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Der Regen hatte ihre blaue Dienstkleidung schon bis auf die Haut durchnässt. Marianne Debras spürte es überhaupt nicht. Auch dass sie fror und am ganzen Körper zitterte, war ihr nicht bewusst.

Die Welt, das Leben, die Zeit – alles hatte sich für sie verengt auf diesen trostlosen Augenblick, auf ihre Bitterkeit, auf den Schmerz in ihrer Brust, und auf den Grabstein, vor dem sie jetzt mit fest an den Körper gepressten Armen stand.

„Michael“, flüsterte sie immer wieder, „Michael.“

Kein Mensch ging um diese Zeit über einen der unzähligen, wie mit dem Lineal gezogenen Wege des großen Friedhofs. Und kaum jemand verweilte bei diesem Regen vor einem Grab. Allein war Schwester Marianne. Allein mit dem von Immergrün überzogenen Hügel. Allein mit dem weißen Grabstein, von dem sie ihre Augen nicht lösen konnte.

„Michael.“

Sie sah seine große, schlanke Gestalt vor sich, seine weichen Gesichtszüge, seine blauen Augen, die manchmal so spöttisch funkeln konnten, und sein langes, blondes Haar. Sie sah ihn in der vordersten Reihe des kleinen Theaters, sah ihn aufspringen, ihr auf die Bühne zujubeln, hörte ihn >Bravo< rufen, und die anderen Zuschauer mitreißen. Sie sah ihn mit seiner Harley Davidson die Einfahrt zum Personalwohnheim einfahren, sah ihn mit einem Rosenstrauß die Treppe hinaufkommen, hörte seine Stimme: „Willst du mich heiraten?“

„Michael“, flüsterte sie.

Der Regen vermischte sich mit ihren Tränen. Verschwommen nur nahm sie die schwarz eingekerbten Zeichen im weißen Marmor wahr: >11. November 1994<. Verschwommen, und dennoch bohrten sich diese Zeichen stechend in ihr Herz.

Und plötzlich sah sie ihn wieder unter dem LKW liegen, sah das Notarztteam um ihn knien, sah sein blondes, blutiges Haar – und sah das blonde, blutige Langhaar jenes fremden Mannes, vorhin, in der Notaufnahme.

„Michael“, ihre Stimme bebte, „lass mich zu dir kommen.“

Kalt und hart glänzte der weiße Stein im Regen. Und gab keine Antwort. Stumm blieb er. Stumm und verschlossen schien ihr der grau verhangene Himmel. Zukunft? Nur ein Wort. Hatte es für sie überhaupt noch eine Bedeutung? Nur der Schmerz in ihrer Brust war nicht stumm, der schrie nach Linderung.

„Ich komme zu dir, Michael ...“

Marianne Debras wusste nicht, wie lange sie schon so gestanden hatte, als sich ihr plötzlich ein Arm um die Schulter legte. Jemand zog sie vorsichtig an sich, und als hätte sie nur darauf gewartet, sich endlich fallen lassen zu können, senkte sie ihren Kopf auf eine fremde Schulter und begann ihren Schmerz, hemmungslos herauszuweinen.

„Weinen Sie nur“, Alexandra Heinze drückte die junge Frau an sich und strich ihr über das nasse, kurze Haar, „nur heraus mit den Tränen.“

Lange standen sie so. Die Ärztin schweigend und die junge Frau umarmend, Schwester Marianne schluchzend und das Gesicht im weißen Stoff des Arztmantels bergend.

Irgendwann richtete Marianne sich auf und sah die Ärztin an. „Danke“, sagte sie und wischte sich den Regen und die Tränen aus dem Gesicht.

Gemeinsam betrachteten sie das Grab. Auch Dr. Heinzes Kleider trieften jetzt vor Nässe. Noch immer hatte sie ihren rechten Arm um die Schulter der Schwester gelegt.

Schließlich brach die Ärztin das Schweigen.

„Wenn Sie jetzt Ihr Leben wegwerfen wollen, Marianne“, sagte sie leise, „was, glauben Sie, würde Michael dazu sagen?“

Marianne Debras war nicht überrascht, dass Dr. Heinze ihre Gedanken erraten hatte. Nachdenklich schaute sie auf den weißen Grabstein mit den schwarzen Zeichen. Dann atmete sie tief durch.

„Ich will, dass du lebst.“ Es fiel ihr nicht leicht zu sprechen. „Ich will, dass du lebst, und dass du glücklich wirst, würde er sagen.“

Ernst sah ihr die Ärztin in die verweinten Augen. Sie nickte langsam.

„Dann wissen Sie, was Sie zu tun haben, Marianne.“ Sie nahm Mariannes Hand. „Kommen Sie.“

Gemeinsam gingen sie über die Kieswege zum großen, schmiedeeisernen Friedhofsportal. Dort warteten Friederichs und Zühlke im Notarztwagen.

Ewald Zühlke stieg aus und öffnete die Tür zum hinteren Teil des Fahrzeugs. Er reichte Schwester Marianne zwei Decken, in die sie sich einhüllte. Sie setzte sich hinten in den Stuhl für Begleitpersonen.

„Nach dem Tanken fahren wir erst mal zum Personalwohnheim“, sagte Dr. Heinze zu ihrem Fahrer.

Sie drehte sich zu Marianne um. „Nehmen Sie gleich ein warmes Bad, und legen Sie sich ein Weilchen ins Bett. Nach Dienstschluss werde ich bei Ihnen vorbeischauen, wenn ich darf.“

Marianne nickte, und ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Die Notärztin griff nach dem Funkgerät und rief die Pforte des Marien-Krankenhauses.

„Bitte rufen Sie auf der Intensivstation an, Herr Ahlers. Schwester Marianne hatte einen Kreislaufkollaps.“ Bevor sie weitersprach, drehte sie sich zu Marianne Debras um. „Sie wird aber morgen früh wieder zum Dienst kommen.“


Hoffnung, Wunder und Liebe: 7 Arztromane

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