit einem besonderen Diskriminierungsverbot versehen sei.
Das AGG beinhaltet somit keine Regelungen, die ganz allgemein im Privatrechtsverkehr eine Diskriminierung verbieten. Bei einer nachgewiesenen ungerechtfertigten Benachteiligung haben die Betroffenen nach dem AGG Beseitigungs-, Unterlassungs- und ggf. Schadensersatzansprüche, die innerhalb einer Frist von zwei Monaten geltend gemacht werden müssen (§ 21 AGG). Obwohl die Beweislast für die Betroffenen erleichtert ist (§ 22 AGG: Beibringen von Indizien, aber keine Beweislastumkehr) wird es mangels schriftlicher Unterlagen (z. B. einer Stellenausschreibung) häufig schwer sein, eine Benachteiligung darzulegen und den „eigentlichen“ Grund für die als unzulässig angesehene Diskriminierung festzustellen. Zudem hat das BAG zuletzt entschieden, dass die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes nur besteht, wenn Indizien vorliegen, die mit „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ darauf schließen lassen, dass ein in § 1 AGG genannter Grund tatsächlich ursächlich für die Benachteiligung war (BAG 26.01.2017 - 8 AZR 736/15).
2.1.3 Sozialstaatsprinzip
Auch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 und 28 GG) ist eine der wesentlichen, nicht veränderbaren Grundentscheidungen der deutschen Verfassung (Art. 79 Abs. 3 GG). Verfassungsrechtlich handelt es sich beim Sozialstaatsprinzip um eine sog. Staatszielbestimmung. Sie verpflichtet den Staat, für soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage der Achtung der Menschenwürde zu sorgen, widerstreitende Interessen auszugleichen und erträgliche Lebensbedingungen herzustellen (vgl. BVerfGE 82, 60, 85). Ziel ist die Herstellung sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit (vgl. § 1 SGB I). Das BVerfG und die übrige höchstrichterliche Rechtsprechung haben aus der Menschenwürdegarantie und dem Sozialstaatsprinzip u. a. die Verpflichtung aller staatlichen Organe abgeleitet:
■ für einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten und Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (Gebot der sozialen Gerechtigkeit, BVerfGE 22, 180, 204; 35, 348, 355 f.), insb. Chancengleichheit für sozial Benachteiligte zu schaffen (BVerfGE 56, 1393);
■ für eine annähernd gleichmäßige Verteilung der öffentlichen Lasten zu sorgen, insb. sollen Lasten der staatlichen Gemeinschaft nicht zufällig von einzelnen Bürgern oder bestimmten Personenkreisen getragen werden (Lastenausgleichsgebot; vgl. BVerfGE 5, 85, 198 f.; 27, 253);
■ jedem mittellosen Bürger das Existenzminimum erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu sichern (vgl. BVerfGE 82, 60) und dem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zur Höhe des Existenzminimums nicht (durch Steuern) zu entziehen (BVerfG NJW 1990, 2869);
■ Menschen, die materielle, gesundheitliche oder psychosoziale Probleme haben und sich nicht selbst helfen können, Hilfe zukommen zu lassen (BVerfG NJW 1977, 1489);
■ insbes. schwächeren Mitbürgern „zur Erlangung und Wahrung der ihnen vom Gesetz zugedachten Rechte nach Kräften beizustehen“, denn im sozialen Rechtsstaat sind die Amtsinhaber nicht nur Vollstrecker staatlichen Willens und nicht nur Diener des Staates, sondern zugleich auch „Helfer des Bürgers“(BGH NJW 1965, 1227);
■ zur Berechnung der im Rahmen der Sozialhilfe gewährten Regelleistungen, insb. für Kinder, den notwendigen Bedarf in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu ermitteln. Zudem muss der Gesetzgeber, neben der Deckung des typischen Bedarfs zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag, für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen (BVerfG 1 BvL 1 / 09 – 09.02.2010).
Allerdings ist der Sozialstaatsgrundsatz inhaltlich nicht konkretisiert. Er enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne zusätzliche gesetzliche Grundlage umgesetzt werden könnten (BVerfGE 65, 182, 190). Der einzelne Bürger kann deshalb aus dem Sozialstaatsprinzip grds. keine Ansprüche auf konkrete Leistungen ableiten (vgl. § 2 Abs. 1 S. 2 SGB I). Vielmehr ist es – gemäß dem Demokratieprinzip – Aufgabe des Gesetzgebers, das Sozialstaatsprinzip durch gesetzliche Normen zu konkretisieren und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 33, 303, 333; 69, 272). Deshalb wurde im SGB I die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit zu einer grundlegenden staatlichen Aufgabe gemacht. Das Sozialstaatsprinzip hat also zunächst Steuerungsfunktion für die Sozialgesetzgebung. Ausfluss des Sozialstaatsprinzips sind insoweit z. B.:
■ die im SGB geregelten Ansprüche auf staatliche Leistungen,
■ im Arbeitsrecht z. B. die Kündigungsschutzvorschriften, das Mutterschutz-, Schwerbehinderten- und Jugendarbeitsschutzgesetz,
■ im Wohnungs- und Mietrecht ebenfalls die Kündigungsschutzvorschriften sowie die Regelungen über Wohnungsbaudarlehen oder die Berechtigung zum Bezug von Sozialwohnungen,
■ in der Steuergesetzgebung z. B. die steuerliche Freistellung des Existenzminimums oder die Steuerbegünstigung gemeinnütziger Vereinigungen.
Darüber hinaus muss die Verwaltung das Sozialstaatsprinzip als bindende Auslegungsregel (hierzu 3.3.2) sowie bei der Anwendung von Ermessensvorschriften beachten.
Subsidiaritätsprinzip
Das Gebot der Menschenwürde schließt die abhängig machende Totalversorgung und eine fürsorgerische Belagerung durch den Staat aus. In neuerer Zeit spricht man von dem „Leitbild des aktivierenden Sozialstaates“, der die Förderung und Befähigung des Einzelnen zur Übernahme von Eigenverantwortung unter dem Schlagwort des „Förderns und Forderns“ zum Ziel hat. Traditioneller spricht man hier vom Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“, vom Nachrang- oder Subsidiaritätsprinzip. Im weiten, grundsätzlichen Sinne geht es dabei um das Verhältnis von Bürger und Staat überhaupt. Im engeren Sinne geht es um das Verhältnis freier Träger (= Bürger) zu öffentlichen Trägern (= Staat). Der Subsidiaritätsgedanke ist zunächst Kern des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Bei staatlichen Interventionen muss stets geprüft werden, ob diese nicht nur geeignet, sondern auch notwendig sind (s. 2.1.2.2). Das gilt für Hilfeleistungen ebenso wie bei Eingriffen. Die Intervention des Staates ist nicht erforderlich, wenn und soweit die Bürger sich selbst helfen können. Selbst wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind, bleiben sie vollwertige Rechtssubjekte, deren Würde unangetastet bleibt und bleiben muss. Ein fürsorgerisch-entmündigender Umgang mit hilfebedürftigen Menschen ist nicht nur unsozial und fachlich inadäquat, sondern auch verfassungswidrig. Nicht alles, was nützt, ist auch erlaubt. Hilfe muss aus ethischen, sozialpädagogischen wie rechtlichen Gründen immer Hilfe zur Selbsthilfe sein. Im Hinblick auf den Nachrang staatlicher Hilfe und den Vorrang der Hilfe zur Selbsthilfe kann man also in Anknüpfung an das Verhältnismäßigkeitsgebot in der Sprache der Sozialen Arbeit formulieren: so selbstständig, so viel Eigenverantwortung und Freiraum wie möglich, deshalb so wenig Hilfe wie möglich, aber so viel Hilfe wie nötig.
Während der abwehrende („negative“) Aspekt des Subsidiaritätsgedankens zur Zurücknahme des staatlichen Kontrollzugriffs verpflichtet, beinhaltet seine positive Seite aber immer auch die Verpflichtung des Staates, dem Bürger helfend zur Seite zu stehen, wenn seine eigenen Kräfte nicht ausreichen. Denn wenn der Sozialstaat nur die Aktivierung des Einzelnen forderte, ohne seinerseits entsprechende Unterstützungssysteme bereitzustellen oder gar die mangelnde Bereitstellung, das Wegbrechen und den Abbau integrativer Sozialleistungen durch eine verstärkt ordnungsrechtliche Sozialkontrolle kompensierte, wären dies die düsteren Zeichen des Wandels vom leistenden Sozialstaat zum strafenden Staat (Bettinger / Stehr 2009, 252 ff.; Wacquant 2009, 292).
