Читать книгу Hoffnung, Wunder und Liebe: 7 Arztromane - Thomas West - Страница 9
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Als Schwester Marianne das Zimmer mit dem frisch operierten Beatmungspatienten betrat, hatte die Visite bereits begonnen. „Schön, dass Sie auch schon kommen, Schwester Marianne!“ Dr. Höpers Stimme klang kalt und gefährlich leise.
„Sie werden hoffentlich nicht böse sein, wenn wir schon mal angefangen haben!“ Spöttisch musterten seine blauen Augen Mariannes kleine, hagere Gestalt. Etwas verlegen stand sie im Türrahmen und mühte sich nervös mit dem obersten Knopf ihrer blauen Schutzkleidung ab.
„Guten Morgen, Schwester Marianne“, grüßte Dr. Lars Remmers, chirurgischer Stationsarzt der Intensivstation. Er versuchte seiner Stimme einen lockeren Unterton zu geben, um die angespannte Situation zu entkrampfen.
Die Assistenzärztin, Dr. Karin Döring, zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Mimik zeigte eine Mischung aus Besorgnis und Missbilligung. Unwillkürlich fühlte sich Marianne an die gestrige Visite erinnert, bei der die Ärztin ihr einen Fehler vorgehalten hatte: Der Herzpatient aus Bett zwei bekam immer noch ein bereits seit drei Tagen abgesetztes Medikament.
Die Krankenschwester trat zum Kopfende des Bettes neben das Beatmungsgerät und nahm die Patienten-Verlaufskurve entgegen, die Bert ihr reichte. Auf dem Gesicht ihres Kollegen lag ein Ausdruck, als wollte er sie fragen, wann sie mal wieder pünktlich zum Dienst kommen würde.
„Wir überlegen gerade, ob wir Herrn Simons heute Mittag vom Beatmungsgerät nehmen“, sagte Dr. Remmers, immer noch an Marianne gewandt, „die Spontanatmung während der Nacht brachte ganz erfreuliche Sauerstoffwerte.“
Marianne nickte und warf dem Stationsarzt einen dankbaren Blick zu. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr in einer peinlichen Situation beistand.
Während die Ärzte die Laborwerte des Frischoperierten diskutierten, versuchte Marianne sich einen Überblick über den nächtlichen Verlauf zu verschaffen.
Herr Simons hatte eine Rektumresektion hinter sich. Durch einen großen, bösartigen Tumor des Dickdarms war dieser schwerwiegende Eingriff nötig geworden. Über neun Stunden hatte die Totaloperation des Enddarmes gedauert. Vergeblich hatten Dr. Höper und sein Operationsteam versucht, dem Zweiundfünfzigjährigen einen Anus praeter zu ersparen.
Für einen Augenblick vergaß Schwester Marianne ihre Kopfschmerzen, den Kloß im Hals und das wunde Gefühl in ihrer Brust.
Mitfühlend betrachtete sie den bewusstlosen Patienten. Ein grünlich schimmernder Schlauch ragte aus seinem Mund, die daran angeschlossenen Spiralschläuche des Beatmungsgerätes lagen auf seiner Brust, die sich synchron zum rhythmischen Zischen des Beatmungsgeräts hob und senkte.
Die junge Krankenschwester seufzte. Der Mann tat ihr leid. Nun würde er doch lernen müssen, mit einem künstlichen Darmausgang zu leben.
Der Verlaufskurve entnahm Marianne, dass Herrn Simons Zustand sich während der Nacht stabilisiert hatte. Temperaturwerte, Blutdruck, Puls und Venendruck hielten sich im Normbereich. Die Flüssigkeitsbilanz war ausgeglichen. Der Mann schien ein gesundes Herz zu haben. Allerdings hatte er seit gestern Nachmittag drei Blutkonserven benötigt. Marianne erschrak. Eine Ahnung sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Die Blutwerte sind ja gar nicht so schlecht.“ Dr. Höper sah vom Kurvenblatt mit den Laborwerten auf und musterte das bleiche Gesicht des Patienten. „Nur die Gerinnungswerte gefallen mir nicht.“
Der Oberarzt beugte sich herab und betrachtete die vier, an der Bettkante hängenden Vakuumflaschen. Sie waren gefüllt mit dem Blut, das seit dem Eingriff in die große Operationswunde nachgeblutet war. „Hat kräftig Saft gelassen, was?“
„Ja, er hat viel Blut verloren“, bestätigte Lars Remmers. Der Stationsarzt hatte seine eigene Art, dem Oberarzt der Chirurgie zu zeigen, wie wenig er dessen Redensarten schätzte.
