Читать книгу Hoffnung, Wunder und Liebe: 7 Arztromane - Thomas West - Страница 43
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Edith ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Besucherin, die an Lindas Bett saß, erhob sich und schaute mitleidig zu ihr herüber. Stefan Nideggen suchte nervös nach einem Platz für seine Hände.
„Ich glaube, wir lassen Sie besser ein wenig allein“, sagte die Frau. Sie war etwa Mitte dreißig, etwas mollig, steckte in einer viel zu großen Jeansjacke und trug ihr rötliches Haar kurzgeschoren. Den Gesprächen am Nachbarbett hatte Edith entnommen, dass sie Lehrerin oder Sozialarbeiterin war.
„Komm, Mädchen.“ Die Frau nickte Edith verständnisvoll zu, nahm Linda an der Hand, und verließ mit ihr das Zimmer.
Stefan Nideggen zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Ediths Bett.
Edith machte nicht einmal den Versuch, ihrer Verzweiflung Herr zu werden. Sie hielt sich das kleine Kissen vor das Gesicht und schluchzte haltlos hinein.
Nideggen rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Abwechselnd sah er zur Tür und zu Ediths bebendem Körper. Irgendwann versank er in die Betrachtung seiner Fingernägel.
Nach einigen Minuten nahm Edith das Kissen vom Gesicht. Sie trug keinen Kopfverband mehr. Ein großes weißes Pflaster verdeckte die obere linke Gesichtshälfte. Auch das linke Auge war noch halb davon bedeckt. Ein Teil der Haare an der linken Schädelhälfte war abrasiert worden, damit man die zahlreichen Schnittwunden am Kopf hatte nähen können. Aus rotem, feuchtem Gesicht guckte Edith Stefan an. Verzweiflung und Anklage sprachen aus ihrem Blick.
„Du liebst mich nicht mehr“, flüsterte sie, „ich spüre es genau.“
„Ach komm, Edith ...“
„Du liebst mich nicht mehr!“ Sie wurde lauter. „Du liebst keine Frau, die am Stock gehen muss!“ Jetzt heulte sie hysterisch auf.
„Edith, bitte ...“ Stefan Nideggen hatte das Gefühl, als würde ein Stein seine Brust ausfüllen. Nie hatte er Edith so erlebt, nicht annähernd so.
„Du liebst keine Frau mit einer großen Narbe im Gesicht, sag es doch ehrlich, das willst du nicht!“ Sie schrie regelrecht. Ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper.
„Edith bitte, reiß dich etwas zusammen.“ Nideggen wusste weder, was er tun sollte, noch fiel ihm irgend eine passende Entgegnung ein. Er kämpfte gegen den wachsenden Drang, davonzulaufen.
„Es wird schon wieder werden, irgendwie kriegen wir das schon ...“
„Nicht mal meine Hand nimmst du, wenn ich weine“, schnitt Edith ihm das Wort ab. „Du hast mich nie geliebt, du hast mich nie geliebt!“
„Edith hör doch auf.“ Er wurde unwillig, doch sie ließ sich nicht beeindrucken.
„Du hast mich nie geliebt!“ Sie schrie immer lauter und verbarg sich unter der Decke. „Nie geliebt hast du mich! Noch nie!“
Plötzlich hatte Stefan Nideggen das Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich um. Im Zimmer stand eine schmale, junge Frau mit kurzem, schwarzem Haar und blassem Gesicht. Sie trug ein graues Jackett über roten Jeans. Mit großen, erstaunten Augen blickte sie an ihm vorbei auf die unter ihrer Decke verborgene Edith. Nideggen wusste nicht, wie lange sie schon im Zimmer stand.
Zögernd trat sie näher. „Ich bin Marianne Debras“, sagte sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Scheu und Entschlossenheit in der Stimme, „ich pflege Frau Söhnkers Mann, und ...“
Schluchzend tauchte Ediths Gesicht unter der Decke auf. Leise weinend und doch mit einem leichten Anflug von Erstaunen schaute sie die junge Frau an.
„Ich bin auf der Intensivstation für Ihren Mann verantwortlich, Frau Söhnker“, erklärte Marianne noch einmal. „Er bat mich, bei Ihnen vorbeizuschauen.“
Unsicher schaute sie den Mann neben Ediths Bett an.
Im selben Augenblick erhob sich Stefan Nideggen von seinem Stuhl.
„Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Er packte den Stuhl an der Lehne und schob ihn am Fußende unter das Bett.
Ungläubig beobachtete ihn Edith dabei.
„Du gehst?“, flüsterte sie.
„Ich ...“, er nickte, „ich melde mich.“ Er beugte sich herab und küsste sie flüchtig auf die Stirn. Dann schritt er eilig zur Tür.
Als er die Klinik verließ, atmete er auf. Er gestand es sich nicht ein, aber etwas in ihm wusste genau, dass er hierher nicht mehr zurückkehren würde.