Verhältnis öffentlicher und freier Träger
Wird aus dem Subsidiaritätsgebot mit Blick auf den Leistungsempfänger das Gebot der Hilfe zur Selbsthilfe und das Prinzip der Nachrangigkeit (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII) begründet, so beinhaltet es andererseits einen grundsätzlichen Betätigungsvorrang der freien Träger (s. 4.1.2.2) vor den öffentlichen Sozialleistungsträgern (vgl. z. B. § 4 Abs. 2 SGB VIII, § 5 Abs. 4 SGB XII). Im Hinblick auf das Verhältnis von öffentlichen und freien Trägern muss allerdings auch festgehalten werden, dass das BVerfG in seiner Entscheidung von 1967 (BVerfGE 22, 180 f.) – übrigens ohne das Wort Subsidiaritätsprinzip zu erwähnen – von einer „durch Jahrzehnte bewährten Zusammenarbeit von Staat und freien Verbänden“ ausgegangen ist (sog. Korporatismus), eine Existenz wahrende Bestandsgarantie öffentlicher Einrichtungen formuliert sowie auf die Planungs- und Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger für die Bereiche der Jugendhilfe und Sozialhilfe hingewiesen hat (vgl. hierzu ausführlich Münder 1998).
System der sozialen Sicherung
Das System der sozialen Sicherung in Deutschland ist im Sozialrecht (hierzu III-1) geregelt und besteht im Wesentlichen aus vier Säulen, die unterschiedlichen Prinzipien folgen und sich im Hinblick auf Inhalt und Rechtsgrund der Leistung, den Bereichen und Trägern der Leistungen unterscheiden (s. Übersicht 9):
■ der Vorsorge durch die Sozialversicherungssysteme,
■ dem Versorgungssystem,
■ dem Förderungssystem,
■ dem Hilfesystem.
Die Bedeutung des Sozialleistungsbereichs für die Volkswirtschaft ist immens. Die Leistungen des Sozialbudgets insgesamt beliefen sich Ende 2012 für Deutschland auf rund 760 Mrd. Euro. Das Verhältnis von Sozialleistungen zum Bruttoinlandsprodukt – die Sozialleistungsquote – hat sich allerdings von 31,3 % im Jahr 2009 auf 30,4 % im Jahr 2013 abgesenkt (vgl. www.destatis.de ➝ Sozialbudget) und ist damit niedriger als einige Jahre davor (z. B. 2000: 33,6 % bei insg. 681 Mrd. Euro; 2001: 33,8 % bei insg. 702 Mrd. Euro). Den größten Bereich machen die Renten aus, wie sich aus der nachfolgenden Aufstellung der Sozialleistungen nach Funktionen (ohne Verwaltungsausgaben) ergibt (vgl. www.destatis.de 8 / 2013):
■ Alter und Hinterbliebene: 292,7 Mrd. Euro
■ Krankheit und Invalidität: 294,74 Mrd. Euro
■ Arbeitslosigkeit: 42,3 Mrd. Euro
■ Kindergeld- und Familienleistungsausgleich: 41,5 Mrd. Euro
■ Kinder- und Jugendhilfe: 27,8 Mrd. Euro (2011), davon 18,5 Mrd. für KiTa und 7,8 Mrd. für erzieherische Hilfen und Schutzmaßnahmen
■ Sozialhilfe: 22,7 Mrd. Euro (2011)
Zur Menschenwürde gehört mehr als die bloße Absicherung gegen die existenziellen Lebensrisiken wie Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit, Alter oder Arbeitslosigkeit. Zum Sozialstaat des Grundgesetzes gehört, dass er zu Bedarfsgerechtigkeit und Chancengleichheit beiträgt. Die Bedeutung des Sozialstaats besteht in diesem Sinne auch wesentlich darin, zur Verteilungsgerechtigkeit beizutragen (BMGS 2005, 3).
2.2 Grundrechte
2.2.1 Geschichtliches – begriffliche Einordnung
Grundrechte und Menschenrechte
Die Idee der Grundrechte wird häufig aus naturrechtlichen Vorstellungen abgeleitet. „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür)“, so lesen wir bei Immanuel Kant, sei das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ (1797, 345). Kant formuliert hiermit nicht mehr und nicht weniger als den Ursprungsgehalt der Menschenrechte, die uns geschichtlich etwa in Gestalt der Virginia Bill of Rights von 1776, der amerikanischen Verfassung von 1787 und vor allem der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.08.1789 entgegentreten. Heute finden wir diese Idee in der AEMR, den beiden Menschenrechtspakten und einer Vielzahl weiterer internationaler Konventionen vor (hierzu: 1.1.2).
Freiheit vor dem Staat
Zum Wesen der Grundrechte gehört jedoch nicht nur ihr freiheitlicher Gehalt als solcher, sondern gleichermaßen auch ihre Gerichtetheit gegen potenzielle Bedrohungen eben dieses Freiheitsgehaltes durch staatliche Intervention. Dies wird in der naturrechtlichen Perspektive anhand der vertragstheoretischen Argumentation des englischen Staatsdenkers John Locke entwickelt.
Übersicht 9: System der sozialen Sicherung in Deutschland
Vertragstheorie
Die Vertragstheorie macht geltend, dass der Einzelne, da ihm als vereinzeltem Individuum keine Möglichkeiten eines effektiven Schutzes seines Freiheitsrechts zu Gebote stehen, darauf angewiesen sei, mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft eine Übereinkunft über einen Zusammenschluss zum Zwecke der Freiheitssicherung zu treffen. Dies sei zugleich der Gründungsakt einer staatlichen Gewalt, an die dann also das Recht zu Gesetzgebung und Gesetzesausführung übertragen werde. Nun können aber nach einer derartigen Konstruktion die Einzelnen nichts auf die Staatsgewalt übertragen, worüber sie selbst nicht verfügen. Da ihnen jedoch, wie bei Kant gesehen, insb. kein Recht auf Eingriff in die Freiheitsrechte des anderen zustehe, könne demzufolge auch der Staat ein derartiges Recht nicht für sich beanspruchen (Locke 1689, 264 ff., 289 ff.).
Soziokulturelle Bedingtheit von Grundrechten
Freilich ist diese Theorie, wie auch alle anderen Varianten eines Gesellschaftsvertrages, nie etwas anderes als ein idealtypisches Erklärungsangebot gewesen; sie war nirgendwo und zu keinem Zeitpunkt geschichtliche Realität. Nehmen wir daher neben der ethischen Begründung auch die konkreten geschichtlichen Veranlassungen der Grundrechtsfrage mit in den Blick, dann fällt mindestens zweierlei auf. Zum einen nämlich erfolgt die Formulierung von Grundrechten in Gestalt positiven Rechts in aller Regel in engem zeitlichen Zusammenhang mit großen gesellschaftlichen Umbrüchen. Die weltgeschichtlichen Beispiele hierfür sind bereits genannt. Jürgen Habermas erinnert in diesem Zusammenhang aber auch noch einmal an den Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR vom April 1990, dessen sehr ausführlichen Grundrechtsteil er als eine „implizite Zeitdiagnose“ versteht (Habermas 1992, 468). Bereits dies spricht für eine jeweils konkrete soziokulturelle Ausformung des universellen freiheitlichen Gehalts der Grundrechte. Hinzu kommt jedoch, dass sich auch der universelle Grundgehalt selbst durchaus jenseits metaphysischer Grundannahmen genauer erklären lässt. Bereits John Locke (1689, 283) formulierte nämlich in dankenswerter Klarheit: „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.“
Nun ist einerseits das Eigentum die Grundlage der privaten bürgerlichen Existenz schlechthin und damit insofern nur ein besonderer Ausdruck für Freiheit. Andererseits kann diese Grundlage des Privaten eben, wie gesehen, einzig durch das Öffentliche, den Staat, abgesichert werden. Öffentliches und Privates sind demnach keinesfalls einfach nur zwei „Sphären“, die innerhalb der Gesellschaft irgendwie nebeneinander bestehen, wie dies so häufig verkürzt, und damit unzutreffend, dargestellt wird. Sie existieren in Wirklichkeit vielmehr innerhalb eines sehr spannungsvollen inneren Verhältnisses zueinander. Die Grundrechte sind Ausdruck genau dieser Spannung. Sie sind daher im Ergebnis trotz ihrer nicht zu bezweifelnden universellen ethischen Begründbarkeit jedenfalls nicht abschließend als vor- oder überrechtlich vorgegeben, sondern immer nur in einer geschichtlichen Ausprägung innerhalb einer jeweiligen Gesellschaft erklärbar.Als positiv gesetztes Recht unterliegen sie somit permanenten inhaltlichen und funktionalen Entwicklungen. Auf paradigmatische Weise wird dies u. a. in aktuellen politischen und verfassungsrechtlichen Diskursen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit abgebildet (2.2.5).
2.2.2 Überblick
Grundrechtskatalog
In der Rechtsordnung der Bundesrepublik finden sich die Grundrechte in den Art. 1 – 19 GG, dem sog. Grundrechtskatalog. Allerdings formuliert nicht jeder einzelne Satz dieser Vorschriften ein Grundrecht, so z. B. nicht Art. 7 Abs. 1 GG. Andererseits existieren auch außerhalb dieses Katalogs sog. grundrechtsgleiche Rechte, etwa das Recht auf Widerstand, Art. 20 Abs. 4 GG, das Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern, Art. 33 GG, das aktive und passive Wahlrecht, Art. 38 GG, sowie die sog. Justizgrundrechte aus Art. 101, 103, 104 GG (hierzu IV-1.3 u. 3.2). Grundrechtsgleich meint, dass die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt (hierzu 2.2.3) hier in gleicher Unmittelbarkeit besteht wie bei den Rechten des Katalogs sowie dass im Falle ihrer Verletzung ebenso wie bei der Verletzung der „eigentlichen“ Grundrechte Rechtsschutz auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erlangt werden kann (Art. 93 Abs. 4a GG). Systematisiert werden könnten die Grundrechte in vielerlei Hinsicht, etwa hinsichtlich ihrer Funktion, der jeweiligen Grundrechtsträger oder der geschützten Rechtsgüter. Während auf Funktion und Geltung gleich noch zurückzukommen sein wird, bezieht sich die Übersicht 10 im Wesentlichen auf einen Systematisierungsvorschlag von Ipsen (2016).
