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Оглавление5 Rechtsschutz (Trenczek)
5.1.1 Deutsche Gerichtsbarkeiten
5.1.2 Europäische und internationale Gerichtsbarkeiten
5.2 Verwaltungs- und sozialrechtliche Rechtskontrolle
5.2.1 Verwaltungsinterne Kontrolle durch Aufsichtsverfahren
5.3 Ordentliche Gerichtsbarkeit
5.3.1 Streitiges Gerichtsverfahren
5.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit
Rechtsschutz
Wesentliches Kennzeichen eines Rechtsstaates ist die Rechtsweg- und -schutzgarantie, die verfahrensrechtlich das materielle Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG: Bindung an Recht und Gesetz, vgl. 2.1.2.1) ergänzt. Nach Art. 19 Abs. 4 GG steht jeder natürlichen und juristischen Person der Rechtsweg offen, wenn sie durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt wurde. Ob das der Fall ist, haben dann letztlich die Gerichte zu prüfen. Darüber hinaus – z. B. in privatrechtlichen Streitigkeiten – garantiert der sog. Justizgewährungsanspruch (s. 2.1.2.3) den Zugang zu den staatlichen Gerichten (vgl. auch Art. 6 Abs. 1 EMRK). Das Recht auf Rechtsschutz beinhaltet stets den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; vgl. z. B.§ 62 SGG). Dieser Grundsatz gilt nicht nur vor Gericht, sondern im Rechtsstaat bereits im verwaltungsrechtlichen Verfahren, d. h. dem Bürger muss stets vor einer ihn in seinen Rechten belastenden hoheitlichen Entscheidung in geeigneter Weise Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben werden (§ 24 SGB X; vgl. III-1.2.2). Darüber hinaus garantieren die vor allem strafrechtlich relevanten Justizgrundrechte das Verbot von Ausnahmegerichten, die nur für bestimmte Fälle nachträglich eingesetzt werden (Art. 101 GG, § 16 GVG; hierzu IV-1.3 u. 3.2). Jede Form von Freiheitsentzug, also nicht nur als strafrechtliche Rechtsfolge, bedarf der richterlichen Entscheidung (Art. 104 Abs. 2 GG).
Die Rechtsweggarantie besteht allerdings nicht unbeschränkt, sondern kann gesetzlich geregelt werden. Das hat der Gesetzgeber z. B. mit dem Aufbau der Gerichtsbarkeiten und den entsprechenden Verfahrensordnungen (z. B. Regelungen von Fristen, Beschränkung der Beschwerdemöglichkeiten gegen Gerichtsentscheidungen, dem sog. Instanzenzug; Notwendigkeit von außergerichtlichen Kontrollverfahren) getan.
Nach Art. 97 GG ist die rechtsprechende Gewalt unabhängigen, d. h. nicht an Weisungen, sondern nur an Recht und Gesetz gebundenen Richtern anvertraut. An der Spitze stehen das BVerfG und die Bundesgerichte (Art. 92 ff. GG). Nach Ausschöpfung des deutschen Rechtsweges können darüber hinaus auch die europäischen Gerichtshöfe (s. 5.1.2) angerufen werden. Freilich kommen die meisten Fälle nicht vor diese Gerichte, sondern werden schon im System der Rechtskontrolle auf einer früheren Ebene entschieden.
Rechtskontrolle wird nicht nur durch die Gerichte geleistet, sondern es gibt eine Vielzahl von außergerichtlichen Rechtsbehelfen, insb. im Hinblick auf die Kontrolle der öffentlichen Sozialverwaltung (hierzu 5.2). Dabei handelt es sich einerseits um verwaltungsinterne Aufsichtsverfahren, andererseits um sog. nicht förmliche Rechtsbehelfe sowie darüber hinaus um förmliche Rechtsbehelfe, insb. um den sog. Widerspruch. In privatrechtlichen Streitigkeiten wie auch in strafrechtlich relevanten Konflikten haben in den letzten 25 Jahren in Deutschland sog. alternative, d. h. außergerichtliche Konfliktregelungsverfahren an Bedeutung gewonnen (hierzu I-6).
5.1 Gerichtsbarkeiten
5.1.1 Deutsche Gerichtsbarkeiten
Verwaltungskontrolle
Man unterscheidet in Deutschland zwischen mehreren Gerichtsbarkeiten, die unterschiedliche Kontrollmöglichkeiten und Rechtswege eröffnen (Art. 95 Abs. 1 GG). Von besonderer Bedeutung für die Soziale Arbeit ist hierbei vor allem die Kontrolle der öffentlichen Gewalt (insb. Verwaltungskontrolle), die aus historischen Gründen auch als sog. primärer Rechtsschutz bezeichnet wird (hierzu nachfolgend 5.2). Sie kümmert sich um Streitigkeiten bei der Anwendung Öffentlichen Rechts, für die insb. die Verwaltungsgerichte und die Sozialgerichte, aber auch die Finanzgerichte zuständig sind. Die Sozialgerichte sind für alle in § 51 SGG genannten Streitigkeiten zuständig. Das betrifft traditionell Angelegenheiten der Sozialversicherung wie auch der Arbeitsförderung, seit 2005 aber auch die Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende SGB II (Nr. 4a) sowie der Sozialhilfe nach dem SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetzes (Nr. 6a). Im Übrigen sind nach § 40 VwGO die Verwaltungsgerichte für alle anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zuständig (s. 5.2.2).
ordentliche Gerichtsbarkeit
Als sekundären Rechtsschutz bezeichnet man den Rechtsschutz, der den Bürgern insb. bei privatrechtlichen Streitigkeiten zur Verfügung steht und durch den sog. ordentlichen Rechtsweg (Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG) gewährt wird. Die Begriffe „sekundär“ und „ordentliche Gerichtsbarkeit“ (hierzu 5.3) sind nur historisch erklärbar als Abgrenzung zur sog. Verwaltungsrechtspflege, die der Gerichtsbarkeit entzogen war (s. u. 5.2.3). Der Begriff „sekundärer“ Rechtsschutz passt zudem insofern nicht, als nach Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG bei einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt stets der Rechtsweg vor die ordentliche Gerichtsbarkeit gegeben ist, es sei denn, es ist ausdrücklich etwas anderes geregelt. Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit werden nach § 13 GVG auch die Strafgerichte gerechnet, obwohl das Strafrecht zum öffentlichen Recht gehört (s. 1.1.4; ausführlich Teil IV-3). Zur sog. besonderen, „außerordentlichen“ Gerichtsbarkeit gehört neben den Gerichten der öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten auch die Arbeitsgerichtsbarkeit (vgl. Art. 95 Abs. 1 GG).
Übersicht 19: Gerichtsbarkeiten in der Bundesrepublik Deutschland
Zuständigkeiten
Die sachliche Zuständigkeit der Gerichte richtet sich also nach der zugrunde liegenden Rechtsmaterie (s. Übersicht 19). Der Gerichtsweg ist dabei mehrstufig in Instanzen aufgebaut, um auch erstinstanzliche Entscheidungen durch eine Berufung (vollständige Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung sowohl in tatsächlicher Hinsicht (ggf. inkl. Beweisaufnahme) als auch im Hinblick auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung) bzw. Revision (Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung nur in rechtlicher Hinsicht) überprüfen lassen zu können.
Ungeachtet der großen Bedeutung der Bundesgerichte obliegt die Rechtsprechung organisatorisch überwiegend den Gerichten der Bundesländer (Art. 92 GG). Die örtliche (geografische) Zuständigkeit richtet sich im Verwaltungsgerichtsverfahren i. d. R. nach dem Sitz der Behörde (§ 52 Nr. 3 VwGO), im Sozialgerichtsverfahren zumeist nach dem Wohnsitz des klagenden Bürgers (§ 57 Abs. 1 SGG), im Zivilverfahren i. d. R. nach dem Wohnsitz des Beklagten (§§ 12 f. ZPO) bzw. dem gewöhnlichen Aufenthalt (§ 122 FamFG); im Strafrecht wird der Gerichtsstand i. d. R. durch den Ort der Tat bzw. den Wohnsitz des Angeklagten bestimmt (§§ 7 f. StPO).
BVerfG
Eine besondere Stellung nimmt das BVerfG ein, das in den in Art. 93 GG, § 13 BVerfGG genannten Fällen darüber wacht, ob die Regelungen des GG eingehalten werden. Von besonderer Bedeutung sind die Normenkontrollverfahren. Bei der abstrakten Normenkontrolle wird auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages unabhängig von einem konkreten Rechtsstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Bei der sog. konkreten Normenkontrolle erfolgt diese Überprüfung auf Vorlage eines Gerichts, welches in einem konkreten Fall ein Gesetze, auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG). Diese Entscheidungen haben – im Unterschied zu allen anderen Gerichtsentscheidungen – über den Einzelfall hinaus verbindliche Wirkung und Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG; vgl. 1.1.3.6). Das BVerfG hat in über 500 Fällen Gesetze und andere Rechtsnormen für verfassungswidrig erklärt; das ist zwar angesichts der Aktivität des Gesetzgebers eine relativ geringe Zahl, gleichwohl sind diese Entscheidungen von besonderer Bedeutung. So sind z. B. vom BVerfG die sog. Hartz-IV-Regelleistungen nach SGB II, insb. das Sozialgeld für Kinder (BVerfG 1 BvL 1 / 09 – 09.02.2010; hierzu III-4.2.1), und die Regelungen über die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung (BVerfG 2 BvR 2365 / 09 – 04.05.2011; s. IV-4.2) als nicht verfassungsgemäß angesehen worden. Über die Rechtmäßigkeit von Rechtsnormen im Rang unter formellen Gesetzen (RVO, Satzungen; hierzu 1.1.3) entscheiden i. d. R. die OVGs bzw. die LSGs in den Ländern (§ 47 VwGO; § 55a SGG). Schließlich kontrollieren die Landesverfassungsgerichte (mitunter Staats- oder Verfassungsgerichtshof genannt) die Einhaltung des jeweiligen Landesverfassungsrechts.