„Wie viel Blutkonserven hat er während der Operation bekommen?“, wandte sich Dr. Höper an Schwester Marianne. „Drei“, antwortete sie. Ihr Mund war trocken. Die Ahnung begann sich zur beängstigenden Gewissheit zu verdichten.
„Und der letzte Hb-Wert?“
„Vier Komma acht“, sagte Dr. Döring, „erst zwei Stunden alt.“
„Gut“, der Oberarzt richtete sich auf, „dann geben Sie ihm im Verlauf des Vormittags die anderen drei Konserven, Schwester Marianne. Danach können Sie ihn langsam vom Beatmungsgerät entwöhnen.“
„Die drei anderen Konserven?“ Mariannes Stimme klang heiser. In ihrem schmerzenden Kopf vermischten sich das blasende Geräusch des Beatmungsgeräts, die Anweisung des Oberarztes, das Piepsen des Monitors und die Erinnerung an die Albträume dieser Nacht zu einem grellen Chaos.
Mühsam versuchte sie, sich auf die Verlaufskurve in ihrer Hand zu konzentrieren. Ihr Blick verkrallte sich am Tagesdatum: >11. 11.<. Heute war der elfte November. Heute war Michaels Todestag!
„Ja!“, bellte Dr. Höper ungeduldig. „Es sind doch sechs Konserven ausgekreuzt!“
Neben dem magischen Datum stand es in roter Schrift: Nach Anordnung von Dr. Höper drei weitere Blutkonserven bestellt. Ma. Ihr Namenskürzel.
Sie hatte das Kurvenblatt gestern Abend angelegt. Sie hatte die Anordnung des Oberarztes entgegengenommen. Und sie hatte vergessen, den Auftrag an das Labor weiterzuleiten!
„Es tut mir leid, Herr Dr. Höper ...“, stammelte Marianne. Nicht nur dem kalten Blick des Oberarztes begegnete sie, alle starrten sie vorwurfsvoll an. Eine unerträgliche Beklemmung erfüllte das Krankenzimmer. Dr. Remmers wandte sich resigniert dem Beatmungsgerät zu.
„Soll das heißen, dass für diesen Patienten kein weiteres Blut bestellt wurde?“, stieß Dr. Höper scharf hervor. Er straffte seinen sportlichen Körper und stemmte die Fäuste in seine Hüften. „Soll das heißen, dass Sie meine Anordnung nicht ausgeführt haben, Schwester Marianne?“ Seine Stimme wurde bedrohlich laut.
Marianne senkte den Kopf. Ihre Schläfen hämmerten. Wieder spürte sie die zahllosen Scherben in ihrer Brust.
„Von einer leitenden Schwester erwarte ich eine fehlerlose Betreuung meiner Frischoperierten!“ Dr. Höper schrie jetzt ungeniert drauflos. „Sie aber schaffen es nicht einmal, pünktlich zur Visite zu erscheinen!“
Er tat einen energischen Schritt auf Marianne zu. Es konnte ihm einfach nicht entgehen, wie sich ihre Augen langsam mit Tränen füllten. Dennoch beherrschte sich der Oberarzt nicht. Er schrie sogar noch lauter. „Was Sie in den letzten Monaten an Leistung bieten, ist unter aller Sau! Auf jede Schwesternschülerin im ersten Jahr kann man sich mehr verlassen!“
„Ich bitte Sie, Herr Kollege!“, platzte Lars Remmers heraus. In diesem Moment drehte sich Marianne um und stürzte schluchzend zur Tür hinaus.