Grundrechtsberechtigung
Hieran schließt sich die Frage an, welcher Personenkreis durch diese Grundrechte berechtigt wird. Die weitreichendste Antwort könnte lauten: Alle im Geltungsbereich des GG lebenden Menschen. Jedoch gilt dies nicht ohne Einschränkungen. Zunächst unterteilt das GG die Grundrechte in sog. Jedermanns- oder Menschenrechte und sog. Deutschen- oder Bürgerrechte. Jedermannsrechte gelten, wie der Name bereits sagt, tatsächlich für alle Menschen, die dem Geltungsbereich des GG unterliegen, Deutschenrechte hingegen nur für deutsche Staatsangehörige i. S. v.Art. 116 Abs. 1 GG. Wer nun aber durch ein bestimmtes Recht berechtigt wird, kann dessen jeweiliger Formulierung entnommen werden. Es heißt dann: „Jeder hat das Recht …“ (Art. 2 Abs. 1 GG) oder „Niemand darf …“ (Art. 4 Abs. 3 GG) o. Ä. bzw. „Alle Deutschen haben das Recht …“ (Art. 8 Abs. 1 GG). Diese Unterscheidung kann durchaus auch kritisch gesehen werden, da jedes Grundrecht zugleich einen Menschenrechtsgehalt aufweist, der zunächst unverfügbar und nicht relativierbar ist. Nach Auffassung eines Teils der Literatur verlangt daher eine Ungleichbehandlung von Deutschen und Ausländern, wenn sie unter menschenrechtlichem Aspekt Bestand haben soll, eine Rechtfertigung, die allein mit dem Hinweis auf unterschiedliche Schutzbereiche noch nicht erbracht ist (hierzu Pieroth et al. 2015, 38 m. w. N.). Zur Lösung des Problems bietet es sich zwar an, Art. 2 Abs. 1 GG als ein Auffanggrundrecht (hierzu 2.2.4) zu verstehen, das Ausländer auch dann schützt, wenn spezielle Schutzbereiche von Deutschenrechten insoweit für sie nicht gelten. Zudem ließe sich auf Art. 1 Abs. 1 GG sowie auf den Gleichbehandlungsanspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG verweisen. Hierbei muss jedoch gesehen werden, dass dieser Schutz hinter einem vollen Schutz, wie er von den entsprechenden Deutschenrechten ausgeht, regelmäßig zurückbleibt (Pieroth et al. 2015, 38). Bei genauerer Betrachtung liegt dem freilich ein viel tiefer gehendes Problem zugrunde. Denn geschichtlich betrachtet richten sich Grundrechte funktional zunächst auf die Überwindung absolutistischer Herrschaft und die Herausbildung und Absicherung nationalstaatlicher Souveränität (vgl. hierzu Agamben 2001). Mit der Entwicklung der europäischen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert verbunden aber war ein gleichzeitig verlaufender Prozess der ethnischen Homogenisierung und des Ausschlusses von Minderheiten, der im Übrigen teilweise noch bis in die heutige Zeit hinein reicht, wie die Entwicklungen auf dem Balkan, in Ost- und Mittelosteuropa, aber auch in Spanien, Belgien und Großbritannien oder die Diskussionen um den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft für Migranten und deren Nachkommen („ius sanguinis“, vgl. III-7.5) zeigen. Ohne an dieser Stelle weiter auf die Vermittlungen zwischen ethnischer Homogenisierung des Staatsvolkes und Bürgerstatus eingehen zu können, liegt hierin jedenfalls die bis heute folgenreiche Begründung dafür, dass eine entscheidende Frage bei der Inanspruchnahme und dem Schutzumfang von Grundrechten die nach der Staatsbürgerschaft ist.
Übersicht 10: Systematik der Grundrechte
Regelungs- bzw. Schutzbereich | Grundrechtsnormen |
Schutz des Individuums und seiner Privatsphäre | Würde des Menschen, Art. 1 Abs. 1 allg. Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit d. Pers., Art. 2 Abs. 2, 104 Schutz der Privatsphäre, Art. 10, 13 |
Schutz von Ehe und Familie. Kindererziehung. Schulwesen | Schutz der Ehe, Art. 6 Abs. 1 Recht und Pflicht zur Kindeserziehung, Art. 6 Abs. 2 Schutz der Familie und der Mutter, Art. 6 Abs. 3 und 4 Schulwesen, Art. 7 |
Schutz kommunikativen Handelns | Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnisfreiheit, ungestörte Religionsausübung, Art. 4 Meinungs- und Informationsfreiheit, Rundfunk-, Film- u. Pressefreiheit, Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Kunst, Art. 5 Petitionsrecht, Art. 17 Versammlungsfreiheit, Art. 8 Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 u. 2 |
Schutz der Erwerbstätigkeit und des Erworbenen | Freizügigkeit, Art. 11 Berufsfreiheit, Art. 12 Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 Eigentumsfreiheit, Art. 14 |
Allg. Handlungsfreiheit und Gleichheitsrechte | Freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 allg. Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 spezielle Gleichheitsrechte, Diskriminierungsverbot, Art. 3 Abs. 2 u. 3, Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 2 |
Justizgrundrechte | Rechtsweggarantie, Art. 19 Abs. 4 Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Recht auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 Recht auf bestimmte und nichtrückwirkende Strafgesetze, Art. 103 Abs. 2 Verbot der doppelten Bestrafung, Art. 103 Abs. 3 |
Grundrechte mit internationalem Bezug | Verbot des Entzugs der Staatsangehörigkeit, Art. 16 Abs. 1 Auslieferungsverbot, Art. 16 Abs. 2 Recht auf Asyl, Art. 16a Abs. 1 |
Weniger problematisch, so wäre zu vermuten, sollte die weitere Voraussetzung sein, dass Grundrechte nur Lebenden eine Rechtsmacht einzuräumen vermögen. Jedoch hat das BVerfG hier Ausnahmen anerkannt. In seiner Entscheidung zu dem Roman „Mephisto“ von Klaus Mann im Jahr 1971 (BVerfGE 30, 173) billigte es dem zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Schauspieler Gustaf Gründgens einen durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsbereich zu, der vorliegend eine Grenze für die Ausübung des Grundrechts der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG bildete. Darüber hinaus hat es in zwei Entscheidungen zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs aus den Jahren 1975 und 1993 den Staat mit Hinweis auf die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie Art. 1 Abs. 1 GG dazu verpflichtet, für den Schutz des ungeborenen Lebens zu sorgen (BVerfGE 39, 1; 88, 203).
Knüpft man an den Gedanken des grundrechtlichen Schutzes für ungeborenes Leben an, dann ist auch die für Sozialarbeiter / Sozialpädagogen wichtige Frage, ob auch Minderjährige bereits grundrechtsmündig sind, von vornherein entschieden. Denn der Begriff der Menschenrechte knüpft selbstredend an die Rechtsfähigkeit des Menschen an, die mit seiner Geburt eintritt. Deshalb ist nach dem Grundrechtsverständnis des GG, wenn schon das ungeborene Leben, dann erst recht jede natürliche Person, und somit auch das Kind in seiner Individualität, Grundrechtsträger (BVerfG 29.07.1968 – E 24, 119, 144). Dass sich auch im Lebensbereich Minderjähriger Grundrechtsbeschränkungen (etwa im Bereich der Schulpflicht oder des Jugendschutzes) oder Grundrechtskollisionen (etwa mit dem elterlichen Recht auf Erziehung, Art. 6 Abs. 2 GG) geltend machen können, steht dem noch nicht entgegen. Lediglich dass ihre Prozessfähigkeit von einer bestimmten Reife abhängig zu machen ist, die aber auch nicht notwendigerweise erst mit Eintritt in die Volljährigkeit erreicht sein muss (Pieroth et al. 2015, 40 ff.), bedarf in diesem Zusammenhang einer besonderen Erwähnung.