Verfassungsbeschwerde
Die Bürger können das BVerfG auch direkt wegen einer Verletzung ihrer Grundrechte anrufen (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Voraussetzung ist, dass sie selbst noch gegenwärtig und unmittelbar durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt, sei es eine Verwaltungsentscheidung, ein Gerichtsurteil oder ausnahmsweise auch ein Gesetz, in ihren Rechten betroffen sind. Damit sind in der Vergangenheit abgeschlossene Eingriffe in die Grundrechte ebenso wie sog. Popularklagen (Klagen für andere) ausgeschlossen. Grds. ist eine Verfassungsbeschwerde (hierzu im Einzelnen Pieroth et al. 2015, § 34) erst nach Ausschöpfung des Rechtsweges zulässig, d. h., dass alle möglichen Rechtsbehelfe (verwaltungsinterne Kontrollen, Berufung, Revision oder Beschwerde an die nächsthöhere Instanz) eingelegt und erfolglos gewesen sein müssen. Das BVerfG ist aber keine „Superrevisionsinstanz“, es prüft also nicht die Verletzung des „einfachen Rechts“, sondern nur des Verfassungsrechts und beschränkt die Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen darauf, ob diese „objektiv willkürlich“ sind und damit gegen Art. 3 GG verstoßen. Nur ausnahmsweise kann eine Verfassungsbeschwerde vor Ausschöpfung des Rechtsweges eingelegt werden, wenn der Verweis auf den Rechtsweg nicht zumutbar oder die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Angesichts der hohen Zahl von Verfassungsbeschwerden (jährlich über 6.000 Verfahren = 96% der anhängigen Verfahren) wurden mit drei Richtern besetzte Kammern eingeführt, die vorab prüfen, ob eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird. Letztlich wird nur etwa 2 % der Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Allerdings haben einige dieser Verfassungsbeschwerden die Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland entscheidend geprägt, z. B. die folgenden Entscheidungen (vgl. Grimm et al. 2007; Menzel 2011; Schwabe 2004):
■ Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sog. „Volkszählungs-Entscheidung“ 1 BvR 209 u. a./83 – 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1) sowie Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung (1 BvR 256 / 08 – 02.03.2010);
■ Schule und Religion:
– Lehrerin mit Kopftuch BVerfG 2 BvR 1436 /02 – 24.09.2003: Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage;
– Kruzifix-Entscheidung 1 BvR 1087 / 91 – 16.05.1995 (BVerfGE 93, 1): Die staatlich veranlasste Anbringung von Kreuzen in allgemeinen staatlichen Schulen ist mit dem Neutralitätsprinzip als objektivem Verfassungsrecht unvereinbar;
■ Familie und Elternverantwortung (Art. 6 GG):
– z. B. Stellung der Eltern im Jugendstrafverfahren (BVerfG 2 BvR 716 / 01 – 16.01.2003 = ZJJ 2003, 68 ff.);
– Unterhaltsberechnung (BVerfG 1 BvR 105, 559 / 95 − 05.02.2002);
– Familienname (BVerfG 1 BvR 683 / 77 − 31.05.1978 = E 48, 327): Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG, wenn Geburtsname der Frau nicht zum Familiennamen bestimmt werden kann;
– Ausschluss des Vaters eines nicht ehelichen Kindes von der elterlichen Sorge bei Zustimmungsverweigerung der Mutter ist verfassungswidrig (BVerfG 1 BvR 420 /09 − 21.07.2010);
■ Meinungs- und Kunstfreiheit (Art. 5 GG):
– „Mephisto“ – 24.02.1971 (BVerfGE 30, 173): Inhalt und Reichweite der Kunstfreiheit;
– „Lüth“ – 15.01.1951 (BVerfGE 7, 198): Wesen der Grundrechte und Inhalt und Umfang der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG;
■ Strafrecht (hierzu IV):
– Unschuldsvermutung (BVerfG 2 BvR 1481 / 04 – 14.0.2004);
– Verbot der Doppelbestrafung (BVerfGE 21, 378);
– Bestimmtheitsgebot (BVerfGE 92, 1 ff.; BVerfG 2 BvR 794 / 95 – 20.03.2002);
– Verbot des „großen Lauschangriffs“ (BVerfG 1 BvR 2378 / 98 – 03.03.2004; E 109, 279);
– Strafvollzug (BVerfGE 33, 1; BVerfG 2 BvR 1673 / 04 – 31.05.2006 – ZJJ 2006, 193 ff. zum Jugendstrafvollzug): Auch innerhalb sog. „Sonderrechtsverhältnisse“ (besonderer „Gewaltverhältnisse“ z. B. Strafvollzug, geschlossene Unterbringung) bedürfen weitere, über das Grundverhältnis hinausreichende Beschränkungen der Grundrechte (z. B. Briefzensur, beschränkte Nutzung von Medien) einer gesetzlichen Grundlage;
– Strafvollzug (BVerfG 1 BvR 409 / 09 – 22.02.2011): Die Strafvollstreckung ist zu unterbrechen und ein Inhaftierter zu entlassen, wenn und solange eine weitere Unterbringung nur unter menschenunwürdigen Bedingungen möglich ist;
– Sicherungsverwahrung und Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgebot für das Strafrecht (BVerfG 2 BvR 2365 / 09, 2 BvR 740 / 10 – 04.05.2011; BVerfG 2 BvR 1238 / 12 – 07.05.2013).
■ Verhältnis EU-Recht – Nationales Recht, BVerfG 2 BvR 2735 / 14 – 15.12.2015 (Vorbehalt der Verfassungsidentität) und BVerfG 2 BvR 2728 / 13 – 21.06.2016 zum sog. „Outright-Monetary-Transactions“-Programm der EZB)
In den letzten Jahren sind einige Massenbeschwerden mit jeweils über 20 – 30.000 Beschwerdeführern erhoben worden (z. B. 2007 knapp 35.000 Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung; vgl. BVerfG 1 BvR 256 / 08 v. 02.03.2010; in 2010 etwa 22.000 Beschwerden gegen die Arbeitnehmerdatenbank ELANA). Neben dem BVerfG haben die Verfassungsgerichte der Länder eine weit geringere Bedeutung entsprechend der eingeschränkten Bedeutung der Landesverfassungen (vgl. 1.1.3.1).
5.1.2 Europäische und internationale Gerichtsbarkeiten
Neben der nationalen Gerichtsbarkeit hat mittlerweile auch die Europäische Gerichtsbarkeit eine große Bedeutung, vor allem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg und der vom Europarat eingerichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. „Gerichtshof der EU“ bezeichnet genau genommen das gesamte Gerichtssystem der EU (Art. 19 EUV), das aus dem EuGH, dem ihm nachgeordneten „Gericht (erster Instanz) der Europäischen Union“ (EuG) sowie den noch einzurichtenden europäischen Fachgerichten (bislang nur Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union) besteht.
Der EuGH ist ein Organ der EU (Art. 19 EUV) und wacht vor allem über die Einhaltung des EU-Rechts (hierzu 1.1.5.1), kann aber direkt nur von Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union angerufen werden. Daneben wurde 1989 zur Entlastung des EuGH das schlicht „Gericht“ (Art. 256 AEUV) genannte „Europäische Gericht (EuG) erster Instanz“ eingerichtet, welches für Entscheidungen im ersten Rechtszug über Klagen zuständig ist, die von den Mitgliedstaaten oder Privatpersonen und Unternehmen in den Fällen erhoben werden, die die europäischen Verträge vorsehen. Das können insb. Klagen gegen Maßnahmen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sein, die an sie gerichtet sind oder sie unmittelbar und individuell betreffen, z. B. eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Geldbuße auferlegt wurde.
Eine der weitreichendsten Entscheidungen des EuGH ist die im Verfahren van Gend & Loos von 1963 getroffene, in der der EuGH den eigenständigen Charakter und den Vorrang des EU-Rechts vor den nationalen Rechtsordnungen hervorgehoben hat (s. 1.1.5.1). Die meisten Entscheidungen der EU-Gerichte befassen sich v. a. mit der Freizügigkeit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs und dem Diskriminierungsverbot, sie haben (damit) aber mitunter auch sozialrechtliche und verbraucherschützende Implikationen und Konsequenzen, z. B.:
■ 03.07.1986 – 66 / 85 (Lawrie Blum): Arbeitnehmerfreizügigkeit;
■ 12.03.1987 – 178 / 84: Reinheitsgebot für Bier vs. Warenverkehrsfreiheit;
■ 14.04.1994 – 392 / 92 (Schmidt): Wahrung von Ansprüchen der ArbN beim Übergang (Outsourcing) von Unternehmen;
■ 28.04.1998 – C 120 / 95 (Decker) und C 158 / 96 (Kohll): Kostenerstattung der Sozialversicherung bei Brillenkauf bzw. Zahnbehandlung im EU-Ausland;
■ 11.01.2000 – C-285 / 98, (Tanja Kreil): Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Bereich der Streitkräfte; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.;
■ 12. 7. 2001 – C-157 / 99 (Smits / Peerbooms): Krankenhausbehandlung von gesetzlich Versicherten im Ausland nur mit vorheriger Genehmigung der Krankenkasse (vgl. § 13 Abs. 5 SGB V)
■ 11.12.2003 – C 322 / 01 (Doc Morris): Verbot des Versandhandels mit auf dem deutschen Markt zugelassenen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten verstößt gegen EU-Gemeinschaftsrecht
■ 16.03.2004 – C-264 / 01 u. a. (AOK Bundesverband): Krankenkassen und deren Zusammenschlüsse sind keine Unternehmen i. S. v.Art. 101 ff AEUV
■ 22.11.2005 – C 144 / 04 (Mangold): Grenzen der zulässigen Altersdiskriminierung, Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit Gemeinschaftsrecht;
■ 15.03.2005 – C-209 / 03 (Bidar): Die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft (Art. 20 AEUV) können i. V. m. dem Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) einen Anspruch auf soziale Teilhabe und Sozialleistungen vermitteln;
■ 11.06.2009 – 300 / 07 (Oymanns): Krankenkassen sind als öffentlicher Auftraggeber verpflichtet, Aufträge auszuschreiben
■ 01.03.2011 – C-236 / 09: Beanstandung der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Versicherungstarifen.
■ 27.03.2014 – C-314 / 12: Internetprovider dürfen verpflichtet werden, den Zugang ihrer Kunden zu einer Website zu sperren, auf der Filme (oder andere urheberechtlich geschützte Medien) ohne Zustimmung der Rechteinhaber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um den illegalen Download zu verhindern.
■ 08.04.2014 – C-293 / 12, C-594 / 12 (Digital Rights Ireland): Beanstandung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung;
■ 13.05.2014 – C-131 / 12 (Google vs. Gonzáles): Betreiber von Internetsuchmaschinen sind zur Einhaltung der europäischen Datenschutzrichtlinie verpflichtet, unabhängig davon, ob die Datenverarbeitung in oder außerhalb Europas stattfindet. Sie sind bei personenbezogenen Daten, die auf von Dritten veröffentlichten Internetseiten erscheinen, für die von ihnen vorgenommene Verarbeitung verantwortlich. Sie können verpflichtet werden, Links und Snippets aus ihrem Webindex zu entfernen (sog. Recht auf Vergessen).
■ 21.09.2016 – C-592 / 14: EU-VO 1223 / 2009 verbietet das Inverkehrbringen von Tierversuchskosmetika auf dem Europäischen Markt
■ 21.12.2016 – C-203 / 15 u. C-698 / 15: Voraussetzungslose Vorratsdatenspeicherung ist nicht mit Unionsrecht vereinbar (s. III-1.2.3);
■ 16.02.2017 – C-219 / 15: nur begrenzte Pflicht des TÜV, Produkte (hier Brustimplantate) zu prüfen und unangemeldete Inspektionen durchzuführen;
■ 14.03.2017 – C-157 / 15 und C 188 / 15: Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar.
EGMR
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist kein EU-Gericht, sondern wurde vom Europarat eingerichtet und wacht vor allem über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, s. 1.1.5.2). Den EGMR können alle natürlichen Personen, nicht staatliche Organisationen und Personengruppen mit der Behauptung angehen, durch einen Vertragsstaat in einem von der Konvention und den Protokollen garantierten Recht verletzt worden zu sein (Art. 34 EMRK). Allerdings befasst sich der Gerichtshof mit der Angelegenheit erst nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Der EGMR hat (nicht nur) die Bundesrepublik wiederholt zu Schadensersatz verurteilt, seine Entscheidungen haben darüber hinaus erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Rechtspraxis, z. B.
