Читать книгу Hoffnung, Wunder und Liebe: 7 Arztromane - Thomas West - Страница 23
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„Entscheiden Sie selber, meine Herren.“ Professor Walter Streithuber wandte sich von der grell leuchtenden Milchglasfront mit gut einem Dutzend Röntgenbildern ab und drehte sich zu den beiden Ärzten um, die hinter ihm standen.
„Das Röntgenbild zeigt mir nur drei komplizierte Frakturen. Die Weichteilverletzungen kann ich von hier aus nicht beurteilen.“
Er trug Mundschutz, OP-Mütze und den langen, moosgrünen OP-Mantel. Die Hände hielt er mit angewinkelten Ellenbogen in Schulterhöhe, um die sterilen Handschuhe vor Berührungen zu schützen.
„Massive Quetschwunden und eine unbeschreibliche Schnittwunde im Unterschenkelbereich. Die Leitplanke muss sich beim Überschlag durch die Wagentür gebohrt haben“, antwortete Lars Remmers.
Da die meisten Chirurgen des Marien-Krankenhaus mit dem Routine-Operationsprogramm des Tages beschäftigt waren, sollte er einspringen und Edith Söhnker operieren. Er trug noch seinen weißen Arztkittel.
„Meiner Ansicht nach ist das Bein nicht mehr zu retten“, meldete sich der Oberarzt zu Wort.
Dr. Höper, wie sein Chef in sterilem Chirurgengrün, hatte die Operation des jungen Mädchens bereits beendet und wartete nun auf den Notfall aus der Ambulanz.
„Wie alt ist die Frau?“, wollte der Professor wissen.
„Sechsunddreißig“, erwiderte Dr. Remmers. „Sie hat auch mehrfache Frakturen im Gesichtsschädel mit zahlreichen Schnittwunden. Sie wird wohl ihr Leben lang entstellt bleiben.“
Der junge Arzt wandte sich ernst an seinen Oberarzt. „Wir sollten wenigstens versuchen, ihr das Bein zu erhalten.“
Höper streckte die behandschuhten Hände noch höher und schüttelte ungeduldig den Kopf. „Zu gefährlich, Mann! Wie wollen Sie denn verhindert, dass derart zerfetztes Gewebe zumindest teilweise abstirbt!?“
Deutlich sah Professor Streithuber, dass Remmers Mund sich zu einem schmalen Strich zusammenpresste. Niemand fand es sympathisch, wenn der chirurgische Oberarzt laut wurde. Auch Streithuber nicht.
Doch Höper, der das genau wusste, ließ sich davon nicht beeindrucken. „Der Eiter wird den ganzen Organismus überschwemmen!“, schnauzte er. „Haben Sie schon mal jemanden an einer Blutvergiftung krepieren sehen?“ Herausfordernd blitzte er den schweigenden Remmers an.
„Genug, meine Herren“, unterbrach Streithuber energisch, „ich kann mir die Patientin nicht ansehen. Ich will das Risiko vermeiden, Erreger von der Unfallpatientin zu meiner Hauttransplantation zu schleppen.“
Er wandte sich zum Gehen. „Außerdem befindet sich meine Operation in einer kritischen Phase. Sie entschuldigen mich.“
An der Tür zum OP drehte er sich noch einmal um. „Entscheiden Sie selber. Zum Wohle der Patientin!“
Damit ließ der die beiden Männer allein.
Schweigend starrten sie die Röntgenbilder an. Nach einer Weile drehte sich Remmers abrupt um und ging mit entschlossenen Schritten zur Tür. Im Gehen zog er seinen weißen Mantel aus.
„Überlegen Sie gut, was Sie tun, Herr Kollege!“, rief ihm Höper nach.
Als der Oberarzt kurz darauf durch den Gang des OP-Traktes zur Eingangsschleuse schritt, sah er den jungen Arzt im Waschraum stehen. Mit angespannten Gesichtszügen beugte er sich über eines der Waschbecken, um Arme und Hände mit Bürste und Desinfektionsmittel zu scheuern.
Höper blieb stehen. „Gehen Sie auf Nummer sicher und amputieren Sie!“
Lars Remmers würdigte ihn keines Blickes.
