Читать книгу Hoffnung, Wunder und Liebe: 7 Arztromane - Thomas West - Страница 12
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Hilde Heinze mochte den Monat November nicht. Sie konnte sich an Zeiten in ihrem Leben erinnern, in denen sie zu dieser Jahreszeit regelmäßig in eine tiefe Schwermut gefallen war.
Das hatte sich mit dem Älterwerden zwar gegeben, aber die kahlen Bäume, der laubbedeckte Asphalt und die grauen Nebelschwaden des Novembers hatten für sie immer noch mit Tod und Traurigkeit zu tun.
Heute kam noch der seit Tagen nicht enden wollende Regen hinzu. Trotz ihres humorvollen Naturells beschlich sie wieder eine Spur der alten Wehmut.
„Nicht so schnell, Anuschka, ich bin keine vierzig mehr wie dein Herrchen!“
Die schwarze Dogge war den wesentlich schnelleren Schritt des Sohnes von Hilde Heinze gewöhnt. Doch Dr. Werner Heinze war seit zwei Tagen auf einem Ärztekongress für Kinderheilkunde in Köln.
Normalerweise ließ er sich seine Lieblingsbeschäftigung vor Praxisbeginn von niemandem nehmen. Wenn er aber auf einer seiner Dienstreisen war, übernahm seine Mutter gern den morgendlichen Spaziergang mit dem vierbeinigen Liebling der Familie Heinze.
„Ist ja gut“, beruhigte Hilde Heinze das aufgeregte Tier, „wir sind ja gleich am Waldrand.“
Sie bog aus der Beethovenstraße in einen schmalen Weg, der aus dem Villenviertel heraus in ein Waldstück führte. Dort angekommen löste sie das Hundehalsband von der Leine. „So, Anuschka, jetzt kannst du dich richtig austoben.“
Der Hund stob davon. „Aber lauf nicht so weit weg!“, rief sie ihm hinterher. Das hätte sie dem treuen Tier nicht sagen müssen. Anuschka liebte es zwar, den einen oder anderen Abstecher ins Gebüsch zu unternehmen, entfernte sich aber nie aus der Rufweite ihres Begleiters.
Der Regen prasselte auf den gelben Regenschirm über der alten Dame. Hilde Heinze hatte sich trotz der Verwunderung der Verkäuferin für die knallige Farbe entschieden. Das war ihre Art, den düsteren Novembertagen zu trotzen.
Anuschka war etwa hundert Meter vorausgelaufen. Sie stand jetzt kurz vor der Brücke, die über den kleinen Bach führte. Hilde Heinze sah, dass der Hund neugierig am Bachlauf entlang in den Wald hineinspähte. Seine Ohren waren steil aufgerichtet. Irgendetwas schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Plötzlich setzte er mit großen Sprüngen in den Wald hinein.
Hilde Heinze beunruhigte das nicht weiter. Anuschka machte öfter mal einen Abstecher in den Wald hinein. Besonders gern tat sie das am Bachufer, weil sich dort ab und zu eine Ratte zeigte.
Ihre Gedanken wanderten zu Werner. Wie ruhig und erfüllt sein Leben verlief, seit er mit Alexandra verheiratet war.
Frau Heinze seufzte. Was für ein Glück doch mit der jungen Ärztin in die schöne Jugendstilvilla eingekehrt war! Wenn sie nur nicht so viel arbeiten würde.
Heute morgen beim Frühstück hatte ihre Schwiegertochter kaum ein Wort mit ihr gesprochen. So sehr war sie mit ihren Gedanken schon bei ihren Patienten in der Marien-Krankenhaus. Wenn Werner in ein paar Tagen von seinem Kongress zurückkehren würde, hatte sie schon eine Überraschung geplant: Ein Schlemmer-Abendessen im Hubertushof.
Ein zärtliches Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. Hilde Heinze liebte es, ihren Kindern eine Freude zu machen. Insgeheim war sie stolz auf die beiden. Nicht nur ihres beruflichen Erfolges wegen, nein: Weil sie es verstanden hatten, trotz großer, beruflicher Herausforderungen eine glückliche Ehe zu führen. Und dennoch lag ein Schatten über diesem Glück.
Wieder musste Hilde Heinze seufzen. Sie konnte sich nur schwer mit dem Gedanken abfinden, nie ein Enkelkind in ihren Armen zu halten. Seit jener verhängnisvollen Operation vor vielen Jahren ...
Frau Heinze schüttelte die Erinnerung ab. Es war vorbei, und alle hatten sich mit der Realität arrangiert. Und immerhin gab es Anuschka!
Das schwarze Riesentier brauchte mindestens so viel Zuwendung und Zärtlichkeit wie ein Kind. Ach was, wie zwei Kinder! Wieder huschte ein Lächeln über Hilde Heinzes Züge.
„Anuschka!“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den Hund schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte. „Anuschka!“ Normalerweise sprang die Dogge beim Klang ihres Namens sofort herbei.
Unruhe erfasste die alte Dame. „Anuschka!“ Immer wieder und immer lauter rief sie nach dem Hund. Kein freudig erregtes Bellen, kein Tapsen durch Pfützen und Schlamm, kein Rascheln im Unterholz des Waldrandes.
Irgend etwas stimmte nicht. Angst breitete sich in Frau Heinzes Brust aus. Was war mit Anuschka geschehen? Sie klappte den Schirm zu und drang in das Gehölz des Waldes ein.