■ Görgülü ./. Germany – 26.02.2004 – 74969 / 01 – JAmt 2004, 551: Sorgerechtsentscheidung zugunsten des leiblichen, nicht mit der Mutter verheirateten Vaters.
■ Haase ./. Germany – 08.05.2004 – 11057 / 02 – FamRZ 2005, 585: Selbst wenn ein Kind in einem für seine Erziehung günstigeren Umfeld untergebracht werden könnte, kann dies nicht rechtfertigen, es im Wege einer Zwangsmaßnahme der Betreuung durch seine biologischen Eltern zu entziehen;
■ Jalloh ./. Germany – 11.06.2006 – 54810 / 00 zum Verbot der zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei beschuldigten Drogendealern;
■ Gäfgen ./. Germany – 01.06.2010 – 22978 / 05: Die Androhung einer vorsätzlichen Misshandlung in einem Polizeiverhör ist unabhängig vom Verhalten des Betroffenen und der Beweggründe der Behörden als unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK (Folterverbot) einzustufen;
■ Schüth ./. Germany – 23.09.2010 – 1620 / 03: Die Straßburger Richter rügten im Fall der Kündigung eines Kirchenangestellten (der „außerhalb der von ihm geschlossenen Ehe mit einer anderen Frau zusammenlebte, die ein Kind von ihm erwartet“), dass dessen Kündigungsschutzklage selbst vom BAG und BVerfG abgewiesenen wurde und die deutschen Arbeitsgerichte keine angemessene Abwägung zwischen den Interessen des kirchlichen ArbGeb und denen des ArbN auf Achtung seines Privat- und Familienlebens vorgenommen haben;
■ Zaunegger ./. Germany – 3. 12.2009 – 22028 / 04: Absolutheit des alleinigen Sorgerechts unverheirateter Mütter verstößt im Hinblick auf den leiblichen, nicht ehelichen Vater gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK;
■ M ./. Germany – 17.12.2009 – 19359 / 04 zur nachträglichen Sicherungsverwahrung (Verstoß gegen Art 5 u. 7 EMRK) (vgl. IV-9.4.2);
■ Anayo ./. Deutschland – 21.12.2010 – 20578 / 07: Rechte des biologischen Vaters, Verhinderung des Umgangsrechts kann gegen Art. 8 EMRK verstoßen;
■ M. S.S. ./. Belgium and Greece – 21.01.2011 – 30696 / 09: Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland stellt aufgrund der Mängel im dortigen Asylsystem eine „erniedrigende und unmenschliche Behandlung“ dar;
■ Heinisch ./. Germany – 21.07.2011 – 28274 / 08: Arbeitnehmerpflichten und Meinungsfreiheit;
■ A. B. & C. ./. Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel – 7.11.2013 – C-199 / 12: Homosexualität als Asylgrund;
■ Tarakhel ./. Switzerland – 04.11.2014 – 29217 / 12: Rückführung nach dem Dublin-Abkommen ohne Gewährleistung von individuellen Garantien verstößt gegen Art. 3 EMRK; Abschiebung von Flüchtlingen ist nur bei Gewährleistung einer dem Kindesalter angemessenen Unterbringung sowie der gemeinsamen Familienunterbringung zulässig;
■ Lambert ./. France – 05.06.2015 – 46043 / 14: Passive Sterbehilfe ist zulässig; die künstliche Ernährung eines nach einem Unfall im Koma liegenden Patienten darf abgebrochen werden.
Internationale Gerichte
Neben den europäischen gibt es eine Reihe weiterer internationaler Gerichte, deren Bedeutung in einer globalen Welt zwar zunimmt, die von den einzelnen Staaten aber in unterschiedlichem Maße unterstützt werden. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag ist das oberste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Er ist u. a. zuständig für Fragen im Zusammenhang mit der UN-Charta, für die Auslegung internationaler Verträge, Fragen des Völkerrechts und die Feststellung von Völkerrechtsverstößen. Nur Staaten können Partei sein.
Demgegenüber werden vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Personen angeklagt, die in Verdacht stehen, schwere Kriegs- und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben (zum Strafrecht s. IV). Allerdings haben nur 121 der 193 UN-Staaten (alle EU-Staaten, nicht aber u. a. die USA, China, Russland, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan, Saudi-Arabien und die Türkei) das Statut unterzeichnet und ratifiziert und erkennen damit die Zuständigkeit und Entscheidungshoheit des IStGH an. Neben diesem ständigen IStGH gibt es, ebenfalls mit Sitz in Den Haag, noch weitere von der UN eingesetzte Tribunale, z. B. den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien oder für Ruanda. In Hamburg ansässig ist der Internationale Seegerichtshof (ISGH), der über die Auslegung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 entscheidet (vgl. z. B. die Verurteilung Russlands zur Freigabe des Greenpeace Schiffes „Artic Sunrise“ am 22.11.2013 – Az. 22).
Zum EuGH: http://curia.europa.eu/
Zum EGMR: http://echr.coe.int/
sowie http://egmr.org/ (in deutsch)
5.2 Verwaltungs- und sozialrechtliche Rechtskontrolle
Die Fach- und Rechtskontrolle der Sozialverwaltung (Verwaltungskontrolle) unterscheidet sich aufgrund einer spezifischen Verknüpfung von verwaltungsinternen und gerichtlichen Kontrollinstrumenten stark von der Rechtskontrolle im allgemeinen Rechtsverkehr. Man unterscheidet im öffentlich-rechtlichen Bereich erstens zwischen sog. formlosen Rechtsschutzmöglichkeiten und Aufsichtsverfahren (hierzu 5.2.1) und zweitens förmlichen Rechtsbehelfen, insb. aufgrund eines Widerspruchs (im Steuerrecht: Einspruch) bei Verwaltungsakten (hierzu 5.2.2), sowie drittens den Instrumenten der gerichtlichen Rechtskontrolle (s. 5.2.3 und Übersicht 20).
Übersicht 20: Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verwaltungsmaßnahmen (Rechtsbehelfe)
5.2.1 Verwaltungsinterne Kontrolle durch Aufsichtsverfahren
Behörden sind als öffentliche Verwaltungen hierarchisch gegliederte Organisationen zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Im Bereich der Ministerialverwaltung findet man in der Regel einen dreistufigen Behördenaufbau (s. 4.1.2). Auch die Selbstverwaltungsträger sind im inneren Behördenaufbau hierarchisch organisiert. Sinn und Zweck der hierarchischen Rangordnung ist neben möglichst effizienten Organisationsstrukturen und Entscheidungsfindungsprozessen auch eine interne Kontrolle der Verwaltung.
Fachaufsicht
Unter dem Begriff Fachaufsicht versteht man die inhaltliche, aufgabenbezogene Kontrolle einer übergeordneten Behörde gegenüber Sachentscheidungen einer nachgeordneten Ebene (vgl. z. B. § 117 Abs. 2 ThürKO) bzw. die Kontrolle des Dienstvorgesetzten über seine Mitarbeiter. Sie umfasst sowohl die Rechtmäßigkeit der Sachentscheidung als auch die Zweckmäßigkeit bei der Ermessensausübung (vgl. 3.4.2).
Dienstaufsicht
Rechtsaufsicht
Im Hinblick auf die Kontrolle des Aufbaus und der allgemeinen Geschäftsführung der Behörden sowie der Personalangelegenheiten spricht man hier auch von Dienstaufsicht. Demgegenüber geht es bei der Rechtsaufsicht lediglich um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, insb. der Selbstverwaltungsträger, auf ihre förmliche (vor allem verfahrensrechtliche) und materielle (inhaltlich rechtsbezogene) Rechtmäßigkeit (sog. Gesetzmäßigkeitskontrolle). Im Hinblick auf die staatliche Rechtsaufsicht gegenüber den Gemeinden in weisungsfreien Selbstverwaltungsangelegenheiten spricht man auch von Kommunalaufsicht (vgl. § 117 Abs. 1 ThürKO). Der innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestehende Entscheidungsspielraum des Selbstverwaltungsträgers bleibt dabei unangetastet.
Neben der Rechts- und Fachaufsicht gibt es noch die Rechnungsprüfung, die Überwachung der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung der öffentlichen Hand durch sog. Rechnungshöfe.
Welche Form der Aufsicht eingreift, richtet sich nach dem jeweiligen Verwaltungsaufbau (vgl. 4.1.2.1). Die Rechtsaufsicht des Staates ist unabhängig von der Verwaltungsorganisation stets zulässig und notwendig – es gibt also keinen rechtsfreien Raum. Die Fach- und Dienstaufsicht ist aber nur in einem hierarchischen Gefüge zulässig.
Das ist z. B. im Verhältnis des LJA (staatliche Behörde) zu den kommunalen JÄ nicht der Fall. In Selbstverwaltungsangelegenheiten, wie z. B. im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, gibt es keine Fachaufsicht über die Kommunen. Die Aufgaben des LJA sind ausdrücklich in § 85 Abs. 2 SGB VIII geregelt und beschränken sich mit Blick auf die kommunalen JÄ im Wesentlichen auf beratende und fördernde Tätigkeiten. Den LJÄ steht aber auch keine Rechtsaufsicht über die JÄ zu. Diese richtet sich nach den jeweiligen landesrechtlichen Bestimmungen (i. d. R. Kommunal- oder Gemeindeordnungen). Die Funktion der Kommunal- oder Rechtsaufsichtsbehörde über die kreisfreien Städte und Landkreise wird in den Ländern zumeist durch eine Landesmittelbehörde (z. B. Bezirksregierung, Regierungspräsidien, Landesverwaltungsamt, z. B. in Thüringen § 118 Abs. 2 ThürKO) wahrgenommen (sonst Innenministerium, § 171 NKomVG), die Rechtsaufsicht über kreisangehörige Gemeinden liegt in den meisten Bundesländern beim Landrat / Landkreis. Es gibt wie in den anderen Selbstverwaltungsangelegenheiten (z. B. Sozialhilfe) keine davon getrennte Rechtsaufsicht über die kommunalen (Jugend-) Ämter / Behörden. Das LJA kann gegenüber den JÄ lediglich Empfehlungen aussprechen und durch gezielte Beratung und (v. a. Ressourcen steuernde) Förderung diese zu einem bestimmten Verhalten veranlassen. Soweit das LJA in den staatlichen Behördenaufbau eingegliedert ist, unterliegt es selbst den Weisungen der nächsthöheren Behörde und der Fachaufsicht des Innenministeriums (z. B. § 15 NRW AGKJHG).