2.2.3 Funktion der Grundrechte
Abwehrrechte
Meinungs- und Pressefreiheit
Wie bereits gesehen, besteht die ursprüngliche Funktion der Grundrechte darin, den Staat aus der Privatsphäre des Bürgers herauszuhalten. Sie sind daher in erster Linie (BVerfG 1 BvR 400 / 51 – 15.01.1958 [Lüth]) und auch zahlenmäßig zum größeren Teil als Abwehrrechte ausgestaltet (Art. 2 Abs. 2 und 3, Art. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 8 – 13, Art. 14 Abs. 1, Art. 16 GG). Einschränkungen der dort definierten Schutzbereiche oder Eingriffe in sie sind nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Grundrechtsnorm selbst den Gesetzgeber zu derartigen Einschränkungen oder Eingriffen ermächtigt (Gesetzesvorbehalt, vgl. auch 2.1.2.1) bzw. auch dadurch, dass andere Verfassungsnormen mit ihr kollidieren. Während Grundrechtsschranken aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts im Kontext Sozialer Arbeit insb. auch in Bezug auf das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG von Bedeutung sind (s. hierzu 2.2.6), ist ein wichtiger sozialarbeiterisch einschlägiger „klassischer“ Gesetzesvorbehalt in Art. 5 Abs. 2 GG formuliert. Hiernach sollen Meinungs- und Medienfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG zunächst durch allgemeine Gesetze beschränkt werden dürfen. Allgemein meint hier, dass das grundrechtsbeschränkende Gesetz nicht gegen eine bestimmte Person oder eine bestimmte Meinung gerichtet sein darf (Jarass / Pieroth 2016, Art. 5, Rn. 67). Darüber hinaus erhält die Vorschrift aber noch eine „Wertung des Grundgesetzes …, wonach der Schutz der Jugend ein Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen ist“ (BVerfGE 30, 348). Deshalb lässt eine spezielle Jugendschutzschranke in Art. 5 Abs. 2 GG in diesem Bereich auch „nicht-allgemeine“ Gesetze zu (Epping 2017, 110). Legitimiert sind derartige Grundrechtsbeschränkungen allerdings erst, wenn sie bestimmten formellen und materiellen Anforderungen genügen. Zu letzteren gehört z. B. die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (hierzu 2.1.2.2) sowie die Garantie, dass das Grundrecht in seinem Wesensgehalt unangetastet bleibt (Art. 19 Abs. 2 GG; im Einzelnen vgl. Manssen 2017, 57 ff.).
Als Abwehrrechte funktionieren Grundrechte aber nicht nur dann, wenn administrative oder auch justizielle Entscheidungen die Autonomie des Bürgers in einem engeren Sinne von Privatheit tangieren. Sie entfalten ihre Abwehrfunktion auch dort, wo sich Bürger – etwa auf Versammlungen und in Demonstrationsaufzügen (Art. 8 GG) oder in Vereinen, Parteien oder Gewerkschaften (Art. 9 GG) – zum Zweck der Verfolgung gemeinsamer Interessen zusammenschließen. Sofern diese Zusammenschlüsse mit Formen bürgerschaftlichen Protestes (in der Vergangenheit etwa in der Anti-AKW-Bewegung, gegen die Startbahn West oder die Stationierung von Atomsprengköpfen, später gegen die Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen, gegen neonazistische Aufmärsche und Kundgebungen, aber auch gegen Umweltzerstörung u. a.) in Zusammenhang zu bringen sind, ist der mit ihnen begehrte Grundrechtsschutz funktional auch als Kompensation für eine Verengung demokratisch entscheidbarer Bereiche innerhalb des Verfassungsstaates zu erklären. Dies betrifft nicht nur den grundrechtlichen Schutz von Minderheitenpositionen schlechthin, sondern auch von solchen Positionen, die sich gegen Ergebnisse demokratisch durchgeführter Verfahren bzw. gegen Festlegungen demokratisch legitimierter Entscheidungsträger richten. Derartige Proteste verweisen auf die Möglichkeit von Irrtümern auch durch Mehrheiten (Rödel / Frankenberg / Dubiel 1989, 41). Sie appellieren, wie Habermas formuliert, (teilweise robust) „an Amtsinhaber und Mandatsträger, formal abgeschlossene Beratungen wieder aufzunehmen, um in Abwägung der fortdauernden öffentlichen Kritik ihre Beschlüsse gegebenenfalls zu revidieren“ (Habermas 1992, 462 f.). Daher gehören sie selbst zum demokratischen Arsenal. Sofern allgemeine Gesetze, z. B. das VersammlG, in diese Protestformen beschränkend eingreifen, können sie das jedenfalls nur in dem Umfang tun, dass ein effektiver Gebrauch der grundrechtlich geschützten sozialen Aktionsformen gewährleistet bleibt. So hat etwa das OVG Münster entschieden, dass von einer friedlichen Blockade (eines rechtsextremistischen Demonstrationsaufzuges) noch keine solche Störung i. S. v. § 2 Abs. 2 VersammlG ausgehe, dass die Blockade als rechtswidrig anzusehen sei. (5 A 1701 / 11 – 18.9.2012,). Auch die versäumte Anmeldung einer Versammlung (§ 14 VersammlG) beseitigt nicht deren grundrechtlichen Schutz, sondern begründet bestenfalls ihre Auflösung (VG Düsseldorf 18 K 3033 / 09 – 21.04.2010). Selbst dass aus einer Versammlung heraus Gewalttätigkeiten erfolgen, kann, wie derselben Entscheidung zu entnehmen ist, nicht gegen andere, friedliche Versammlungs- oder Demonstrationsteilnehmer gewendet werden mit der Folge, dass diesen ihr grundrechtlicher Schutz verwehrt wird (vgl. auch 1.1.2, IV-1.3).
Vielfach kommt es jedoch auch zu sog. faktischen Grundrechtseingriffen in Form von Realakten (etwa: das Festhalten einer Person oder das Inaussichtstellen bestimmter Nachteile, falls bestimmte Handlungen, wie etwa das Betreten einer Wohnung, nicht geduldet werden). Der Betroffene ist nur dann verpflichtet, sie hinzunehmen, wenn die Handlung, die als ein Grundrechtseingriff zu bewerten ist, auf ein zu diesem Eingriff ermächtigendes Gesetz zurückgeführt werden kann. Gerade auch deshalb ist die funktionale Ausrichtung von Grundrechten auf Abwehr von staatlichen Eingriffen auch für die Arbeit in sozialen Berufen von einiger Bedeutung.
Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, Art. 10 GG
Zu denken ist dabei etwa an das Grundrecht der Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 GG. Dabei erstreckt sich nach einer Entscheidung des BVerfG v. 02.03.2006 (2 BvR 2099 / 04) das Grundrecht auf Wahrung des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 GG „auf jede Form der Übermittlung von Informationen mit Hilfe der verfügbaren Telekommunikationstechniken“. Das Gericht weiter: „Auf die konkrete Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) kommt es nicht an.“ Im Übrigen soll an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass Träger dieses Grundrechtes jedermann ist, also, wie eben (2.2.2) gesehen, auch Inhaftierte in Strafvollzugseinrichtungen (vgl. BVerfGE 33, 1 ff. und ZJJ 2006, 193 ff.) oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe lebende Minderjährige, ebenso geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen sowie solche, die in Heimen oder Gemeinschaftsunterkünften leben oder in psychiatrischen Kliniken untergebracht sind.
Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG
Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) kann in Berührung mit den verschiedensten Behörden praktisch bedeutsam werden. So haben Mitarbeiter von Ausländerbehörden regelmäßig keine Rechtfertigung dafür, sich in Wohnungen nach Anzeichen für eventuelle „Scheinehen“ (§ 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB) umzusehen, also solchen, mittels derer ein rechtmäßiger Aufenthaltstitel erlangt werden sollte. Mitarbeiter von Sozial- oder Jugendämtern können nicht schon deshalb von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns ausgehen, weil der Grundrechtsinhaber sein Einverständnis zum Eindringen in seine Wohnung erteilt hat, nachdem er auf mögliche negative Auswirkungen mangelnder Mitwirkung (§ 66 SGB I) oder Kooperationsbereitschaft (§ 8a Abs. 3 SGB VIII) hingewiesen wurde. Eine Grundrechtsbeeinträchtigung liegt nämlich auch dann vor, wenn dieses Einverständnis mittels Drohung oder Täuschung erlangt wurde (Jarass / Pieroth 2012, Rn. 10 zu Art. 13 m. w. N.).Von letzterer wird man jedoch jedenfalls immer dann ausgehen müssen, wenn das Eindringen in die Wohnung nicht verhältnismäßig war.
Leistungs- und Teilhaberechte
Einhergehend mit einem gesellschaftlichen Wandel vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat ist jedoch auch eine Neuakzentuierung innerhalb des Grundrechtsverständnisses zu beobachten. Hierbei wird geltend gemacht, dass der Einzelne seine individuellen Freiheitsrechte nur dann tatsächlich in Anspruch nehmen kann, wenn der Staat hierfür entsprechende Bedingungen setzt, etwa in Form von grundrechtlich verbürgten Leistungs- und Teilhaberechten. Zwar wird man diese rein numerisch betrachtet in einem Zustand der klaren Unterlegenheit im GG antreffen (etwa: Art. 6 Abs. 4 GG). Jedoch legt das gewandelte Grundrechtsverständnis nahe, den Leistungs- und Teilhabegedanken auch in der Interpretation der klassischen Abwehrrechte wach zu halten. Jedenfalls hat das BVerfG in seinem gerade auch Studierende interessierenden Numerus-clausus-Urteil aus dem Jahre 1972 formuliert (BVerfGE 33, 303):
„Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen.“
soziale Grundrechte
Gelegentlich werden diese Grundrechte auch als soziale Grundrechte bezeichnet. Dies stößt bei Verfassungsrechtlern mitunter auf Skepsis, weil dadurch eine Aushöhlung der Freiheitsidee der Grundrechte befürchtet wird. Richtig an diesem Einwand ist, dass sich die Verteilungswidersprüche moderner kapitalistischer Gesellschaften wohl kaum im Rückgriff auf Grundrechte lösen lassen werden (vgl. hierzu 1.2). Jedoch übersieht er den angesprochenen inneren Zusammenhang zwischen Abwehr- und Teilhaberechten. Denn eine unmittelbare Konsequenz der Freiheit des Einzelnen ist sein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schlechthin. Dies bedeutet: Teilhabe selbst ist auch ein Freiheitsrecht. Wenn daher das BVerfG in st. Rspr. eine Ausgangsfunktion der Grundrechte darin sieht, dass sie zugleich eine Wertordnung statuieren, so zieht es genau aus diesem Umstand die Schlussfolgerung, dass Grundrechte eben deshalb nicht auf Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat reduziert werden dürfen (BVerfGE 33, 303).
