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Kampf um die Zitadelle
ОглавлениеDieser Umsturz der lebensweltlichen Erfahrung liegt in der Logik des naturwissenschaftlichen Programms, das sich seit der Neuzeit etabliert hat. Dieses Programm ist seinem Prinzip nach reduktionistisch. Es zielt auf eine Konzeption der Natur, aus der alle qualitativen, ganzheitlichen, also nicht einzeln-zählbaren Bestimmungen als bloß subjektive oder anthropomorphe Zutaten eliminiert sind.7 Diesem Ziel dient die Zerlegung ursprünglich lebensweltlicher Erfahrungen in eine physikalisch-quantitative und eine subjektiv-qualitative Komponente: Die eine wird der experimentellen Erforschung und Erklärung zugänglich, die andere in eine subjektive Innenwelt verlegt. So teilt man z. B. das Phänomen »Wärme« auf in eine subjektive Empfindung einerseits und in physikalische Teilchenbewegungen andererseits. Der Naturwissenschaftler definiert also den Begriff der Wärme neu, indem er das Phänomenale von ihm abtrennt und als »Wärmeempfindung« in das Subjekt verlagert. Gleiches gilt für Farbe, Klang, Geruch oder Geschmack: Sie sind fortan nur noch subjektive Zutaten zur eigentlichen Realität. Die ursprünglich zum Zweck der Messbarkeit und Vorhersagbarkeit mechanischer Vorgänge entwickelten wissenschaftlichen Konstrukte (Teilchen, Kräfte, Felder etc.) werden der Lebenswelt unterschoben und mehr und mehr zur »eigentlichen« Wirklichkeit hypostasiert. Damit sinkt die Sphäre der alltäglichen Lebenserfahrung zum Schein herab, und zum wahren Sein wird das, was die Physik erfasst.
Bereits Galilei und Descartes waren bemüht, den Glauben an die Wahrheit der Sinne zu unterminieren, um der neuen Physik Raum zu schaffen. Nach Descartes beruht die Wahrnehmung auf einer physikalischen Teilchenbewegung, die sich von den Dingen bis ins Gehirn fortpflanzt, so dass »… wir denken, wir sähen die Fackel selbst und wir hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.«8 Die naturwissenschaftliche Reduktion zielt somit auf die Trennung des Subjekts vom Erkannten. Sie schneidet uns damit in gewissem Sinn von der Welt ab. Denn das Phänomen der Wärme besteht ja gerade in der Beziehung unseres Leibes mit der Umwelt, etwa der Luft oder der Sonne. Farbe entsteht in der Beziehung von Auge und Gegenstand, Geschmack in der Beziehung von Zunge und Nahrung. All diese Beziehungen, die uns die Qualitäten der Dinge selbst vermitteln, werden gekappt und in innerpsychische Zustände umgedeutet. Tatsächlich gibt es nur noch Teilchenbewegungen, Lichtwellen, chemische Reaktionen. Die Reinigung der Welt von allen subjektiven, anthropomorphen Anteilen fördert ein Skelett der Natur zutage, das sich allerdings umso leichter zerlegen, manipulieren und technisch beherrschen lässt.
Nach und nach gelang es auf diese Weise, Subjektives und Qualitatives nahezu vollständig aus der wissenschaftlich umgedeuteten Welt zu verdrängen. Auch das Leben selbst ließ sich auf biochemische Molekularprozesse zurückführen, allerdings um einen hohen Preis: Was wir mit dem Sein von Lebewesen verbinden – Empfinden, Fühlen, Sich-Bewegen, Nach-etwas-Streben – wurde aus der Erforschung des Lebendigen ausgeklammert oder wiederum in eine subjektive Innenwelt verlagert. Mit der Neurobiologie als neuer Leitwissenschaft gelangt dieses Programm nun an einen entscheidenden Punkt. Es begnügt sich nicht mehr mit der Reinigung der Natur durch Verschiebung von Qualitäten in das Subjekt. Auch das subjektive Erleben, das Bewusstsein selbst soll nun naturalisiert, auf physikalische Prozesse zurückgeführt werden. Gelänge die materialistische Aufklärung der Hirnfunktionen, dann wäre gleichsam die letzte Zitadelle des Subjektiven und Qualitativen in der physikalischen Wüste geschleift, die der Reduktionismus hinterlassen hat. Die »Entanthropomorphisierung« der Natur geht über in die Naturalisierung des Menschen.
Tatsächlich scheint die Zitadelle schon zu großen Teilen erobert. Immer mehr Plätze und Häuser sind unter Kontrolle, verborgene Gassen werden durch moderne Abbildungstechniken ausgeleuchtet. Kaum jemand zweifelt noch daran, dass das Gehirn psychische Phänomene aus rein materiellen Grundlagen erzeugt. Ein grundsätzlicher Dualismus von Körper und Geist gilt in den Neurowissenschaften ebenso wie in der analytischen Philosophie des Geistes weithin als überholt. Freilich ist der direkte Angriff auf das Subjekt, den vermeintlichen Bewohner der Zitadelle, vorläufig gescheitert. Der eliminative Materialismus, der die subjektive Erfahrung und die »mentalistische«Sprache zu vorwissenschaftlich-naiven Intuitionen erklärt, die wie der Glaube an Geister, Hexen, Äther oder Phlogiston schließlich verschwinden und einer neurologischen Sprache Platz machen würden – dieser radikale Materialismus hat sich nicht durchsetzen können.9 Die Mehrheit der analytischen Philosophen und Neurowissenschaftler vertritt heute einen eher gemäßigten Materialismus, der der Subjektivität noch ein Weiterleben gestattet – freilich nur in Identität mit den neuronalen Prozessen oder als ihre Begleiterscheinung, jedenfalls ohne eine kausale Rolle in der Welt. Daher die heftige Debatte um die Willensfreiheit: Bewusstsein ist dem Gehirn zwar nicht abzusprechen, soll aber sein Produkt und damit machtlos bleiben. Das Subjekt darf in der Zitadelle weiterleben, solange sie vom Physikalismus sicher beherrscht wird.