Im internen Verwaltungsaufbau der JÄ unterliegen deren Mitarbeiter grds. der Dienst- und Fachaufsicht ihrer Vorgesetzten, insb. der Jugendamtsleiter, der Sozialdezernenten und Bürgermeister. Wird das JA allerdings Amtspfleger oder -vormund, so überträgt es die Erledigung der Aufgabe einzelnen seiner Beamten oder Angestellten (§ 55 Abs. 2 S. 1 SGB VIII).Diese sind insoweit allein den Interessen des von ihnen vertretenen Mündels verpflichtet und unterstehen dabei nicht der Fachaufsicht durch eine staatliche Verwaltungsbehörde, sondern der Aufsicht des Familiengerichts (§ 1837 BGB; Münder et al. 2013b, § 55 Rz. 18 f.)
formlose Rechtsbehelfe
Aufsichtsverfahren werden entweder von Amts wegen durch die Aufsicht führende Behörde in Gang gesetzt oder durch die Beschwerde eines Bürgers ausgelöst. Sie sind Ausfluss des sog. Petitionsrechts nach Art. 17 GG. Mit der sog. Gegenvorstellung kann der Bürger ganz allgemein die nochmalige Überprüfung der Sach- und Rechtslage durch die Ausgangsbehörde anregen (z. B. weil ihm aufgefallen ist, dass offensichtlich ein Versehen oder Tippfehler vorliegt oder wichtige Unterlagen nicht eingegangen oder berücksichtigt worden sind). An die nächsthöhere Stelle richtet sich die Fachaufsichtsbeschwerde, mit der die inhaltliche Überprüfung eines Vorgangs oder einer Entscheidung angeregt wird, während man sich mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde über das persönliche Verhalten eines Mitarbeiters (z. B. Beleidigung) einer Verwaltung beklagt. Gegenvorstellungen und Beschwerden ist gemein, dass sie – wie eine Petition, „Eingabe“ oder ein Gesuch und damit anders als der Widerspruch (hierzu 5.2.2) – formlos, ohne Einhaltung einer bestimmten Frist und selbst dann zulässig sind, wenn der Beschwerdeführer als Person überhaupt nicht betroffen ist und für einen anderen handeln will. Ihr Nachteil ist allerdings, dass der Bürger keinen Rechtsanspruch auf eine Entscheidung hat, sondern die Bearbeitung im Ermessen der Behörde steht. Das veranlasst manche zu der Bemerkung, diese Rechtsbehelfe seien „formlos, fristlos, … aber auch fruchtlos“. Allerdings kann man dies so pauschal für die Praxis nicht bestätigen. Insb. (in Form und Inhalt) angemessene (und nicht querulierende) Gegenvorstellungen veranlassen die Verwaltung durchaus dazu, Fehler zu korrigieren, ohne dass ihr „ein Zacken aus der Krone bricht“. Vor Dienstaufsichtsbeschwerden wird gelegentlich gewarnt, weil sich die Sachbearbeiter persönlich getroffen und angeschwärzt fühlen könnten und man sich gerade in Abhängigkeitsverhältnissen keine Feinde machen sollte. Allerdings sollte man auch dies nicht so pauschal stehen lassen, zumal gerade in diesem Bereich auch Rechts- und Sozialanwälte stellvertretend aktiv werden können. In modern geführten und zunehmend bürgerfreundlicher organisierten Verwaltungen kann es sich kein Mitarbeiter erlauben, mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden einfach auszusitzen. Zumindest die Furcht vor einer negativen Presse wird die Amtsleitungen veranlassen, intern ein transparentes Berichtswesen zur Qualitätssicherung zu implementieren und sich ebenso ernsthaft mit „Kritik von außen“ zu beschäftigen.
Neben diesen allgemeinen Beschwerdemöglichkeiten gibt es eine Reihe spezifischer Kontroll- und Beschwerdestellen, insb. sog. Bundesbeauftragte, mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen, die sich der Anliegen der Bürger annehmen können, z. B.
■ Landes- und Bundesdatenschutzbeauftragte (vgl. III-1.2.3),
■ Beauftragte des Bundes für die Belange behinderter Menschen,
■ Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration,
■ Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten,
■ die Kinderschutzkommission des Bundestages,
■ Kinderbeauftragte der Kommunen,
■ Gleichstellungsbeauftragte des Bundes, der Länder und Kommunen.
5.2.2 Widerspruchsverfahren
Widerspruch
§ 62 SGB X ➝ § 51 SGG
Im Rahmen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle steht dem Bürger neben den nicht förmlichen Rechtsbehelfen mit dem sog. Widerspruch noch ein weiter gehender förmlicher Rechtsbehelf zur Verfügung. Für das förmliche Rechtsbehelfsverfahren gegen Verwaltungsakte (hierzu III-1.3.1) verweist § 62 SGB X entweder auf die Möglichkeiten des SGG oder der VwGO, soweit nicht ausdrücklich durch ein Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Zunächst muss also auch im Hinblick auf das verwaltungsinterne Widerspruchverfahren der (letztlich vor Gericht zu bestreitende) Rechtsweg geklärt werden, weil sich daraus auch die Regelungen für das sog. Vorverfahren ergeben. Nach § 51 SGG ist für Angelegenheiten der Sozialversicherung wie auch der Arbeitsförderung, der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (Nr. 4a) sowie der Sozialhilfe nach dem SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetzes (Nr. 6a) grds. der Sozialgerichtsweg einzuschlagen. Angelegenheiten nach dem BAföG, dem Heimrecht, dem WoGG und Zuwanderungsrecht (hierzu III-7) sowie der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII (hierzu III-3) sind in § 51 SGG nicht aufgeführt, weshalb es i. d. R. bei dem in § 40 VwGO vorgesehenen Verwaltungsrechtsweg bleibt. Eine Ausnahme hiervon bildet die gesetzliche Sonderrechtswegzuweisung z. B. für den Widerspruch der Personen- oder Erziehungsberechtigten nach § 42 Abs. 3 SGB VIII bei einer (noch andauernden) Inobhutnahme, über den im Hinblick auf den Personensorgerechtseingriff das FamG zu entscheiden hat (s. III-3.5.4). Demgegenüber handelt es sich bei einem Widerspruch gegen einen VA, der aufgrund einer Inobhutnahme ergeht (z. B. Kostenbescheid) und mit dem die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme immanent geprüft werden muss, um eine verwaltungsrechtliche Streitigkeit, die von den Verwaltungsgerichten geklärt wird.
Statthaftigkeit
Das Widerspruchsverfahren dient nicht nur dem Rechtsschutz des Bürgers und der Selbstkontrolle der Verwaltung, sondern auch der Entlastung der Gerichte (vgl. hierzu Sodan / Ziekow – Geis 2014, § 68 Rz. 1 ff.). Es handelt sich um ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren, das bislang i. d. R. erforderlich (und deshalb – wie man entsprechend der juristischen Terminologie sagt – „statthaft“) ist, bevor vor den Sozial- bzw. Verwaltungsgerichten Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erhoben werden kann. Ohne vorherigen Widerspruch ist eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage also grds. nicht zulässig (sog. Prozessvoraussetzung; § 78 Abs. 1 SGG/§ 68 Abs. 1 VwGO – mit den dort geregelten Ausnahmen; kommt es nicht zu einem Gerichtsverfahren, z. B. weil der Widerspruch Erfolg hatte, spricht man mitunter vom sog. „isolierten Vorverfahren“). Ausdrücklich ausgeschlossen ist ein Widerspruch teilweise im Zuwanderungs- und Asylrecht (§§ 15a Abs. 2 u. 4, 24 Abs. 4 AufenthG; § 11 AsylG). Mittlerweile haben auch mehrere Bundesländer aufgrund § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO bzw. § 78 Abs. 1 S. 1 SGG das Widerspruchsverfahren durch Landesgesetze in einigen Rechtsgebieten als nicht mehr „statthaft“ abgeschafft (in Nds zunächst durch § 8a Nds AGVwGO/§ 4a Nds AGSGG, seit 16.12.2014 §§ 80, 86 NJG; vgl. § 16a HE AGVwGO; § 110 JustG NRW; in Bayern besteht nach Art. 15 Abs. 1 Nr. 4 Bay AGVwGO ein fakultatives Widerspruchs- bzw. Klagerecht; hierzu Sodan / Ziekow – Geis 2014, § 68 Rz. 131 ff.). In Nds betrifft dies auch die im Verwaltungsrechtsweg zu behandelnden Streitigkeiten nach dem Kinder- und Jugendhilferecht (§ 80 NJG), andererseits sind z. B. Widersprüche gegen VAe aufgrund des UhVorschG weiterhin zulässig (§ 80 Abs. 3 Nr. 4i NJG; seit 01.07.2017: § 80 Abs. 2 Nr. 4i NJG); im SGG-Bereich ist der Widerspruch beim Blindengeld abgeschafft worden (§ 86 NJG), während in NRW neben dem UhVorschG ausdrücklich auch das Kinder- und Jugendhilferecht sowie das Wohngeldrecht vom Wegfall des Widerspruchsverfahrens ausgenommen wurde (§ 110 Abs. 2 Nr. 9 und 11 JustG NRW). In Thüringen wurde das Vorverfahren bislang nur in einigen Randbereichen abgeschafft (§§ 8a ff. Thür AGVwGO, z. B. bei einigen VAe des Landesverwaltungsamtes). Die Regelungen der Bundesländer sind also selbst dort, wo das Widerspruchsverfahren grds. weggefallen ist, sehr unterschiedlich; häufig finden sich Ausnahmeregelungen vom Wegfall des Widerspruchverfahrens im Bereich des Prüfungs- und Schulrechts sowie im Bau- und Immissionsschutzrecht (vgl. z. B. § 80 Abs. 2 NJG n.F.). Nach der neuen (seit 01.07.2017 geltenden) Regelung in § 80 Abs. 3 NJG können die niedersächsischen Behörden VAe in einigen Rechtsbereichen, in denen der Gesetzgeber das Widerspruchsverfahren grds. abgeschafft hat (z. B. bzgl. kommunaler Abgaben und im Bereich der Landwirtschaft), mit der Anordnung versehen, dass vor Erhebung der Anfechtungsklage die Rechtmäßigkeit des VA in einem Vorverfahren zu prüfen ist.
Die Abschaffung des Widerspruchverfahrens und damit die Zulässigkeit bzw. die Notwendigkeit zur direkten Klageerhebung ist nicht zum Vorteil des rechtsuchenden Bürgers (Schwellenerhöhung; ggf. Kostenlast nach § 154 VwGO) und hat in der Fachöffentlichkeit und bei Bürgerbeauftragten heftige Kritik ausgelöst (vgl. Nieuwland 2007, 38).