2.2.4 Geltung von Grundrechten
Auch die Debatte zur Geltung der Grundrechte knüpft an den Aspekt ihrer Gerichtetheit auf die Abwehr von Übergriffen des Staates auf private Bereiche an. Im Grundgesetz ist er u. a. in einer Selbstbindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte als für alle ihre Teile unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG) zum Ausdruck gebracht. Die sich hieraus ableitende Frage ist nun die nach der Grundrechtsbindung anderer, nichtstaatlicher Adressaten. Unstrittig ist dies, wenn die Exekutive (gesetzlich geregelte) öffentliche Aufgaben (insb. Versorgungsleistungen) in den Formen des Privatrechts, z. B. in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer GmbH oder auch eines e. V., erfüllt. Man spricht dann vom sog. Verwaltungsprivatrecht (vgl. 1.1.4). Da die Grundrechtsbindung der öffentlichen Verwaltung hierdurch unberührt bleibt, sind auch die Rechtshandlungen dieser Körperschaften am Maßstab der Grundrechte zu messen (Papenheim et al. 2015, Kap. 23.3.2.3).
Weiterhin greift Grundrechtsschutz auch immer dann, wenn die vollziehende Gewalt ihre Aufgaben nicht unmittelbar selbst erfüllt, sondern sich anderer bedient. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn sich Sozialleistungsträger zur Erfüllung ihrer von Gesetzes wegen zugewiesenen hoheitlichen Aufgaben freier Träger bedienen. In diesem Fall gehören auch die mit der Wahrnehmung der hoheitlichen Aufgabe betrauten Verwaltungshelfer oder gar mit Hoheitsbefugnissen ausgestattete „Beliehene“ zur mittelbaren Staatsverwaltung (vgl. 4.1.2) und somit zum Begriff „vollziehende Gewalt“ i. S. v.Art. 1 Abs. 3 GG (Pieroth et al. 2015, 49 f. m. w. N.). Im Sozialrecht findet aber eine Beleihung mit Hoheitsbefugnissen in der Regel nicht statt; hier werden freie Träger bei der Ausführung der (hoheitlichen) Aufgaben lediglich einbezogen (s. u. 4.1.2.2; im Hinblick auf die Inobhutnahme vgl. III-3.4.1.1; im Hinblick auf die Adoptionsvermittlung vgl. II-2.4.7).
mittelbare Drittwirkung
In dem Maße jedoch, in dem, wie Hugo Sinzheimer (1936, 166; vgl. auch 172 ff.) formulierte, „soziale Gewalten“, etwa große Verbände, dem Einzelnen in einer faktisch überlegenen Position im Rechtsverkehr gegenübertreten oder wo Kinder der überlegenen Bestimmungsmacht ihrer Eltern z. B. hinsichtlich Religionszugehörigkeit, Schulart oder Berufswahl ausgesetzt sind, stellt sich die Frage, ob hier der Wesensgehalt der Grundrechte tatsächlich außer Geltung sein soll. Die Lösung dieses Problems wird in einer „mittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte gesehen (vgl. auch II-1.4.1). Die hiermit gemeinte Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht ist seit dem für die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland außerordentlich bedeutsamen sog. Lüth-Urteil des BVerfG v. 15.01.1958 (1 BvR 400 / 51) allgemein anerkannt. Hiernach besteht die Grundrechtsidee nur zu einem Teil darin, staatlichen Regelungs- und Eingriffskompetenzen Grenzen zu setzen. Zu einem anderen Teil hingegen stellen die Grundrechte dem Staat die Aufgabe,
„durch Gesetze und deren Auslegung die Rechte der einzelnen so gegeneinander abzugrenzen und zu sichern, daß die grundrechtlich verfügten Freiheiten und Güter, wie Ehre und Freiheit von Zwang, gewährleistet werden und zu größtmöglicher Entfaltung kommen“ (Zipelius 2010, 321).
Selbst wenn der Gesetzgeber dieser Aufgabe im Einzelnen nicht nachgekommen ist – so stellt der BGH in einer Entscheidung für die Rechtsbeziehungen innerhalb privatrechtlicher Regelungsbereiche fest (BGHZ 24, 76) – erkennt das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit „auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht“ an (vgl. im Einzelnen auch Zipelius 2010, 320 ff.). Für Sozialarbeiter ergibt sich die Geltung der Grundrechte in ihrem professionellen Handeln demnach
■ als Angehörige der öffentlichen Verwaltung oder durch diese „Beliehene“ unmittelbar aus Art. 1 Abs. 3 GG;
■ in allen anderen Fällen aus deren „mittelbarer Drittwirkung“, wie sie z. B. aus einfachgesetzlicher Konkretisierung oder der grundrechtskonformen Rechtsauslegung durch die Gerichte entsteht, sowie
■ aus allgemeiner Rechtsanschauung und Rechtsanwendungspraxis, denen die Anerkennung der Grundsätze der Menschenwürde und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit innewohnend sind.
In welchem konkreten Arbeitsfeld daher ein Sozialarbeiter auch immer tätig ist und unabhängig davon, woher sich eine entsprechende rechtliche Begründung im Einzelnen herleiten mag – stets ist der Respekt vor den elementaren Grundrechten ein substanzieller Bestandteil seines professionellen Interagierens mit dem Klienten. Die Grundrechte formulieren damit zugleich normativ anerkannte ethische Mindestanforderungen für die Soziale Arbeit.
2.2.5 Schutz der Menschenwürde und der Freiheit der Person
Menschenwürde
Auf das Spannungsverhältnis, in dem Grundrechte zur sozialen Realität stehen, wurde bereits aufmerksam gemacht. So wird es, um noch einmal an das Brückengleichnis von Anatole France zu erinnern (vgl. 2.1.2.4), dem Obdachlosen wenig Trost sein, dass auch seine Wohnung durch Art. 13 GG unverletzlich wäre, wenn er denn eine hätte. Derartige Spannungen sind auch im Schutzbereich der Menschenwürde zu erwarten, zumal es sich hierbei um einen Terminus handelt, der kein juristischer Fachbegriff ist und der auch nicht besonders oft in unserer Alltagssprache Verwendung findet. Schon allein durch diese terminologische Unbestimmtheit sind Schwierigkeiten bei der Festlegung seines Inhaltes indiziert, die auch von Anfang an genügend Raum für Skepsis lassen. Sie ist bereits bei Friedrich Schiller (1796, 331) in Worte gefasst, der zur „Würde des Menschen“ eher ernüchternd anmerkte: „Nichts mehr davon, ich bitt’ euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“
Gleichwohl lässt sich die herausragende Bedeutung des Rechts auf Schutz der Menschenwürde nicht nur an seiner Stellung an der Spitze des Grundrechtskatalogs ablesen, sondern auch daran, dass eine Änderung von Art. 1 GG durch Art. 79 Abs. 3 GG, die sog. Ewigkeitsklausel, für unzulässig erklärt wird.
Aus sozialarbeiterischer Sicht mag man vermuten, dass Art. 1. Abs. 1 GG vor allem auch im Rahmen des Sozialstaatsgebotes praktische Relevanz erlangt. In der Tat hat das BVerwG diesen Zusammenhang schon in einer frühen, oben (I-2) bereits zitierten Entscheidung aus dem Jahr 1954 hergestellt.
