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Umsturz der Lebenswelt

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Seit sich das Gehirn und seine Aktivität bei geistigen Prozessen immer detaillierter beobachten lässt, schicken die Neurowissenschaften sich an, Bewusstsein und Subjektivität zu »naturalisieren«, also neurobiologisch zu erklären. Psychisches scheint sich im Gehirn lokalisieren, ja mit neuen Techniken regelrecht abbilden zu lassen. An bestimmten Orten des Gehirns findet offenbar das Wahrnehmen, Fühlen, Denken oder Wollen statt und lässt sich im farbigen Aufleuchten von Hirnstrukturen scheinbar in vivo beobachten. Bücher mit Titeln wie »Kosmos im Kopf«, »Das Gehirn und sein Geist« oder »Das Gehirn und seine Wirklichkeit« zeichnen das Bild eines informationsverarbeitenden Apparates, der in seinen Windungen und Netzwerken eine monadische Innenwelt und ein in Täuschungen befangenes Subjekt konstruiert. Gleichzeitig belehrt uns eine Flut von populärwissenschaftlichen Artikeln über die tatsächlichen, neuronalen und hormonellen Ursachen unserer Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen.

Unbestreitbar hat die Neurobiologie eine Fülle revolutionierender Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen des Geistes, des Erlebens und Verhaltens, aber auch psychischer Krankheiten erlangt, aus denen sich fruchtbare Anwendungsmöglichkeiten ableiten lassen. Andererseits hat sie auch eine »zerebrozentrische« Sicht des Menschen begünstigt, die sich vor allem in der Medizin, Psychologie und Pädagogik ausbreitet. So bringt das neurobiologische Paradigma in der Psychiatrie die Tendenz mit sich, Krankheiten primär als materielle Vorgänge im Gehirn anzusehen und damit von den Wechselbeziehungen der Person mit ihrer Umwelt zu isolieren. Ähnlich werden in der Pädagogik schulische Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen zunehmend auf hirnorganische Ursachen zurückgeführt.

Das neurobiologisch geprägte Menschenbild breitet sich aber auch in der Lebenswelt aus und verändert unser alltägliches Selbstverständnis. In einer schleichenden Selbstverdinglichung betrachten wir uns immer weniger als Personen, die Gründe oder Motive haben und Entscheidungen treffen, sondern als Agenten unserer Gene, Hormone und Neuronen. Auch unsere Erfahrung, selbst Urheber von Handlungen zu sein und damit unser Leben bestimmen zu können, wird von Neurowissenschaftlern in Frage gestellt. Der Wille scheint immer zu spät zu kommen, nämlich wenn die neuronalen Prozesse, welche Entscheidungen zugrunde liegen, bereits abgelaufen sind. Die Erfahrung der Freiheit wäre dann nur eine biologisch sinnvolle Selbsttäuschung des Gehirns, die uns das Gefühl von Selbstmächtigkeit und Kontrolle vermittelt, wo in Wahrheit die Neuronen längst für uns entschieden haben.

Nicht anders verhält es sich nach Meinung vieler Hirnforscher mit unserem Bewusstsein selbst: Es spiegelt nur Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung wider, die uns als solche prinzipiell nicht bewusst werden können. Die in unserem Rücken agierende neuronale Maschinerie erzeugt nur den Schein eines dauerhaften Selbst. Längst hat man die Suche nach einem Ich-Zentrum im Gehirn, nach einer »Eintrittspforte« des Geistes aufgegeben, die Descartes noch in der Zirbeldrüse zu finden glaubte. Das Gehirn scheint seine Rechenaufgaben sehr gut ohne Wirkung eines Subjekts bewältigen zu können. In den Worten des Neurophilosophen Thomas Metzinger: »Wir sind mentale Selbstmodelle informationsverarbeitender Biosysteme … Werden wir nicht errechnet, so gibt es uns nicht« (Metzinger 1999, 284).

Wie sich zeigt, sind die Geltungsansprüche der Neurowissenschaften nicht unerheblich. Der Neurobiologe Gerhard Roth stellt ihre Erkenntnisse in eine Reihe mit den Kränkungen der Menschheit durch Darwin und Freud: »Zuerst wird durch die Evolutionstheorie dem Menschen der Status als Krone der Schöpfung abgesprochen, dann wird der Geist vom göttlichen Funken zu etwas Natürlich-Irdischem gemacht, und schließlich wird das Ich als nützliches Konstrukt entlarvt.«5 Zwar seien die Theorien der Neurobiologie streng genommen selbst nur Konstrukte des Gehirns; dennoch können sie, so Roth, mehr Plausibilität für sich beanspruchen als andere Welterklärungen wie diejenigen von »Religion, Philosophie oder Aberglaube.«6 Die Dominanz der Neurowissenschaften zeigt sich zumal in ihrer Ausbreitung als Präfix in fremde Territorien: Als »Neuro-Philosophie«, »Neuro-Ethik«, »Neuro-Pädagogik«, »Neuro-Psychotherapie«, »Neuro-Theologie«, »Neuro-Ökonomie« u. a. beanspruchen sie die Deutungshoheit über andere Wissenschaftszweige. Anstelle von subjektiven und intersubjektiven Erfahrungen setzen sie neurobiologische Termini in unsere Selbstbeschreibungen ein. Die Sprache der Lebenswelt, die immer noch von Selbstzuschreibungen und Anthropomorphismen geprägt ist, wird so Schritt für Schritt in eine objektivierende, naturwissenschaftliche Sprache umgeformt.

Das Gehirn - ein Beziehungsorgan

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