Fristen
Auch wenn man das Widerspruchsverfahren im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolle als „Vorverfahren“ bezeichnet, handelt es sich um ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren. Sofern nichts Besonderes geregelt ist (vgl. § 84a SGG), gelten deshalb neben dem SGG bzw. der VwGO auch die allgemeinen verfahrensrechtlichen Regelungen nach dem SGB I und X (§ 62 HS 2 SGB X; hierzu ausführlich III-1.2). Das Kontrollverfahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs § 83 SGG/§ 69 VwGO). Der Widerspruch ist nach § 84 Abs. 1 SGG bzw. § 70 Abs. 1 VwGO grds. bei der Behörde zu erheben, die den VA erlassen hat. Dies kann schriftlich (d. h. mit Originalunterschrift vgl. II-1.3.3) oder zur Niederschrift geschehen (d. h. mündlich zu Protokoll) und muss innerhalb eines Monats (nicht vier Wochen!) nach Bekanntgabe des VA (= Zugang) erfolgen. Zur Fristwahrung genügt es im Verwaltungsrechtsweg auch, den Widerspruch innerhalb der Frist bei der Widerspruchsbehörde einzureichen (§ 70 Abs. 1 S. 2 VwGO), im Sozialrechtsweg ist die Frist auch dann gewahrt, wenn der Widerspruch rechtzeitig irgendeiner deutschen Behörde oder einem Sozialversicherungsträger (§ 84 Abs. 2 SGG) zugeht. Im Hinblick auf den ggf. notwendigen Beweis ist es ratsam, den Widerspruch per Einschreiben zu schicken oder zusammen mit einem Zeugen bei der Post abzugeben. Wird der Schriftsatz durch Telefax übermittelt, so ist ein Sendebericht zu erstellen und auf etwaige Übermittlungsfehler, insb. die Richtigkeit der verwendeten Empfängernummer, zu überprüfen (nach BSG 20.10.2009 – B 5 R 84 / 09 B kommt es auf den Empfang der gesendeten technischen Signale im Telefaxgerät des Empfängers an, so auch noch BGH 25.04.2006 – IV ZB 20 / 05; mittlerweile ist nach BGH 19.03.2008 – III ZB 80 / 07 im Zivilrecht ein Sendebericht ausreichend; eine E-Mail ohne qualifizierende Signatur genügt aber nicht, vgl. VGH Kassel NVwZ-RR 2006, 377). Im Sozialrechtsweg beträgt die Frist bei einer Bekanntgabe ins Ausland drei Monate. Die Fristen beginnen nur zu laufen, wenn eine korrekte Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. III-1.3.1.1) schriftlich ergangen ist. Ist die Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben (z. B. weil sie erlassen oder vergessen wurde oder der VA mündlich erging) oder ist sie fehlerhaft, so verlängert sich die Frist bis auf ein Jahr (§ 66 SGG / § 58 VwGO).
Im Hinblick auf den Zugang des VA ist die 3-Tages-Regel des § 37 Abs. 2 SGB X zu beachten. Ein schriftlicher VA, der durch die Post übermittelt wird, gilt mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (Zugangsfiktion), selbst wenn er an seinem Ziel früher eintreffen sollte. Fällt das Fristende auf ein Wochenende oder einen gesetzlichen Feiertag, so endet die Frist grds. erst mit dem Ablauf des nächsten Werktages (§ 26 Abs. 3 SGB X; für den Widerspruch vgl. § 57 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 2 ZPO). Für die Fristberechnung sind nach §§ 62, 26 Abs. 1 SGB X im Übrigen die Regelungen der §§ 187 – 193 BGB anzuwenden. Will der Adressat des VA sichergehen, dass er den Ablauf der Widerspruchsfrist nicht verpasst, sollte er das (im Schreiben angegebene) Datum beachten, an dem der Bescheid frühestens zur Post gegangen ist, sodass von einer Bekanntgabe am dritten Tag danach auszugehen ist und die Frist gemäß § 187 Abs. 2 BGB mit Beginn des Folgetages zu laufen beginnt. Im Streit um die Rechtzeitigkeit eines Widerspruchs greift die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB X aber nur ein, wenn der Tag der Aufgabe zur Post in den Behördenakten vermerkt wurde. Ohne einen solchen sog. Abvermerk muss die Behörde den Zugang beweisen, wenn der Bürger diesen bestreitet (LSG Thür 19.02.2014 – L 1 U 1792 / 13 B ER).
Beschwer
Ein Widerspruch ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer geltend machen kann, durch den VA in seinen eigenen (subjektiv-öffentlichen) Rechten (vgl. 1.1.4) verletzt, d. h. selbst beschwert zu sein. Das ergibt sich aus dem Gesetz zwar unmittelbar nur für die Klage (vgl. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG/§ 42 Abs. 2 VwGO), setzt aber die Selbstbetroffenheit für das Vorverfahren durch den „Beschwerten“ logisch voraus (vgl. § 84 SGG/§ 70 VwGO). Für die Beschwerde reicht allein die Möglichkeit einer (Rechts-)Verletzung aus, weshalb Adressaten von belastenden VA grds. immer widerspruchsbefugt sind. Darüber hinaus können jedoch auch Dritte durch einen VA beschwert und somit zum Widerspruch berechtigt sein. Im allgemeinen Verwaltungsrecht ist das z. B. bei Baugenehmigungen der Nachbarn des Adressaten der Fall, da von einem Neu-, An- oder Umbau auch ihr Grundstück faktisch oder in seinem Wert betroffen sein kann. Im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende können z. B. die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft beschwert sein, die bei einer Kürzung des Alg II beim Adressaten wegen einer Sanktion nach § 31a SGB II (III-4.18) mitbetroffen sind, da dadurch das verfügbare Haushaltseinkommen sinkt.
Suspensiveffekt
Der Widerspruch hat – ebenso wie die Anfechtungsklage – bei der Anfechtung eines VA grds. eine aufschiebende Wirkung (sog. Suspensiveffekt; § 86a Abs. 1 SGG, § 80 Abs. 1 VwGO), d. h. der VA wird nicht bestandskräftig (vgl. III-1.3.1.2) und darf deshalb grds. nicht vollstreckt werden. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen u. a. in folgenden Fällen ein:
■ bei der Anforderung von öffentlichen Beiträgen, Abgaben und Kosten sowie Steuern und Gebühren (§ 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG/§ 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; zur Frage der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen einen Kostenbeitragsbescheid im Jugendhilferecht s. III-3.5.4),
■ bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten im Rahmen der Gefahrenabwehr (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO),
■ für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei VA, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen (§ 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG),
■ in den durch Bundes- oder Landesgesetz geregelten Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), z. B. § 39 SGB II (Aufhebung und Widerruf von Leistungen der Grundsicherung), §§ 77 Abs. 4, 88 Abs. 4 SGB IX (z. B. Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen); §§ 15a, 24 Abs. 4, 84 Abs. 1 AufenthG (insb. Versagung von Aufenthaltstiteln),
■ in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung des VA im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet worden ist (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG/§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hier besteht aber die Möglichkeit, die aufschiebende Wirkung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gerichtlich wieder herstellen zu lassen (§ 86b SGG; § 80 Abs. 5 VwGO; s. u.).
Devolutiveffekt
Wenn die Ausgangsbehörde dem Bürger nicht Recht gibt und damit seinem Widerspruch nicht „abhilft“ (§ 85 Abs. 1 SGG/§ 72 VwGO), erlässt den Widerspruchsbescheid im hierarchischen Behördenaufbau grds. die nächsthöhere Behörde (sog.Devolutiveffekt; § 85 Abs. 2 Nr.1 SGG/§ 73 VwGO), d. h. der Widerspruch muss grds. der nächsthöheren Behörde vorgelegt werden, wodurch eine weitere Stufe verwaltungsinterner Kontrolle hinzukommt. In Angelegenheiten der Sozialversicherung entscheidet die hierzu von der Vertreterversammlung bzw. dem Verwaltungsrat bestimmte Stelle (§ 85 Abs. 2 Nr. 2 SGG), in sonstigen (insb. kommunalen) Selbstverwaltungsangelegenheiten (Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises, z. B. Jugend- und Sozialhilfe), in denen ja eine nächsthöhere Behörde nicht besteht, entscheidet der Träger grds. selbst (§ 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO), es sei denn, durch Landesrecht wird etwas anderes bestimmt (z. B. erlässt den Bescheid über den Widerspruch gegen den VA einer kreisangehörigen Gemeinde in Selbstverwaltungsangelegenheiten nach § 27 Abs. 1 des Sächsischen Justizgesetzes das Landratsamt, dessen Rechtsaufsicht die Gemeinde untersteht, als Rechtsaufsichtsbehörde. Die Nachprüfung des VA unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit bleibt der Gemeinde vorbehalten). Entscheidet der Selbstverwaltungsträger nach § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO selbst, so wird nach dem jeweiligen Organisationsrecht (Gemeindesatzung; s. 1.1.3.4) eine entsprechende Stelle festgelegt, welche die Widerspruchsentscheidung trifft (z. B. der Jugendhilfeausschuss bei einem Widerspruch gegen einen VA des JA, zum Widerspruchsverfahren im Jugendhilferecht vgl. Münder et al. 2013b, Anhang Verfahren Rz. 57 ff.; im Hinblick auf die Sozialhilfe s. a. § 99 SGB XII). Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, bleibt noch der Klageweg (s. 5.2.3).
Verböserung
Im Rahmen der verwaltungsinternen Rechtskontrolle findet eine uneingeschränkte Überprüfung des Verwaltungshandelns – auch des Ermessens (anders ist dies im gerichtlichen Verfahren, vgl. § 114 VwGO; s. 3.4.2) – statt. Anders als im Klageverfahren vor den Gerichten (§ 88 VwGO) kann im Widerspruchsverfahren der VA unter Maßgabe der §§ 44 ff. SGB X (hierzu III-1.3.1.3) auch zuungunsten des Bürgers abgeändert werden (sog. „Verböserung“ – reformatio in peius), denn es handelt sich ja noch um eine verwaltungsinterne Prüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Insoweit ist der Vertrauensschutz bei einem noch nicht bestandskräftigen VA geringer als nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist. Die Rechtmäßigkeit der Widerspruchsentscheidung (und damit auch einer möglichen reformatio in peius) beurteilt sich damit stets nach dem materiellen und dem entsprechenden Organisationsrecht der Verwaltung (vgl. Diering / Timme 2016, Vor §§ 44 Rz. 12; Kopp / Schenke 2016, § 68 Rz. 10).
Kosten
Das Widerspruchsverfahren ist als Teil des Sozialverwaltungsverfahrens für den Beschwerdeführer kostenfrei (§§ 62, 64 SGB X). Soweit dem Bürger selbst, z. B. durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Kosten entstanden sind, werden diese im Rechtsbehelfsverfahren erstattet, wenn der Widerspruch Erfolg hatte (bzw. nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 SGB X unbeachtlich ist) und die Kosten „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung“ notwendig waren (§ 63 Abs. 1 u. 2 SGB X). Rechtsanwaltskosten werden also nur erstattet, wenn ein vernünftiger Bürger mit durchschnittlichem Bildungs- und Erfahrungsstand in der Sache einen Anwalt zurate gezogen hätte (BSG 24.05.2000 – 7 C 8 / 99 – NJW 2000, 611; BSG 25.02.2010 – B 11 AL 24 / 08). Nach einem Beschluss des BVerfG (1 BvR 1517 / 08 – 11.05.2009) kann es einem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung er im Widerspruchsverfahren angreifen will.