In einer Entscheidung zum Existenzminimum von Kindern betont das BVerfG 1998 darüber hinaus noch einmal in besonderer Weise dessen Quantifizierbarkeit anhand verbrauchsbezogen ermittelter und regelmäßig den veränderten Lebensverhältnissen angepasster Sozialhilfeleistungen (BVerfG 2 BvL 42 / 93 – 10.11.1998 – E 99, 246). In seinem Urteil vom 09.02.2010 schließlich kam das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die Regelleistungen aus dem SGB II schon deshalb nicht dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschen würdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m.Art. 20 Abs. 1 GG entsprechen, weil ihre Bestimmung methodisch nicht nachvollziehbar ist, sondern „freihändig“ und damit intransparent erfolgte (1 BvL 1 / 09, 3 / 09, 4 / 09). Gleichwohl ist der verfassungsrechtliche Ertrag hier, wie auch beim Sozialstaatsprinzip überhaupt (vgl. hierzu 2.1.3), nicht allzu groß. Allerdings ist, nachdem schon das BVerwG entsprechend entschieden hatte, die Richtung, in der das BVerfG die Bestimmung des Inhalts der Menschenwürde vornimmt, gerade auch für Sozialarbeiter von praktisch nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die zu schützende Subjektqualität des Menschen wird nämlich in einer langen Reihe von Entscheidungen immer weiter dahingehend näher bestimmt, dass der Einzelne nicht lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns begriffen werden darf. Die folgenden Sätze aus einer Entscheidung des BVerfG hierzu sollten symbolisch an der Wand jedes Sozial- oder Jugendamtes, jeder Einrichtung, in der mit Obdachlosen, Alten, Behinderten oder psychisch Kranken gearbeitet wird, stehen; sie könnten das rechtliche und ethische Credo der Sozialarbeit schlechthin sein (BVerfGE 96, 375):
„Mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes und tragendem Konstitutionsprinzip ist der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Jedem Menschen ist sie eigen ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status.“
In einer solchen Sichtweise ist zugleich ein Anschluss an den grundrechtlichen Schutz der Persönlichkeit hergestellt. Er ist in Art. 2 GG geregelt und umfasst dort mehrere Aspekte: einerseits das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG, Selbstbestimmung) und andererseits das Recht auf Privatsphäre (Art. 8 EMRK), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG; vgl. Art. 5 EMRK).
freie Entfaltung der Persönlichkeit
Art. 2 Abs. 1 GG fungiert zunächst und vor allem als sog. Auffanggrundrecht. Dies bedeutet, dass die Verletzung von Grundrechten in der Sozialen Arbeit, wie sie etwa geschehen kann durch unangemeldete Wohnungskontrollen im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bzw. der Sozialhilfe, das Zurückhalten bzw. Kontrollieren von Post, durch Freiheitsentziehung oder durch körperliche Gewaltanwendung bei Hilfen zur Erziehung, in der Altenarbeit, der Arbeit mit geistig Behinderten, psychisch Kranken oder Substanzabhängigen, zwar auch jedes Mal den grundrechtlich geschützten Bereich der freien Entfaltung der Persönlichkeit berühren würde. Dennoch ist eine Prüfung, ob der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG tatsächlich verletzt wäre, aber nur dann vorzunehmen, wenn keine anderen Grundrechtsverletzungen in Betracht kommen. Dies wären vorliegend Art. 13, Art. 2 Abs. 2 bzw. Art. 10 GG, denen gegenüber sich Art. 2 Abs. 1 GG demzufolge subsidiär verhält.
Eine unmittelbare und eigenständige Bedeutung entfaltet Art. 2 Abs. 1 GG jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen bezeichnet die genannte Vorschrift eine im umfassenden Sinne gemeinte allgemeine Handlungsfreiheit, die freilich unter dem Vorbehalt des zweiten Halbsatzes steht. Zum anderen wird ihr i. V. m.Art. 1 Abs. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht entnommen, das in der Rechtsprechung des BVerfG im Laufe der Jahre eine differenzierte Typisierung erfahren hat, etwa als:
■ Recht auf Schutz der Privat-, Geheim- und Intimsphäre,
■ Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
■ Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (sog. Grundrecht auf digitale Intimsphäre),
■ Recht auf Identität,
■ Recht auf soziale Achtung,
■ Recht auf Selbstdarstellung,
■ Recht auf finanzielle Selbstbestimmung.
Die Berührungspunkte zu Feldern der Sozialen Arbeit sind bei jedem der genannten Punkte mit Händen zu greifen – ob beim Recht auf Identität in der Adoptionsvermittlung oder dem Recht auf Resozialisierung, das dem Recht auf soziale Achtung zuzuordnen ist, bei der Arbeit mit Straffälligen. In besonderer Weise verweisen wir aus gutem Grund auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfG v. 15.12.1983 – E 65, 1; zum Sozialdatenschutz ausführlich III-1.2.3). Es räumt dem Einzelnen die Befugnis ein, „grds. selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“ (BVerfG 1 BvR 209 / 83 – 15.12.1983 – E 65, 1). In diesem Zusammenhang ist zunächst gerade auch für den Schutz von Sozialdaten in der Sozialen Arbeit der Hinweis des BVerfG aus derselben Entscheidung wichtig, dass es aufgrund der technischen Möglichkeiten der Verarbeitung und Verknüpfung von Daten ein „belangloses“ Datum generell nicht geben kann. Freilich sind auch dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung dort Schranken in Gestalt eines Grundrechtsvorbehalts gesetzt, wo ihm ein überwiegendes Allgemeininteresse entgegensteht, wobei das BVerfG darauf hinweist, dass jeder insoweit gesetzlich zulässige Eingriff im jeweils konkreten Fall einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedarf (BVerfG 2 BvR 2099 / 04 – 02.03.2006; ebenso EuGH C-293 / 12 u. C-594 / 12 – 08.04.2014; im Einzelnen hierzu III-1.2.3). Umstritten ist dann allerdings immer noch, wie weit insb. ein Allgemeininteresse auf Sicherheit in die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers eingreifen darf und welche Gestaltungsräume dem Gesetzgeber hierfür zur Verfügung stehen. Die Einlassung eines ehemaligen Bundesinnenministers (und damit Verfassungsministers!) jedenfalls, wonach „Freiheit (als) ein Grundrecht (...) vor dem Supergrundrecht auf Sicherheit zurücktreten“ müsse, wird einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten können. Denn das BVerfG stellt demgegenüber klar: „Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland“ (BVerfG 1 BvR 256 / 08 – 02.03.2010). Andererseits ist unstrittig, dass mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch eine Pflicht des Staates besteht, diese Verfassungsgüter zu schützen. Wie schwierig es allerdings ist, den genauen Verlauf der Grenzen zwischen (notwendigem) Schutz und (unzulässiger) Überwachung zu bestimmen, vermittelt das BVerfG in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung. Zwar hält es diese prinzipiell für verfassungskonform ausgestaltbar und damit zulässig, gleichzeitig warnt es aber insb. mit Blick auf nachrichtendienstliche Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung, dass sie „das Gefühl des Beobachtetwerdens in besonderer Weise“ befördere und „nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung“ entfalte. Bei der Vorratsdatenspeicherung handele es sich um „einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt.“ Selbst dann, wenn sich die Datenspeicherung nicht auf die Kommunikationsinhalte erstrecke, erlauben Adressaten, Daten, Uhrzeit und Ort von Telefongesprächen „in ihrer Kombination detaillierte Aussagen zu gesellschaftlichen oder politischen Zugehörigkeiten sowie persönlichen Vorlieben, Neigungen und Schwächen.“ Der Einzelne, so das Gericht weiter, wisse dann nicht, „was welche staatliche Behörde über ihn weiß, weiß aber, dass die Behörden vieles, auch Höchstpersönliches, über ihn wissen können.“ (1 BvR 256 / 08 – 02.03.2010 – E 125, 260). In einer anderen Entscheidung zur sog. Onlinedurchsuchung und -überwachung hält das BVerfG die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems nur dann ganz ausnahmsweise für zulässig, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen“ und stellt ihre Anordnung unter Richtervorbehalt. Darüber hinaus verlangt es gesetzliche Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung selbst in diesen Fällen (BVerfG 27.02.2008 – 1 BvR 370 / 07 u. 1 BvR 595 / 07). Nunmehr darf man auf die noch ausstehenden Entscheidungen des BVerfG zur Verfassungskonformität des neuen Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10.12.2015 gespannt sein (vgl. 1.1.5.1).
