Читать книгу Das Gehirn - ein Beziehungsorgan - Thomas Fuchs - Страница 14
1.2 Erste Kritik: Verkörperte Wahrnehmung 1.2.1 Wahrnehmung und Selbstbewegung
ОглавлениеKehren wir noch einmal zur vermeintlichen »Condition humaine« zurück. Hat Magritte Recht, und sehen wir in Wahrheit nur Bilder? Natürlich könnten wir im Zweifelsfall leicht feststellen, ob es sich jenseits des Fensters, in der sogenannten »Außenwelt«, tatsächlich um Wiesen und Bäume handelt oder um eine Filmstaffage: Wir würden einfach hinausgehen und es mit unseren Sinnen und Bewegungen überprüfen. Wir nehmen ja nie »von irgendwoher« wahr, sondern von unserem leiblichen Standort aus. Schon der Anblick des Fensters »dort drüben« schließt die Möglichkeit ein, sich auch dorthin zu bewegen. Die Wahrnehmung räumlicher Tiefe entsteht nur in Verbindung mit dem Vermögen, sie auch zu durchmessen und die Gegenstände abhängig von unserer Eigenbewegung unter verschiedenen Aspekten zu erfassen. Wahrnehmend sind wir in der gleichen Welt situiert wie die wahrgenommenen Dinge, d. h. wir können auch handelnd mit ihnen umgehen, interagieren.
Die idealistische Konzeption der Wahrnehmung vergisst, dass wir leibliche Wesen, verkörperte Subjekte, und nicht in unserem Bewusstsein eingeschlossen sind.20 Die Verkörperung kommt nicht zur Wahrnehmung noch äußerlich hinzu, sondern sie wohnt ihr inne: Wir müssen schon leiblich in der Welt sein, mit ihr in Beziehung stehen, uns bewegen und agieren können, damit wir überhaupt etwas von ihr wahrnehmen. Es ist nur die Dominanz der »optischen«, auf dem Sehsinn basierenden Erkenntnistheorie und ihrer Metaphorik (Bild, Perspektive, Repräsentation etc.), die uns unsere Verkörperung vergessen lässt. Tatsächlich gibt es keine »Außenwelt« zu einem körperlosen Subjekt, wie Magrittes Bild suggeriert.
Vor einigen Jahrzehnten führten Held und Hein (1963) ein klassisches Experiment an neugeborenen Katzen durch, die bekanntlich zunächst blind sind. Eine Gruppe von Kätzchen konnte sich in der Versuchsumgebung aktiv bewegen; doch war jedes mit einem Kätzchen aus einer zweiten Gruppe zusammengeschirrt, das von ihm in einem Wagen passiv mitgezogen wurde. Nach einigen Wochen dieser Behandlung befreite man die Kätzchen der ersten Gruppe von ihrem Geschirr, und sie bewegten sich völlig normal fort. Die anderen, passiv gebliebenen Kätzchen hingegen waren unfähig, sich im Raum zu orientieren und Objekte zu erkennen, sie stolperten und stießen hilflos gegen Gegenstände. Rein optisch hatten sie die gleichen Reize erfahren wie die Kätzchen der ersten Gruppe und blieben doch blind für die Struktur und Räumlichkeit ihrer Umgebung. Das heißt: Nur der empfindende und zugleich bewegliche Organismus formt den erlebten Raum, nämlich aus den kohärent miteinander verknüpften Mustern von Motorik und Sensorik einschließlich des Gleichgewichtssinns.
Aus dieser und ähnlichen Beobachtungen folgt: Schon etwas so Grundlegendes wie den Raum erfassen wir nur als verkörperte und agierende Wesen.21 Das visuelle ist ebenso wie alle anderen Wahrnehmungsvermögen nur eine Extension der leiblichen Basis aller Welterfahrung. Wahrnehmend steht ein Lebewesen nicht der Welt gegenüber, sondern ist immer schon in ihr tätig und in sie verstrickt. Das liegt schon im Sinn des Wortes wahr-nehmen oder per-zipieren (von capere = ergreifen): Wahrnehmen kann nur ein Wesen, das sich auch zu bewegen und etwas zu ergreifen vermag. So bilden sich auch unsere Begriffe durch das »Begreifen«, also durch den aktiven Umgang mit der Welt. Wir könnten nicht abstrakt erkennen, was die Bedeutung von ›lang‹, ›tief‹, ›weich‹, ›schwer‹, ›heiß‹ oder anderen Eigenschaften ist – wir müssen es als leibliche Wesen erfahren. Ebenso ist die Wahrnehmung von Türen und Fenstern, Wiesen und Bäumen, Menschen und Tieren abhängig von unserem leiblichen, sensomotorischen Umgang mit ihnen (Fuchs 2020a). Wahrnehmen heißt immer schon, an der Welt teilzunehmen, sie zu berühren und von ihr berührt zu werden. Es beruht auf leiblicher Praxis.