5.2.3 Gerichtliche Kontrolle
Die Kontrolle der Exekutive durch eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist historisch gesehen relativ neu, widersprach sie doch den Herrschaftsinteressen absoluter Monarchen und den früher üblichen feudalen Strukturen. Es war einfach kaum vorstellbar, den Monarchen bzw. den Adel zu verklagen. Soweit die Exekutive überhaupt einer Kontrolle unterlag, wurde diese von Aufsichtsbehörden wahrgenommen, die den Regenten unterstellt waren (sog. Verwaltungsrechtspflege), womit die Verwaltung einer „ordentlichen“ Gerichtsbarkeit entzogen war („Kameraljustiz“); vgl. hierzu die Legende vom Müller und dem König:
Der Müller und der König
Bei der Geschichte vom Streit des Müllers Grävenitz mit Friedrich II. handelte es sich teilweise um eine Legende. Grävenitz betrieb seine Bockwindmühle in unmittelbarer Nähe der Sommerresidenz „Sanssouci“ im heutigen Potsdam. Friedrich II. soll das Geklapper der Mühle so unerträglich geworden sein, dass er den Müller Grävenitz aufforderte, ihm seine Mühle zu verkaufen. Für den Kauferlös sollte er dann an anderer Stelle eine neue Mühle errichten. Als sich der trotzige Müller weigerte, den durch Erbpacht gesicherten Mühlenstandort zu verlassen, habe der König gedroht, ihm die Mühle kraft seiner königlichen Macht „ohne einen Groschen“ wegnehmen zu lassen. Daraufhin habe der mutige Müller geantwortet: „Gewiss, das könnten Eurer Majestät wohl tun, wenn es nicht das Kammergericht in Berlin gäbe.“
Historisch dokumentiert ist der eigentlich zivilrechtliche Streit des Müllers Christian Arnold, der seit 1762 eine Wassermühle im neumärkischen Pommerzig betrieb, mit dem Grafen von Schmettau um Absenkung der Erbpacht. Als der Müller seine Pacht nicht mehr bezahlen konnte, verklagte ihn der Graf und ließ die Wassermühle kurzerhand versteigern. Arnold wehrte sich mit einer Gegenklage und behauptete, Landrat von Gersdorff habe oberhalb seiner Mühle einen Karpfenteich angelegt, ihm somit das Wasser entzogen und ihn unverschuldet in Pachtrückstand getrieben. Als das Obergericht der Provinz Küstrin Arnolds Schadensersatzklage abwies, bat der Müller Arnold Friedrich II. um Rechtsbeistand. Der König nahm sich der Sache an, doch erst nachdem auch das extra einberufene Appellationsgericht das Küstriner Urteil als rechtens bestätigt hatte, griff der König, der vom Recht des Müllers überzeugt war, in das Gerichtsverfahren selbst ein. Im Glauben, die Justiz verweigere seinen Untertanen aus Standesdünkel eine gerechte Behandlung, schrieb er an den Justizminister von Zedlitz: „Der Herr wird mir nichts weiß machen. Ich kenne alle Advokaten-Streiche und lasse mich nicht verblenden. Hier ist ein Exempel nötig, weil die Canaillen enorm von meinem Namen Missbrauch haben, um gewaltige und unerhörte Ungerechtigkeiten auszuüben. Ein Justitiarius, der chicanieren tut, muss härter als ein Straßenräuber bestrafft werden. Denn man vertraut sich am ersten, und vorm letztern kann man sich hüten!“ Friedrich II. schickte einen Oberst und einen Regierungsrat nach Pommerzig, um sich Klarheit zu verschaffen. Erst als diese zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, verwies Friedrich den Fall, „um die Sache ganz kurz abzumachen“, zur endgültigen Klärung an das Berliner Kammergericht. Aber auch dieses höchste preußische Gericht wies die Arnold-Klage zurück (vgl. www.kleiekotzer.com/html/sanssouci_2.html, 27.06.2017).
Eine effektive, rechtsgebundene Kontrolle der öffentlichen Verwaltung ist heute Kennzeichen des Rechtsstaates. Allerdings trat die VwGO erst 1960 in Kraft, womit die Verwaltungsgerichtsbarkeit als unabhängiger Zweig der Justiz installiert wurde.
Verwaltungsgerichte
Den auf der Grundlage von Art. 95 GG eingerichteten Verwaltungsgerichten obliegt nach § 40 VwGO die Rechts- und Verwaltungskontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG in sämtlichen öffentlich-rechtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, soweit sie nicht gesetzlich anderen Gerichten zugewiesen sind. Den Sozialgerichten obliegt im Wesentlichen die Kontrolle der Sozialversicherungsträger sowie der Sozialhilfeverwaltung (vgl. § 51 SGG). Spezielle Rechtswegzuweisungen zur Sozialgerichtsbarkeit nach § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG enthalten u. a. § 13 Abs. 1 BEEG, § 27 Abs. 2 Berufliches RehabilitierungsG, § 11 Abs. 8 BVFG, § 68 Abs. 2 InfektionsschutzG sowie § 5 SchwHG.
Die Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut (§ 2 SGG/§ 2 VwGO). In erster Instanz sind i. d. R. die Sozial- und Verwaltungsgerichte zuständig (§ 8 SGG/§ 45 VwGO). Berufungs- und Beschwerdeinstanz sind die Landessozial- (§§ 28 f. SGG) bzw. Oberverwaltungsgerichte (OVG) und Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) der Bundesländer (§§ 46 ff. VwGO). Diese sind zudem erste Instanz bei Normenkontrollen von Satzungen, landesrechtlichen Vereinsverboten und Genehmigungen von Großprojekten. Revisions- und Rechtsbeschwerdeinstanz ist das BSG in Kassel bzw. das BVerwG mit Sitz in Leipzig. Auch diese können erstinstanzlich entscheiden, z. B. in Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen Bund und Ländern (§ 39 SGG/§ 50 VwGO).
Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Berufung und Revision grds. nur zulässig, wenn sie im Urteil zugelassen worden sind (§ 124 bzw. § 132 VwGO). Im sozialgerichtlichen Verfahren gilt dies immer für die Revision (§ 160 SGG), die Berufung bedarf mitunter der Zulassung (insb. in den sog. Bagatellsachen, vgl. § 144 SGG). Unterbleibt die Zulassung der Überprüfung, kann diese durch eine Beschwerde bei der nächsthöheren Instanz beantragt werden (sog. Nichtzulassungsbeschwerde, §§ 145, 160a SGG / §§ 124a, 133 VwGO).
Klagearten
Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (auf Aufhebung eines belastenden bzw. auf Erlass eines begünstigenden VA gerichtete Gestaltungsklagen, vgl. § 54 SGG/§ 42 VwGO) setzen grds. ein Widerspruchsverfahren voraus (beachte insoweit die Ausnahmeregelung in einigen Bundesländern, s. 5.2.2). Die Erhebung dieser Klagen ist nur innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheids zulässig (§ 87 SGG/§ 74 VwGO). Bei einer fehlenden oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung kann die Klage innerhalb eines Jahres erhoben werden (§ 66 SGG/§ 58 VwGO). Die Klage ist grds. nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, in seinen Rechten verletzt zu sein (Klagebefugnis, vgl. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG/§ 42 VwGO). Eine sog. Untätigkeitsklage, bei der es ja an einem VA gerade fehlt, weil die Behörde nicht entscheidet, kann nach § 88 Abs. 2 S. 1 SGG/§ 75 S. 2 VwGO nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Einlegung des Widerspruchs bzw. des Antrags auf Erlass eines VA bzw. nach § 88 Abs. 1 S. 1 SGG nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des VA erhoben werden. Ziel der sog. allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG; vgl. § 43 Abs. 2 VwGO, insb. Folgenbeseitigungsanspruch) bzw. Unterlassungsklage ist u. a. die Vornahme bzw. Unterlassung sog. schlicht-hoheitlicher Verwaltungsmaßnahmen bzw. Realakte (also nicht eines VA, wohl aber die Umsetzung eines VA, z. B. die Auszahlung eines bewilligten Zuschusses) oder die Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen Verwaltungshandelns. Ziel einer Feststellungsklage (§ 55 SGG/§ 43 Abs. 1 VwGO) ist die verbindliche Feststellung, dass ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis (z. B. die Staatsangehörigkeit, eine Gesundheitsstörung oder Schwerbehinderung) besteht bzw. nicht besteht (z. B. wegen Nichtigkeit eines VA). Sie ist aber nur zulässig, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung als solcher hat, was i. d. R. nicht der Fall ist, wenn sich das Ziel immanent mit einer Gestaltungs- oder Leistungsklage erreichen lässt (§ 43 Abs. 2 VwGO). Obwohl § 55 SGG keine entsprechende Regelung enthält, gilt der Subsidiaritätsgrundsatz grds. auch für die sozialgerichtliche Feststellungsklage (BSG B 10 LW 4 / 05 R – 05.10.2006), es sei denn, es soll eine Feststellung gegenüber einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ergehen, da diese nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist und demzufolge die gerichtliche Feststellung umsetzen wird, ohne dass es eines vollstreckbaren Verpflichtungs- oder Leistungsurteils bedarf (BSG B 1 KR 4 / 09 R – 27.10.2009).
Untersuchungsgrundsatz
Im sozial- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren gilt – anders als im streitigen zivilgerichtlichen Verfahren (hierzu 5.3.1) – der Untersuchungsgrundsatz (Amtsermittlungsgrundsatz, z. T. auch „Inquisitionsmaxime“ genannt), nach dem der Sachverhalt durch das Gericht von Amt wegen ggf. durch Beweiserhebungen festgestellt werden muss (§ 103 SGG/§ 86 VwGO).
einstweiliger Rechtsschutz
Schon vor Erhebung einer bzw. vor der gerichtlichen Entscheidung über eine Klage besteht die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes (hierzu ausführlich Francke / Dörr 2010, 146 ff.), damit während der manchmal mehrjährigen Dauer der Gerichtsverfahren nicht wesentliche Rechte faktisch verloren gehen. Insoweit unterscheidet man die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1 SGG/§ 80 Abs. 5 VwGO) und den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG/§ 123 VwGO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass Tatsachen, aus denen überhaupt ein Anspruch des Antragsstellers abgeleitet werden kann (Anordnungsanspruch), und zudem ein Anordnungsgrund glaubhaft (z. B. durch eine eidesstattliche Versicherung nach § 294 ZPO) gemacht werden. Ein Anordnungsgrund liegt nur dann vor, wenn der Antragsteller glaubhaft machen kann, dass die aufschiebende Wirkung bzw. einstweilige Anordnung erforderlich ist, um wesentliche Nachteile oder drohende Gefahren im Hinblick auf seine Rechte zu verhindern. In beiden Fällen überprüfen die Gerichte die Frage, wer denn nun eigentlich „Recht hat“, nicht umfassend, sondern lediglich in einem summarischen Verfahren, ob die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bzw. der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Hinblick auf den Streitgegenstand erforderlich und angemessen ist. Hierbei erfolgt eine Abwägung der gegenseitigen Interessen. Dabei darf grds. die Entscheidung in der Hauptsache, d. h. der normalen Klage, nicht vorweggenommen werden. Eine Ausnahme ergibt sich im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums (vgl. BVerfGE 46, 166, 181; BVerwGE 64, 318; OVG Koblenz 04.04.2003 – 12 B 10469 / 03 – NVwZ-RR 2003, 657). In aller Regel werden aber auch Sozialleistungen nicht in voller Höhe und auf Dauer, sondern nur im „zum Leben unerlässlichen“ Umfang angeordnet. Das Gericht entscheidet dann durch Beschluss (§ 86b Abs. 4 SGG/§ 123 Abs. 4 VwGO); gegen diesen ist eine „Beschwerde“ nicht immer möglich (§ 172 Abs. 3 SGG/§ 146 VwGO) bzw. nur, wenn sie vom OVG / VGH zugelassen wird (§ 146 Abs. 4 VwGO).