2.2.6 Grundrechte aus Art. 6 GG: Ehe und Familie
Schutz von Ehe und Familie
Abwehr- und Teilhaberecht
In exemplarischer Weise soll die Grundrechtsproblematik noch einmal an Art. 6 GG betrachtet werden, denn diese Vorschrift ist für die Soziale Arbeit in mehrerlei Hinsicht von besonderem Interesse. Zunächst wirkt Art. 6 Abs. 1 GG in den Worten des BVerfG als „verbindliche Wertentscheidung“ (E 7, 198, 205). Nun soll es dahingestellt bleiben, ob sich mündige Bürgerinnen und Bürger tatsächlich in ihren Bestimmungsgründen dazu, in welcher Form, weshalb und in welcher Intensität sie Partnerbeziehungen eingehen und zu welchem Zeitpunkt sie diese ggf. auch wieder beenden, an Grundgesetzkommentaren und Verfassungsgerichtsentscheidungen orientieren. Deshalb ist wohl auch nur schwer zu definieren, worin der Inhalt einer solchen Wertentscheidung im Einzelnen bestehen mag (i. E. Ipsen 2009, 434 ff.). Jedenfalls liegt der Kern des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes von Ehe und Familie darin, dass es sich hierbei um jeweils „einen geschlossenen, gegen den Staat abgeschirmten und die Vielfalt rechtsstaatlicher Freiheit schützenden Autonomie- und Lebensbereich“ (BVerwGE 91, 130, 134) handelt. Hieraus leitet sich aber wiederum nicht nur ein reines Abwehrrecht, sondern zugleich auch eine Verpflichtung des Staates ab, Ehe und Familie in besonderer Weise zu fördern (BVerfGE 82, 60 ff.).An diese Verpflichtung sind der Gesetzgeber, die Rechtsprechung sowie die (Sozial-)Verwaltung in gleichem Maße unmittelbar gebunden. So nennt das SGB VIII im zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels die Förderung der Erziehung in der Familie bereits in der Überschrift und thematisiert, verfassungsrechtlich betrachtet, auch im dritten und vierten Abschnitt dieses Kapitels den Schutz und die Förderung der Familie. Jedoch auch außerhalb des Kinder- und Jugendhilferechts stößt die Sozialarbeit allenthalben auf entsprechende rechtliche Umsetzungsinstrumentarien: vom Steuerrecht (Ehegattensplitting, steuerliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen, Kinderfreibetrag, Kindergeld) über das Sozialrecht (z. B. Elterngeld, Leistungen der Sozialversicherungen nach SGB V bis VII, SGB XI sowie Sozialleistungen nach SGB II oder SGB XII) bis zum Erbrecht (gesetzliche Erbfolge) und Arbeitsrecht (Diskriminierungsverbot für Verheiratete etwa bei der Aufstellung von Sozialplänen wegen betriebsbedingter Kündigungen, Anrechnung der Elternzeit auf die Beschäftigungsdauer bei Abfindungen, Freistellungsanspruch und Kündigungsschutz bei Eltern- und Pflegezeit, Beschäftigungsverbote zum Schutz von Schwangeren und stillenden Müttern sowie Kündigungsschutz bei Schwangerschaft und während des gesetzlichen Mutterschaftsurlaubs).
Grundrechtsschutz der Ehe
Das unmittelbar grundrechtlich geschützte Verhalten der Beteiligten besteht nun, soweit es zunächst in einem engeren Sinne die Ehe betrifft, u. a. darin, dass sie frei darüber entscheiden können
■ mit wem und wann bzw. ob sie überhaupt eine Ehe eingehen wollen (Verbot der sog. Zwangsehe, § 237 StGB),
■ ob sie einen gemeinsamen Ehe-/Familiennamen führen wollen und, falls ja, welchen ihrer Namen sie zum Ehenamen bestimmen wollen (vgl. § 1355 BGB),
■ wie sie die eheliche Güterverteilung regeln wollen (vgl. § 1408 BGB),
■ wie sie Erwerbstätigkeit und Haushaltsführung organisieren möchten (vgl. § 1356 BGB),
■ ob sie an einem gemeinsamen Wohnort oder mit getrennten Lebensmittelpunkten leben wollen sowie
■ ob sie ggf. die Ehe wieder scheiden lassen wollen (im Einzelnen: Jarass / Pieroth 2016, Art. 6 Rz. 4 ff.; Manssen 2017, 130 f. m. w. N.).
Im Übrigen bedeutet der Schutz der Ehe, der zugleich als verfassungsrechtliche Institutsgarantie wirkt, nicht, dass ihr andere Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens nicht gleichgestellt werden dürften (Manssen 2017, 122). Dies hat das BVerfG für die eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft nach BVerfGE 105, 313 in einer neueren Entscheidung noch einmal klargestellt (1 BvR 170 / 06 – 11.06.2010). Inzwischen liegt eine weitere Entscheidung des BVerfG vor, nach der im Gegenteil eine Ungleichbehandlung (hier: beim Ehegattensplitting) von eingetragenen Lebenspartnern gegenüber Verheirateten sogar als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot aus Art. 3 GG zu bewerten wäre (BVerfG 7.5.2013 – 2 BvR 909 / 06 u. a.).
Grundrechtsschutz der Familie
Ähnlich reicht auch nach BVerfG (1 BvR 1644 / 00 – 19.04.2005 – E 112, 332) der Schutz der Familie „von der Familiengründung bis in alle Bereiche des familiären Zusammenlebens“ (Jarass / Pieroth 2016, Art. 6 Rz. 11). Art. 6 Abs. 1 GG „berechtigt die Familienmitglieder, ihre Gemeinschaft nach innen in familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten“ (BVerfGE 80, 81, 92). In auch für die soziale Praxis besonders relevanter Weise tritt uns der Schutz der Familie vor allem als Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG entgegen (ausführlich zur elterlichen Verantwortung II-2.4.3). Dies ergibt sich schon aus der verfassungsrechtlichen Definition von Familie als „umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern“ (BVerfGE 10, 59, 66). Sie umfasst also Kinder und deren Eltern, seien diese nun miteinander verheiratet oder nicht, ebenso Adoptiv-, Stief- oder Pflegekinder (zu letzteren BVerfGE 68, 176, 187). Genauso fallen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern unter den Familienbegriff. Eine Familie bilden auch alleinerziehende Elternteile mit ihrem Kind, und zwar unabhängig davon, ob der alleinerziehende Elternteil mit dem anderen verheiratet ist bzw. war oder nicht (Peukert 2012, 163 f.). Darüber hinaus ist mit Hinblick auf das Recht der Existenzsicherung von Bedeutung, dass auch in Beistandsgemeinschaft lebende Verwandte mit dem verfassungsrechtlichen Familienbegriff erfasst sind (Jarass / Pieroth 2016, Art. 6 Rz. 10). Jedoch ist das Elterngrundrecht nicht schematisch an ein bereits bestehendes Zusammenleben der Eltern bzw. des Elternteils mit dem Kind in der familiären Gemeinschaft gebunden. So folgt nach einer Entscheidung des EGMR (Görgülü vs. Germany No. 74969 / 01 – 26.02.2004) aus Art. 8 EMRK die Pflicht des Staates, es zu ermöglichen, dass sich zwischen einem leiblichen nicht sorgeberechtigten Elternteil und seinem Kind tatsächliche familiäre Bande entwickeln können. In seinem Beschluss vom 14.10.2004 hat das BVerfG hierzu festgestellt, dass Art. 6 Abs. 2 GG entsprechend auszulegen sei (2 BvR 1481 / 04). Für nicht verfassungsgemäß hielt das BVerfG in seiner Entscheidung vom 21.07.2010 (1 BvR 420 / 09) wiederum im Anschluss an eine EGMR-Entscheidung (Zaunegger vs. Germany – 22028 / 04 – 03.12.2009) auch den generellen Ausschluss des Vaters eines nichtehelichen Kindes von der gemeinsamen elterlichen Sorge bei verweigerter Zustimmung der Mutter. § 1626a Abs. 2 BGB sieht deshalb nunmehr die Möglichkeit der Übertragung der elterlichen Sorge durch das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils vor, sofern dies nicht dem Kindeswohl widerspricht. Schließlich ist selbst die Beziehung des biologischen (nicht rechtlichen) Vaters zu seinem Kind in gewissem Umfang und unter bestimmten Voraussetzungen durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützt (BVerfGE 108, 82, 112; vgl. deshalb jetzt § 1686a BGB – i. E.: II-2.3).
Auch die Funktion des Elterngrundrechts weist mittlerweile über die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus und umfasst eine Leistungs- und Teilhabedimension. Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang u. a. von einer sozialstaatlichen Verpflichtung, „positiv die Lebensbedingungen für ein gesundes Aufwachsen des Kindes zu schaffen“ (1 BvL 20 / 63 v. 29.07.1968). Dabei leitet sich die verfassungsrechtliche Schutzwirkung des Elterngrundrechts in ihrer Genese zunächst daraus ab, dass es sich bei ihm um eine spezifische Ausformung des grundrechtsgeschützten Gesamtraumes Familie handelt. Folglich ist das Elternrecht insofern in gleicher Weise geschützt wie die Familie insgesamt (Pieroth et al. 2015, 183 f.). Dies betrifft nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG insb. die Entscheidungen der Eltern über die Pflege (d. h. das körperliche Wohl) und die Erziehung (die seelische und geistige Entwicklung einschließlich der religiösen und weltanschaulichen Erziehung).
Den autonomen Gestaltungswillen der Eltern bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder haben BVerfG, BGH, BSG und auch das BAG in einer Reihe von Entscheidungen weiter konkretisiert. So fallen unter Art. 6 Abs. 2 GG etwa Entscheidungen der Eltern zur Bildung und Ausbildung des Kindes, dazu, wem Einfluss auf die Erziehung des Kindes zugestanden wird und in welchem Ausmaß bzw. mit welcher Intensität die Eltern sich selbst der Pflege und Erziehung widmen oder ob sie diese (teilweise) Dritten überlassen (vgl. m. w. N. Jarass / Pieroth 2016, Art. 6, Rz. 42). Umgekehrt kann keine staatliche Institution, auch nicht die (öffentliche) Jugendhilfe, für sich ein vergleichbares Erziehungsrecht reklamieren, und zwar selbst dann nicht, wenn das Kind außerfamiliär oder in einer Tageseinrichtung untergebracht ist bzw. betreut wird (Münder et al. 2013b, § 1 Rz. 14).