Nun mag man die Leiblichkeit der Wahrnehmung vielleicht zugestehen – aber ist nicht das leibliche Subjekt insgesamt nur ein Konstrukt? Das räumliche Körperschema, die Propriozeption und die Bewegungsempfindungen oder Kinästhesen, wird all das nicht an bestimmten Arealen vor allem des Parietalhirns erzeugt und in den vom Gehirn konstruierten, virtuellen Raum hineinprojiziert? Das Phantomglied bei Amputierten und verwandte Erfahrungen bei Gesunden, in denen eigenleibliche Empfindungen außerhalb der Körpergrenzen lokalisiert werden, scheinen hinreichend zu belegen, dass unser subjektiver Leib selbst nichts anderes als ein gewohnheitsmäßiger Phantomkörper, eine Simulation oder Konstruktion des Gehirns ist.
Um das zu demonstrieren, verweist der Neurowissenschaftler Ramachandran auf die bekannte Gummihand-Illusion (Botvinik u. Cohen 1988): Wird die unter einem Tisch verborgene Hand einer Versuchsperson in genau dem gleichen Rhythmus berührt wie eine sichtbar vor ihr auf einem Tisch liegende Gummihand, so empfindet die Person diese Gummihand nach kurzer Zeit als »berührt« und zum eigenen Körper gehörig. Aus solchen Illusionen folgert Ramachandran kurzerhand: »Ihr eigener Körper ist ein Phantom (…), das Ihr Gehirn aus rein praktischen Gründen vorübergehend konstruiert hat« (Ramachandran u. Blakeslee 2001, 114). Der subjektive Leib wäre also ebenso ein Konstrukt des Gehirns wie die ganze erfahrene Wirklichkeit. Dies läuft offensichtlich auf eine Spaltung zwischen dem organischen Körper und dem subjektiven Leib hinaus, so als ob diese zwei unterschiedlichen Welten angehörten – der eine der physikalischen Welt, der andere einer vom Gehirn konstruierten »Innenwelt« des Bewusstseins. Das gilt dann auch für alle leiblichen Empfindungen:
»… wir müssen bedenken, dass auch der Schmerz eine Illusion ist – ganz und gar eine Konstruktion unseres Gehirns wie jede andere Sinneserfahrung« (ebd., 114).
»Sie können hinausgreifen und das Material der physischen Welt betasten […] Doch diese Tastempfindung ist keine unmittelbare Erfahrung. Obwohl es sich so anfühlt, also geschähe die Berührung in Ihren Fingern, geschieht doch in Wirklichkeit alles in der Schaltzentrale des Gehirns. Genauso verhält es sich mit allen Sinneserfahrungen. […] Ihr Gehirn hat die Außenwelt niemals direkt erfahren und wird es niemals tun« (Eagleman 2015, 40 f.; eig. Übers.).
Nun hat unser Gehirn sicherlich die Außenwelt niemals erfahren, denn es kann im Prinzip gar nichts »erfahren«. Aber wie steht es mit mir selbst? Ist mein räumliches Erleben von Berührung in meinen Fingern oder von Schmerz in meinem Fuß nur eine Illusion? Wenn die Wahrnehmung mehr als eine virtuelle Welt vermitteln soll, muss offenbar die angebliche Virtualität des Leiberlebens wiederlegt werden. Wie wir sehen werden, hält die mit dem Namen von Descartes verbundene Spaltung zwischen subjektivem Leib und objektivem Körper einer näheren Analyse nicht stand.