„Dr. Heinze mit dem Verkehrsunfall!“, rief eine Schwester an der Schleuse.
Die Schleusentür öffnete sich. Dr. Krug und Alexandra Heinze schoben eine Trage hinein. Felix Söhnker lag in tiefer Bewusstlosigkeit. Die Schnitt- und Schürfwunden an seinem Kopf waren versorgt worden. Die Notärztin beatmete ihn mit dem Ambubeutel. Ein Anästhesist und ein Pfleger übernahmen den Schwerverletzten und schlossen ihn an ein Beatmungsgerät an.
„Verdacht auf innere Blutungen. Wahrscheinlich die Milz“, erklärte Dr. Krug atemlos.
Dr. Höper nickte. „Ich werd ihn aufmachen, dann wissen wir’s genau. Sonst noch was?“
„Schweres Schädel-Hirn-Trauma und Rippenserienfraktur“, sagte Alexandra Heinze ruhig, „wenn er die Operation übersteht, werden wir ihn sicher noch einige Zeit beatmen müssen!“
Höper nickte wieder. „Zu schnell gefahren, was?“
Er warf einen flüchtigen Blick auf den Bewusstlosen. Zwei Pfleger schoben die Trage in den Operationssaal. „Den Tag hatte ich mir gemütlicher vorgestellt.“
Er wandte sich dem Eingang des Operationssaales zu, wo sich die Pfleger gerade anschickten, Felix Söhnker auf den OP-Tisch zu tragen. „Wollen mal sehen, ob wir den Kerl zusammengeflickt kriegen“, brummte Höper.
Alexandra Heinze sah ihm besorgt hinterher. „Was war übrigens mit dem Mädchen“, rief sie ihm plötzlich nach, „hat sich Ihre Diagnose bestätigt?“
Doch der Oberarzt tat so, als würde er ihre Frage gar nicht mehr hören. Ohne Antwort verschwand er im Saal.
„Es war kein Blinddarm“, antwortete eine Schwester, die Dr. Heinzes Frage gehört hatte.
„Was dann?“
„Eine Eileiterschwangerschaft.“
Kopfschüttelnd verließ die Notärztin den OP-Trakt. Vor der Tür atmete sie erst einmal tief durch. Was jetzt? Zuhause anrufen oder auf die Intensivstation? Anuschka oder Marianne? Nur einen Augenblick zögerte sie. Eine Minute später betrat sie die Intensivstation.
„Wo ist Schwester Marianne?“
„Das frage ich mich auch!“ Bert lief mit einigen Infusionsflaschen hektisch über den Gang.
Seiner Stimme war der Ärger deutlich anzumerken. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er auf die große Stationsuhr. Es war kurz nach elf. „Man braucht doch keine halbe Stunde, um ein paar Medikamente in die Ambulanz zu bringen!“
Dr. Heinze erschrak. Einen Moment verdeckte sie ihre Augen mit der rechten Hand. Dann lief sie zum Telefon und wählte die Nummer der Pforte. „Hier Heinze, haben Sie Schwester Marianne gesehen, Herr Ahlers?“
„Vor ’ner halben Stunden rannte jemand in blauen Intensivkleidern aus der Klinik, wie zu ’nem Notfall, so schnell. Wenn mich nicht alles täuscht, war’s Marianne.“
Sehr langsam und ohne ein weiteres Wort ließ Alexandra Heinze den Hörer sinken. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie sah das Bild der entsetzten Schwester im Türrahmen der Ambulanz. Sie sah diese starren Augen, völlig gebannt von dem Anblick des blutigen Haars.
Was ist mit Marianne? Aus der Klinik gelaufen? In Schutzkleidung? Sie wird doch nicht etwa ... Wohin könnte sie geflüchtet sein?
Rasch nahm die Ärztin den Hörer wieder ans Ohr und wählte die Nummer des Notarztzimmers.
„Ja? Friederichs?“
„Hier Heinze, wir haben eine Fahrt. Machen Sie den Wagen fertig und melden Sie uns an der Pforte ab. Ich bin gleich unten!“