Schranken des Elternrechts
Eingriffe in das Elternrecht bzw. Einschränkungen können allerdings – wie bei allen anderen Grundrechten mit Ausnahme von Art. 1 GG auch – durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt sein. So folgt bspw. aus Art. 7 Abs. 1 GG eine allgemeine Schulpflicht, die insoweit das Elternrecht einschränkt (i. E.: Behlert 2011, 66 ff.). Mit dieser Pflicht geht ein eigenständiger Erziehungsauftrag der Schule einher. Deren Erziehungsziele können zwar die Eltern in ihrem eigenen erzieherischen Verhalten nicht binden; gleichwohl stehen sie insoweit gleichberechtigt neben dem Erziehungsrecht der Eltern (BVerfGE 34, 16; 47, 46; 96, 288). Sie können damit deren Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG – etwa in Gestalt bestimmter Lehrstoffinhalte oder schulischer Erziehungsmaßnahmen – beschränken. Maßstab hierfür ist, dass dies dem Wohl des Kindes dient (Jarass / Pieroth 2016, Art. 7, Rz. 5; Epping 2017, 262). Auch im Jugendstrafrecht (s. hierzu IV-5) sieht das BVerfG Eingriffe in das Elternrecht, die im Grunde bereits mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Minderjährigen einsetzen, in einem „Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes“ (BVerfGE 107, 104, 119) legitimiert.
Kollisionen
Eine praktisch wie rechtlich gleichermaßen kompliziert zu lösende Konstellation kann immer dann vorliegen, wenn Grundrechtspositionen des Minderjährigen mit dem Elterngrundrecht in Widerstreit geraten. Sie ist vor allem dadurch in besonderer Weise geprägt, dass das Elterngrundrecht über die Singularität verfügt, dass es den Eltern auch eine bestimmte Pflicht und Verantwortung auferlegt (Höfling 2009, 483). Es wird daher gern mit Bezug auf die st. Rspr. des BVerfG seit 29.07.1968 – 1 BvL 20 / 63 als „fremdnütziges“, „dienendes“ oder auch „fiduziarisches“ (treuhänderisches) Recht beschrieben. Diese Besonderheit zeichnet auch zumindest teilweise schon Lösungswege vor. Im Kollisionsfall kann dann nämlich, wie das BVerfG in einer Reihe von Entscheidungen deutlich macht, jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass das Elternrecht notwendigerweise Vorrang etwa vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes hat (hierzu ausführlich Münder et al. 2013b, § 1 Rz. 20 m. w. N.). Denn Kinder emanzipieren sich im Laufe ihres individuellen Entwicklungs- und Reifeprozesses in einem Maß, das es ihnen nach und nach ermöglicht, ihre Subjektstellung zunehmend selbstverantwortlich auszufüllen. Hinzu kommt, dass die in Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde in jedem Falle unverfügbar ist und auch nicht durch ein Elterngrundrecht überlagert werden kann. Kollidieren können weiterhin die Rechte leiblicher Eltern mit denen der Pflegeeltern, etwa bei der Forderung der leiblichen Eltern nach Herausgabe ihres Kindes von den Pflegeeltern (hierzu BVerfGE 68, 176). Da die Eltern je für sich Träger des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG sind (BVerfGE 47, 46, 76), können auch ihre jeweiligen Rechte in Kollision geraten, etwa bei Streitigkeiten zur Ausübung der elterlichen Sorge, bei Beantragung der alleinigen elterlichen Sorge aufgrund von Trennung oder Scheidung oder beim Verlangen nach Beschränkungen des Umgangsrechts für den abwesenden Elternteil.
Ausgestaltung der Elternverantwortung
Keine Beschränkung, sondern lediglich eine Ausgestaltung (oder: Definition) der Elternverantwortung ist das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen aus § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB (Pieroth et al. 2015, 185). Auch das in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG enthaltene Junktim von Elternrecht und Pflicht zur Pflege und Erziehung des Kindes unterscheidet das Elternrecht zwar von allen anderen Grundrechten, formuliert jedoch für sich genommen noch keine das Elterngrundrecht begrenzende Schranke. Wegen dieses „dienenden“, „treuhänderischen“ Aspekts allerdings wacht die staatliche Gemeinschaft über die Betätigung dieser Pflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG). Jedoch steht die Ermächtigung hierzu, wie das BVerfG klargestellt hat (E 107, 104), unter Gesetzesvorbehalt (vgl. § 1666 BGB). Weil von ihr nur zum Wohle des Kindes Gebrauch gemacht werden darf, handelt es sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG um einen sog. qualifizierten Gesetzesvorbehalt (Pieroth et al. 2015, 183 ff.). Der Vorbehalt unterliegt also seinerseits wiederum einer Beschränkung durch Art. 6 Abs. 3 GG (sog. Schranken-Schranke), der noch einmal gesondert die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer Trennung des Kindes von seinen Erziehungsberechtigten benennt. Die vom GG geforderte gesetzliche Regelung hierfür findet sich in § 1666a BGB. Auch die beabsichtigte Adoption eines Kindes gegen den Willen seiner Eltern (sog. Zwangsadoption) im Wege von § 1748 BGB (hierzu II-2.4.7) unterliegt der Beschränkung durch Art. 6 Abs. 3 GG, denn bis zum Adoptionsbeschluss sind die leiblichen Eltern die Träger des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.
Ausländische Ehepartner und Familienangehörige
Außerhalb der bisher erörterten verfassungsrechtlichen Problematiken ist der verfassungsmäßige Schutz von Ehe und Familie vor allem noch im Aufenthaltsrecht für Zuwanderer nicht deutscher Staatsangehörigkeit von Bedeutung. Dort nämlich ist die Frage zu beantworten, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen der Familiennachzug verweigert werden darf oder durch die Abschiebung eines Ehepartners oder eines Mitgliedes des Familienverbandes das Zerreißen einer Ehe oder Familie mit dem Schutzgebot von Art 6 Abs. 1 GG vereinbar sein soll. Praktisch bedeutsam wird diese Frage allerdings wegen der bestehenden Sonderregelungen nicht für EU- und entsprechend gleichgestellte Bürger, sondern nur für sog. Drittstaatsangehörige. Zwar betonen BVerfG und BVerwG in ihrer Rechtsprechung hierzu, dass Art. 6 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Aufenthalt oder Nachzug begründet (BVerfGE 76, 47 f.; 80, 93; BVerwGE 102, 19; 106, 17). Dennoch ist jede Ausweisung ausländischer Ehepartner bzw. Familienangehöriger, jede Nichterteilung und jede Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung für alle betroffenen Familienangehörigen zunächst ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 6 GG. An die Rechtfertigung derartiger Maßnahmen sind dementsprechende Anforderungen zu stellen. Deshalb soll es bei der Beurteilung, ob es sich bei verweigertem Familiennachzug, der Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis oder der Ausweisung eines Ehepartners bzw. Familienangehörigen im Konkreten um einen unzulässigen Grundrechtseingriff handelt, darauf ankommen, ob es dem Ehepartner oder Familienangehörigen zumutbar oder möglich ist, dem Ausländer ins Ausland zu folgen (BVerfG 2 BvR 1542 / 94 – 10.08.1994). Allerdings wird es wohl grds. für nicht zumutbar gehalten werden, dass ein Deutscher dem ausgewiesenen Ehepartner ins Ausland folgt (Jarass / Pieroth 2016, Art. 6 GG, Rz. 35 ff.). In jedem Fall kommt es aber gerade hier darauf an, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (s. 2.1.2.2) gewahrt und zwischen den Rechtsgütern der Ehe und der Familie sowie den durch das Zuwanderungsrecht zu schützenden Rechtsgütern sorgfältig abgewogen wird (BVerwGE 56, 249 f.; 75, 179 f.). Einfachgesetzlich findet sich in § 55 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3 und 4 AufenthG ein besonderer Ausweisungsschutz für Familienangehörige, Ehepartner und auch für Partner, die in lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft leben.
BPB 2013a und 2013b; Epping 2017; Pieroth et al. 2015
1. Was versteht man unter einem doppelten Mandat der Sozialarbeit? (2.1.1)
2. Warum hat der Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes gerade im Sozialrecht eine besondere Bedeutung, und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Soziale Arbeit? (2.1.2.1)
3. Woran sind die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer staatlichen Intervention zu messen? (2.1.2.2)
4. Wann ist das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG verletzt? (2.1.2.4)
5. Was für eine Bedeutung hat das Subsidiaritätsprinzip für das Verhältnis öffentlicher und freier Sozialleistungsträger? (2.1.3)
6. Worin besteht die Funktion von Grundrechten und inwieweit sind diese für die Soziale Arbeit von Bedeutung? (2.2.3, 2.2.6)
7. Woraus folgt die Geltung von Grundrechten, die das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern betreffen, in der Sozialen Arbeit? (2.2.4)
8. Worin besteht der Wesensgehalt des Elterngrundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG, und wo verlaufen seine Schranken? Worin bestehen seine Besonderheiten im Vergleich zu anderen Grundrechten? (2.2.6)
9. Gibt es ein Recht des Staates auf Erziehung bzw. ein Recht, in die Erziehung der Eltern einzugreifen? (2.2.6)
10. In welchem Verhältnis stehen die Grundrechte der Eltern und ihrer Kinder zueinander? (2.2.6)