5.2.4 Kostenrisiken
In Sozialverwaltungsverfahren gilt bislang noch der Grundsatz der Kostenfreiheit (§ 64 SGB X), das gilt auch für das Rechtsbehelfsverfahren nach § 62 SGB X. Soweit dem Bürger selbst, z. B. durch die Beauftragung eines Rechtsanwalts, Kosten entstanden sind, werden diese allerdings nur im Rechtsbehelfsverfahren und nur dann erstattet, wenn sie „zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung“ notwendig waren (§ 63 Abs. 2 SGB X; s. o. 5.2.2. a. E.; BSG 25.02.2010 – B 11 AL 24 / 08).
Im Sozialgerichtsverfahren sowie in manchen Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsverfahren (insb. Jugendhilfe) werden nach § 183 SGG/§ 188 VwGO keine Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) erhoben. Auch besteht kein Anwaltszwang, d. h. der Bürger kann selbst Klage erheben und vor Gericht auftreten. Nur vor dem BSG (§ 166 SGG) und dem BVerwG sowie dem OVG (§ 67 VwGO) muss man sich durch einen Rechtsanwalt oder Rechtshochschullehrer mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Die Behörden entsenden i. d. R. Sachbearbeiter oder eigene Juristen.
Wer den Rechtsstreit im Verwaltungsgerichtsverfahren allerdings verliert, muss der anderen Partei die Kosten einschließlich der notwendigen Aufwendungen für einen Rechtsanwalt erstatten (§ 154 VwGO). Im Sozialgerichtsverfahren muss der Bürger zwar i. d. R. nicht die Kosten der Behörde erstatten, allerdings muss er selbst die notwendigen Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung durch einen ggf. hinzugezogenen Anwalt sowie die ihm u. U. vom Gericht auferlegten Kosten tragen (§§ 192 f. SGG). Das ist insb. der Fall, wenn durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm der Vorsitzende in einem Termin die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt hat (§ 192 Abs. 1 SGG).
Zwar gelten die Regelungen der Prozesskostenhilfe (PKH; s. 5.3.3) auch für das sozialgerichtliche Verfahren (vgl. § 73a SGG), PKH wird aber nicht gewährt, wenn Gerichtskostenfreiheit besteht und die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich erscheint, weil die Sache einfach gelagert ist (BVerwG NJW 1989, 665).
Francke / Dörr 2010; Krasney / Udsching 2011.
Zur Verwaltungskontrolle vgl. auch das Aufbauschema II (Gutachtliche Prüfung einer Widerspruchsentscheidung) im Anhang V-3.
5.3 Ordentliche Gerichtsbarkeit
Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit gehören alle Gerichte, denen die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die Familiensachen und die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie die Strafsachen zugewiesen sind (§ 13 GVG). Im Folgenden beschränkt sich die Darstellung auf die Verfahren in zivilrechtlichen Streitigkeiten. Auf die Strafgerichte wird in Teil IV eingegangen. An die Zivilgerichtsbarkeit wendet sich der Bürger grds. nicht wegen hoheitlicher Maßnahmen (s. o. primärer Rechtsschutz), sondern weil ein Konflikt mit einem anderen Bürger (oder einer juristischen Person) nicht anders lösbar erscheint (zu den zunehmend wichtiger werdenden außergerichtlichen Streiterledigungsformen vgl. I-6) und er deshalb eine Entscheidung durch einen unabhängigen Dritten, das Gericht, erwartet (sog. sekundärer Rechtsschutz). Nur ausnahmsweise werden Hoheitsakte von den Zivilgerichten überprüft (z. B. der Eingriff in die Personensorge bei der Inobhutnahme durch das JA nach § 42 Abs. 3 SGB VIII; Amtshaftungsanspruch gegen einen Hoheitsträger nach Art. 34 GG, § 839 BGB).
Auch die ordentliche Gerichtsbarkeit ist mehrstufig aufgebaut (s. Übersicht 19) und gewährleistet dadurch eine mehrmalige Rechtskontrolle im Instanzenzug durch die Rechtsmittel Berufung und Revision. Das Amtsgericht entscheidet im Zivilverfahren stets mit einem Einzelrichter (u. a. sog. Zivil- oder Familienrichter). Beim Landgericht entscheidet entweder die Zivilkammer oder die Kammer für Handelssachen (§ 105 GVG) bzw. der Einzelrichter. Beim OLG und BGH entscheiden im Zivilverfahren die Zivilsenate. Die Amtsgerichte sind für Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 5.000 € zuständig sowie – ohne Rücksicht auf den Streitwert – insb. für Wohnraummietstreitigkeiten (§ 23 GVG). Für Familiensachen werden bei den Amtsgerichten besondere Abteilungen, die Familiengerichte und die Betreuungsgerichte, eingerichtet (§§ 23a ff. GVG). In der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird zwischen der sog. „streitigen Gerichtsbarkeit“ (allgemeine Zivilprozesse) sowie der normativ als nicht streitig angesehenen sog. „freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG-Verfahren) unterschieden.
5.3.1 Streitiges Gerichtsverfahren
Zur streitigen Gerichtsbarkeit gehören neben den allgemeinen zivilrechtlichen Streitigkeiten auch das sog. Mahnverfahren (§§ 688 ff. ZPO), das Zwangsvollstreckungsverfahren (§§ 704 ff. ZPO) sowie das Insolvenzverfahren (§§ 11 ff., §§ 304 ff. InsO). Das streitige Gerichtsverfahren beginnt i. d. R. mit einer Klage (§ 253 ZPO) bzw. einem Mahnantrag (§ 690 ZPO) und endet mit einem Urteil (§§ 300 ff. ZPO). Die Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen Kläger und Beklagtem kann aber auch nach §§ 1025 ff. ZPO durch ein privates Schiedsgericht erfolgen (vgl. 6.2.3).
Im Hinblick auf den Streitgegenstand und die Beweisführung gilt im streitigen Verfahren der sog. Beibringungsgrundsatz, d. h. das Gericht ist an die Tatsachen, die von den Parteien vorgebracht werden, gebunden (eine Ausnahme gilt z. B. bei falschen Eingeständnissen zugunsten der gegnerischen Partei, vgl. § 138 Abs. 1 ZPO). Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, gelten grds. als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Beweislast
Werden Sachverhalte bestritten, müssen sie grds. von der Partei bewiesen werden, die sich auf sie beruft. Eine Prüfung von Tatsachen von Amts wegen erfolgt nur ausnahmsweise, z. B. im Hinblick auf Prozessvoraussetzungen oder die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen.
Zwangsvollstreckung
Insolvenzverfahren
Die Zwangsvollstreckung ist das staatliche Verfahren zur zwangsweisen Durchsetzung von Rechtsansprüchen. Die eigenmächtige Durchsetzung (Selbstjustiz) auch von berechtigten Forderungen ist grds. rechtswidrig und nur ausnahmsweise in den Grenzen der erlaubten Selbsthilfe (z. B. zu Gefahrenabwehr, §§ 229, 562b, 859 BGB) zulässig. Unterschieden werden die Zwangsvollstreckung wegen privatrechtlicher Einzelforderungen, die Zwangsmaßnahmen nach dem FamFG (z. B. die Auferlegung von Zwangsmitteln nach § 35 FamFG), die strafrechtliche Strafvollstreckung (hierzu IV-3.2) sowie die Verwaltungsvollstreckung (hierzu III-1.5). Von der (zivilrechtlichen) Zwangsvollstreckung zu unterscheiden ist das sog. Insolvenzverfahren, bei dem es nicht um eine Einzelforderung gegen den Schuldner geht, sondern der Schuldner zahlungsunfähig ist und die gegen ihn gerichteten Forderungen insgesamt nicht bedienen kann (zum sog. Privat- bzw. Verbraucherinsolvenzverfahren vgl. II-1.3.1.2).
Die privatrechtliche Zwangsvollstreckung ist nicht schon zulässig, wenn jemand seine vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Vielmehr muss der Gläubiger bei Leistungsstörungen grds. vor Gericht klagen und einen Vollstreckungstitel erwirken, den er insb. mit einem rechtskräftigen Urteil erlangt (§§ 704, 794 ZPO). Im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung ist ein Gerichtsverfahren nicht notwendig, vielmehr genügen ein bestandskräftiger VA (hierzu II-1.4.1.2) und eine Vollstreckungsanordnung. Behörden können sich somit durch einen Bescheid ihre Vollstreckungstitel selbst schaffen, wenn sich der Bürger nicht rechtzeitig dagegen wehrt (insb. durch Widerspruch).
Pfändung
Aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols dürfen grds. nur staatliche Gerichte (Vollstreckungsgericht) sowie die Gerichtsvollzieher die Zwangsvollstreckung insb. durch Pfändung (entweder Forderungsüberweisung oder Beschlagnahme von beweglichen Sachen, sichtbar durch den „Kuckuck“ als Pfandsiegel) durchführen.
Zur Gewährleistung eines Existenzminimums hat der Gesetzgeber sog. Pfändungsfreigrenzen bestimmt, die sich nach dem Nettoeinkommen und der Zahl der unterhaltspflichtigen Personen richten (§§ 850 ff. ZPO). Sie betragen derzeit für eine Einzelperson 1049,99 €, bei einer unterhaltspflichtigen Person 1439,99 € sowie zusätzlich 220 € für jede weitere unterhaltspflichtige Person (wenn der Schuldner den Unterhalt auch tatsächlich zahlt). Vom Einkommen, welches über die Pfändungsfreigrenzen hinausgeht, verbleibt ein Teil ebenfalls beim Schuldner. Allerdings sind bestimmte Einkommensbestandteile (z. B. Aufwandsentschädigungen, Gefahrenzulagen, Erziehungsgelder und Studienbeihilfen) sowie unterschiedliche Formen von Renten- und Unterstützungsleistungen der Pfändung nicht oder nur bedingt unterworfen (§§ 850a, 850b ZPO). Im Fall der Vollstreckung von Unterhaltsansprüchen gelten die in § 850c ZPO bezeichneten Pfändungsgrenzen nicht (§ 850d ZPO). Besonderheiten gelten für die Pfändung von Girokonten: Seit dem 01.07.2010 können Kontoinhaber ihr Girokonto in ein Pfändungsschutzkonto (sog. P-Konto) umwandeln lassen, bei dem der Schuldner ohne gerichtliches Verfahren einen automatischen Basis-Pfändungsschutz in Höhe des unpfändbaren Freibetrags erhält (§ 850k ZPO). Die Erhöhung der Pfändungsfreigrenzen führt gleichzeitig zur Erhöhung des Sockelpfändungsschutzes beim P-Konto.
