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ANGRY BIRDS
IM SALES FUNNEL
Es ist Abend, die Sonne schiebt sich blutrot hinter den Horizont, als Herr K. nach Hause kommt und von seinem sechsjährigen Sohn an der Tür empfangen wird: »Hi, Vati, wie war’s im Büro?« Schon klar, dass der Junior keine weitschweifige Antwort verlangt, denkt sich Herr K. Aber nur mal angenommen, er wäre jetzt mal richtig ehrlich – was würde er antworten?
Dass er morgens schon in der Tiefgarage Frau Dr. Schwielow aus dem Vorstand vollschleimte, indem er ihr Gender-Projekt »Frau. Macht. Unterschied« enthusiastisch feierte, aber ihre zwischen Henna und Hornhaut changierende neue Haarfarbe lieber ignorierte, weil ein Kompliment da möglicherweise missverstanden worden wäre. Und für sexistische Ausfälle ist in seiner Abteilung definitiv Koslowski zuständig. Dann müsste er seinem Sohn aber auch erzählen, dass danach gleich ein Workshop anstand, bei dem ein Mittzwanziger aus dem digitalen Marketing viel über Adwords, Prerolls und Targeting-Kriterien erzählte. Und dass Herr K. nicht einmal ansatzweise verstand, wovon überhaupt die Rede war, als es auch noch um seinen »Sales Funnel« ging. Er wusste gar nicht, dass er einen hat. Den jungen Typen zu belächeln hätte er sich aber auch nur leisten können, wenn sein CEO dabei gewesen wäre, ein Endfünfziger, der seine drei Assistentinnen sogar die E-Mails ausdrucken lässt. Der Alte ist der Einzige, bei dem man mit digitaler Ignoranz noch Bonuspunkte sammeln kann.
Apropos Bonuspunkte: Würde Herrn K.s Sohn es nicht endgültig missverstehen, wenn er seinen Vater während der nächsten Konferenz dann auf dem iPad »Angry Birds 2« spielen sähe? Es waren ja nur ein paar Runden beim strunzlangweiligen Vertriebs-Jour-fixe, und Herr K. kann sich wahnsinnig darüber aufregen, dass man das neue Spiel zwar umsonst bekommt, dann aber für irgendwelche virtuellen Kristalle dauernd Geld zahlen muss für Extraleben und …
Nein, nein, das würde sein Sohn alles völlig falsch verstehen. Dann ihm lieber von den 67 Mails erzählen, die er heute bekommen hat. Okay, 45 waren Newsletter, deren Abbestell-Button er nicht findet. Sieben kamen von Kunden und konnten auch bis nach der Mittagspause warten. Neun weitere hätten Arbeit bedeutet, konnten aber wunderbar an Untergebene delegiert werden. Fünf kamen von seinem direkten Vorgesetzten. Die wurden natürlich mit Prio 1 beantwortet. Und eine mit dem »Betreff: Hochzeitstag« hat er gleich gelöscht, weil sie von seiner Mutter stammte. Und der Nachmittag? Soll Herr K. seinem Sohn wirklich von dieser üblichen Mischung aus Antreiben, Beschwichtigen, Schlau-Daherreden, Vertagen, Telefonieren, Drohen, Abwälzen, Verstecken, Wichtigmachen, in CC setzen, Hyperventilieren und Kaffeeholen erzählen?
Er entscheidet sich gegen die Wahrheit und für ein übermüdetes »Du ahnst nicht, was bei mir wieder los war«. In dem Moment fegt Herrn K.s Frau hinter seinem Sohn vorbei und murmelt: »Genug, um deinen Hochzeitstag zu vergessen.«