5.3.2 Freiwillige Gerichtsbarkeit
Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Mit freiwilliger Gerichtsbarkeit bezeichnet man eine Reihe ganz unterschiedlicher Angelegenheiten, die von den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, z. T. auch von Notaren und Behörden, nach dem zum 01.09.2009 in Kraft getretenen „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) wahrgenommen werden und sich gerade dadurch – unabhängig von ihrem höchst unterschiedlichen Themenkreis – von den streitigen Verfahren nach der ZPO abgrenzen (ausführlich Jurgeleit 2010; Meysen 2014). Neben den Familiensachen (§§ 111 ff. FamFG), für die das FamFG eine bereichsspezifische Verfahrensordnung darstellt (hierzu ausführlich II-2.1 u. II-2.4.6), gehören nach § 23a GVG zu den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit insb.
■ Betreuungssachen (§§ 271 ff. FamFG),
■ Unterbringungssachen (§§ 312 ff. FamFG),
■ betreuungsgerichtliche Zuweisungssachen (§§ 340 f. FamFG),
■ Nachlass- und Teilungssachen (§§ 342 ff. FamFG),
■ Registersachen und unternehmensrechtliche Verfahren (§§ 374 ff. FamFG),
■ Verfahren in Freiheitsentziehungssachen (§§ 415 ff. FamFG),
■ Aufgebotsverfahren (§§ 433 ff. FamFG),
■ Grundbuchsachen (§ 23a Abs. 2 Nr. 8 GVG),
■ sonstige Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, soweit sie durch Bundesgesetz den Gerichten zugewiesen sind (§ 23a Abs. 2 Nr. 11 GVG; §§ 410 ff. FamFG).
Zum Teil (z. B. Beurkundungen, Grundbuchsachen) handelt es sich um Rechtspflegeakte, die auch als verwaltungsähnliche Tätigkeit qualifiziert und deshalb Rechtspflegern übertragen werden. Einige sog. Unterhalts- und Güterrechtskonflikte gelten als sog. Familienstreitsachen (§§ 112 f. FamFG), weshalb insoweit auch einige Regelungen der ZPO entsprechende Anwendung finden.
Untersuchungsgrundsatz
In den Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit spricht man nicht von Klage (und damit auch nicht von Kläger und Beklagtem), vielmehr wird das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag tätig. Man spricht deshalb vom Antragsteller und den Beteiligten. Das Verfahren endet i. d. R. nicht mit einem Urteil, sondern durch Beschluss (§§ 38 ff., 95 Abs. 2 FamFG), wogegen das Rechtsmittel der Beschwerde (nicht Berufung) eingelegt werden kann (§§ 58 ff. FamFG). In vielen Angelegenheiten besteht kein Anwaltszwang (Ausnahme teilweise in Familiensachen, § 113 FamFG). Anders als in den streitigen Zivilprozessen gilt in der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Untersuchungs- bzw. Amtsermittlungsgrundsatz, d. h. das Gericht entscheidet selbst, welche Ermittlungen es anstellt und welche Beweismittel es heranzieht. Die Verhandlungen sind meist nicht öffentlich (§ 170 Abs. 1 GVG) oder werden oft ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage entschieden.
5.3.3 Kostenrisiken
Anders als bei den sozialgerichtlichen oder manchen verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren besteht im Zivilverfahren ein z. T. erhebliches Kostenrisiko für den Bürger. Zunächst muss der Kläger einen Gerichtskostenvorschuss zahlen, d. h. das Gericht wird überhaupt erst dann tätig, wenn ein Teil der zu erwartenden Gerichtskosten vorab bezahlt worden ist (Ausnahme für öffentliche Träger der Jugend- und Sozialhilfe; § 2 GKG; § 64 Abs. 3 S. 2 SGB X; teilweise nach Landesrecht auch für freie Träger). In der streitigen Gerichtsbarkeit besteht ab der Landgerichtsebene Anwaltszwang (§ 78 Abs. 1 ZPO), in Familiensachen z. T. bereits beim Amtsgericht (§ 114 FamFG). Derjenige, der das Gerichtsverfahren verliert, muss der anderen Partei die Prozess- einschließlich der Anwaltskosten erstatten (§ 91 Abs. 1 ZPO). Im FamFG-Verfahren erfolgt die Kostenverteilung nach „billigem Ermessen“ (§ 81 Abs. 1 FamFG), d. h. es wird eine möglichst faire Verteilung vorgenommen. Für viele Bürger ist deswegen der Zugang zum Recht durchaus nicht leicht. Der durch das GG garantierte Rechtsschutz verlangt aber, dass die Prozessführung und -verteidigung grds. nicht an fehlenden finanziellen Mitteln einer Partei scheitert darf, weshalb mit der Prozesskostenhilfe (PKH) (§§ 114 ff. ZPO) bzw. der Verfahrenskostenhilfe (§§ 76 ff. FamFG) eine Form rechtsbezogener Sozialhilfe zur Verfügung steht. PKH wird auch in arbeitsrechtlichen Verfahren (§ 11a ArbGG) gewährt.
Prozesskostenhilfe
Nach §§ 114 ff. ZPO (die nach § 76 FamFG für die Verfahrenskostenhilfe mangels anderslautender Regelung entsprechend gelten) kann PKH in Anspruch genommen werden, wenn die Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine PKH beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände davon absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht (§ 114 Abs. 2 ZPO; vgl. § 1 Abs. 3 BerHG; 4.1). Im Rahmen der PKH wird die Partei von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten befreit. Im Übrigen trägt der Staat die Kosten der Prozessführung falls notwendig zunächst ganz oder teilweise oder räumt eine Ratenzahlung ein (§§ 120, 122 ZPO). Doch das Prozessrisiko bleibt. Zwar werden bei der Prüfung des PKH-Anspruchs summarisch (d. h. relativ grob „im Überschlag“) auch die Erfolgsaussichten geprüft (z. B. ob die Klage in sich schlüssig und die Rechtsansicht zumindest vertretbar ist oder die höchstrichterliche Rechtsprechung gefestigt dagegen steht), schwierige Rechtsfragen und die Beweisaufnahme werden aber ebenso wenig vorweggenommen wie die spätere Entscheidung. Verliert ein PKH-Empfänger ein Gerichtsverfahren, muss er neben den eigenen auch noch die Anwaltskosten der Gegenpartei sowie ggf. die Gerichtskosten tragen (§ 123 ZPO). Die PKH ist keine Rechtsschutzversicherung.
PKH erhalten nur Parteien, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen können (§ 114 ZPO). Die Berechnung des maßgeblichen Einkommens richtet sich nach § 82 SGB XII (§ 115 ZPO). PKH ohne eigene Kostenbeteiligung können Personen erhalten, die einen Anspruch auf Beratungshilfe nach dem BerHG haben (hierzu 4.2; vgl. http://www.pkh-fix.de, 27.06.2017). PKH erhalten aber auch Personen, deren zu berücksichtigendes Einkommen die Grenzen der Beratungshilfe übersteigt.
Eine Reform des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts trat zum 01.01.2014 in Kraft. Entgegen anderslautender Meldungen wurden die Freibeträge (siehe 4.2) weder gekürzt noch die Ratenzahlungshöchstdauer verlängert. Allerdings wurde die ehemals in § 115 Abs. 2 ZPO gelistete Gebührentabelle abgeschafft. Nach der neuen Regelung wird rechtsuchenden Personen, deren einzusetzenden Einkünfte mindestens 20 € betragen, das Recht eingeräumt, die anfallenden Prozesskosten in monatlichen Raten in Höhe der Hälfte des einzusetzenden Einkommens zu zahlen (§ 115 Abs. 2 ZPO). PKH wird nach § 115 Abs. 4 ZPO allerdings nicht bewilligt, wenn die Kosten der Prozessführung der Partei vier Monatsraten und die aus dem Vermögen aufzubringenden Teilbeträge voraussichtlich nicht übersteigen. Insgesamt sind höchstens 48 Monatsraten aufzubringen, egal wie viele Instanzen der Prozess durchläuft. Darüber hinaus anfallende Kosten werden erlassen – das Prozessrisiko (s. o.) bleibt allerdings.
Wird PKH bewilligt, wird nach § 121 ZPO ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt beigeordnet, wenn eine anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist (z. B. in Scheidungssachen beim FamG, sog. Anwaltszwang, s. 5.3.3), die anwaltliche Vertretung erforderlich erscheint oder die gegnerische Partei anwaltlich vertreten ist und ein Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts gestellt wird. Statt der PKH-Bewilligung kann das FamG auf Antrag einer Partei durch einstweilige Anordnung auch die Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt oder zur Zahlung eines Kostenvorschusses für ein gerichtliches Verfahren regeln (§ 246 Abs. 1 FamFG).
Der Antrag auf Bewilligung der Prozess-/Verfahrenskostenhilfe ist nach § 117 ZPO/§ 76 FamFG bei dem Prozessgericht zu stellen. Er kann dort auch in der Geschäftsstelle zu Protokoll erklärt werden. Vordrucke zur Beantragung der Prozess-/Verfahrenskostenhilfe nebst der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind bei den AGs und über die Internetseiten der Landesjustizverwaltungen verfügbar. Mit dem PKH-Antrag wird in der Praxis zumeist über einen Rechtsanwalt zugleich ein Klage- bzw. Schriftsatzentwurf eingereicht, aufgrund dessen das Gericht die Erfolgsaussichten überprüfen kann. Dem PKH-Antrag sind eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen (§ 117 Abs. 2 ZPO). Zwar dürfen die Erklärung und die Belege dem Gegner nur mit Zustimmung der Partei zugänglich gemacht werden. Andererseits ist dem Gegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob er die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH für gegeben hält, soweit dies aus besonderen Gründen nicht unzweckmäßig erscheint (§ 118 Abs. 1 ZPO).
BMJV 2017a; Groß 2015
1. Auf welchem Gerichtsweg kann man sich gegen Entscheidungen der Behörden in Angelegenheiten der Sozialhilfe und Jugendhilfe wehren? (5.1 und 5.2.2)
2. Wann kann eine Verfassungsbeschwerde eingelegt werden? (5.1)
3. Für welche Streitigkeiten ist der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) und für welche der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zuständig? (5.1)
4. Worin besteht der Unterschied zwischen Fach- und Rechtsaufsicht? (5.2.1)
5. Kann ein Landesministerium oder das Landesjugendamt einen Landkreis anweisen, kommunale Mittel statt für ein autonomes Jugendzentrum besser für den Bau von Kindergarteneinrichtungen auszugeben? (5.2.1)
6. Frau S. erhält von der kreisfreien Stadt A. einen Bescheid, in dem ihr Antrag auf Sozialhilfe abgelehnt wird. Sie findet das ungerecht und fragt, was sie dagegen tun kann und was sie ggf. beachten muss. (5.2.1 und 5.2.2)
7. Darf ein VA im Widerspruchsverfahren auch zuungunsten des Bürgers abgeändert werden? (5.2.2)
8. Worin bestehen die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Verfahren vor der Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit einerseits und dem streitigen Zivilverfahren andererseits? (5.2.3, 5.2.4 und 5.3.1, 5.3.3).
9. Welche Angelegenheiten werden vor der sog. freiwilligen Gerichtsbarkeit verhandelt? (5.3.2)
10. Unter welchen Voraussetzungen erhält jemand Prozess-/Verfahrenskostenhilfe? (5.3.3)