Читать книгу Das Gehirn - ein Beziehungsorgan - Thomas Fuchs - Страница 18
1.4 Dritte Kritik: Die Realität der Farben
ОглавлениеWie steht es nun schließlich mit den Qualitäten, die wir wahrnehmend erfahren – den Farben, Klängen, Gerüchen unserer Welt? Handelt es sich bei all dem, was die Welt vertraut und bewohnbar macht, nur um interne Konstrukte, die außerhalb unseres Gehirns oder Bewusstseins keinen Bestand haben? Zumindest ist dies, was der Neurokonstruktivismus behauptet:
Es ist anfänglich vielleicht beunruhigend, zu entdecken und erstmals wirklich zu verstehen, dass es vor unseren Augen keine Farben gibt. Das zarte aprikosenfarbene Rosa der untergehenden Sonne ist keine Eigenschaft des Abendhimmels; es ist eine Eigenschaft des inneren Modells des Abendhimmels, eines Modells, das durch unser Gehirn erzeugt wird. Der Abendhimmel ist farblos. […] Es ist alles genau so, wie es uns schon der Physiklehrer in der Schule gesagt hat: Da draußen, vor Ihren Augen, gibt es nur einen Ozean aus elektromagnetischer Strahlung, eine wild wogende Mischung verschiedener Wellenlängen« (Metzinger 2009, 38).
Als ein Charakteristikum des naturwissenschaftlichen Programms habe ich schon zu Beginn das Ziel benannt, die Natur durch Verschiebung von Qualitäten in das Subjekt von allen nicht mathematisch fassbaren Bestimmungen zu reinigen. Farben – um diese Qualitäten als Beispiel zu wählen – tauchen in der solchermaßen abstrahierten Welt nicht mehr auf. Nehmen wir an, eine Versuchsperson sähe einen grünen Baum vor sich auf der Wiese: Selbst eine umfassende physikalische Beschreibung all dessen, was dabei außer- und innerhalb ihres Körpers geschieht, würde rein als solche keinerlei Aussage über ihre Farbwahrnehmung zulassen. Ja ohne unsere Erfahrung von Farben hätte die Wissenschaft keinen Grund, ihre Existenz auch nur zu vermuten. Wir könnten zwar von der Versuchsperson erfahren, dass sie während unserer Untersuchung tatsächlich einen grünen Baum gesehen habe. Doch die physikalische Beschreibung würde nicht das Geringste zur Erklärung dieser Wahrnehmung beitragen, denn den Daten nach könnte die Person ebenso gut eine beliebige andere oder auch gar keine Farbe sehen. Farben sind physikalisch nicht erklärbar bzw. reduzierbar – daher liegt es aus dieser Sicht nahe, sie kurzerhand aus dem Bestand des Wirklichen zu eliminieren.
Auch der Neurowissenschaftler kann nur feststellen, dass beim Wahrnehmen der Farbe Grün Licht bestimmter Wellenlänge auf die Retina fällt und eine Kaskade neuronaler Prozesse auslöst, die im Areal V4 des Okziptallappens ankommt, das für die Farbwahrnehmung notwendig ist (Zeki 1992). Doch nirgendwo entlang dieses Wegs wird er die Farbe Grün entdecken, oder etwas, was die Farbwahrnehmung als solche erklärt – sowenig wie der Physiker bei seinen Beobachtungen außerhalb des Körpers. Zweifellos bedarf es der Lichtwellen, die, von einem Gegenstand reflektiert, die Retina reizen, damit wir etwas sehen können, oder der Schallwellen, die unser Trommelfell in Schwingung versetzen, damit wir Töne hören. Aber wir sehen keine Lichtwellen und hören keine Schallwellen, sondern Farben und Töne. Sollten wir sie deshalb nur als eine Illusion ansehen, die vom Gehirn erzeugt wird?
Freilich lässt sich die Existenz sensorischer Qualitäten in der wahrgenommenen Umwelt auch nicht widerlegen. Doch Farben sind offenbar doch Eigenschaften von anderer Art als etwa die Größe oder die Masse eines Objekts, die sich unabhängig vom Licht messen lassen. Schließlich verschwindet das Grün des Baumes in der Nacht, während dessen Höhe gleichbleibt. Bereits auf der physikalischen Ebene hängen Farben von der Beleuchtung ab, also von der jeweiligen Interaktion von Objekt und Licht. Aber selbst die Wellenlänge des reflektierten Lichts lässt sich nur ungefähr mit der wahrgenommenen Farbe korrelieren. Die gleiche Wellenlänge kann je nach Umgebung und Kontext mit unterschiedlichen Farbwahrnehmungen korreliert sein – die Farbkonstanz in der Dämmerung oder die sogenannten Farbillusionen belegen dies nur zu deutlich. Offensichtlich bedarf es einer Interaktion von Objekt, Licht und wahrnehmendem Organismus, damit eine bestimmte Farbe in der Welt auftaucht. Doch von einem physikalischen oder neurobiologischen Standpunkt aus lassen sich immer nur Bedingungen oder Korrelate der Farbwahrnehmung angeben, die sie nie als solche erklären oder vorhersagen können (Stroud 2000).
Nun kann es dem Physiker an sich gleichgültig sein, ob der Baum abgesehen von seiner materiellen Teilchenstruktur auch noch grün ist oder nicht. Die Frage taucht bei seinen Messungen und Theoriebildungen einfach nicht mehr auf. Die Bestreitung der Qualitäten ergibt sich daher nicht etwa aus einer physikalischen Notwendigkeit. Sie rührt vielmehr aus einem szientistischen Weltbild, das die ursprünglich für bestimmte Zwecke willkürlich gewählten, quantifizierbaren Ausschnitte der Wirklichkeit, vor allem aber die daraus abgeleiteten theoretischen Konstrukte (Atome, Photonen, elektromagnetische Felder etc.) zur »eigentlichen« Realität erhebt. Physikalische Beschreibungen und Erklärungen sollen nun für alle Bereiche der Lebenswelt gültig sein. Dann ist der grüne Baum nur noch ein großer Molekülhaufen, das Lied der Nachtigall in seinen Zweigen eine irreguläre Sequenz von Luftdruckschwankungen und die Freude des Wanderers, der ihr zuhört, ein bestimmtes neuronales Erregungsmuster.
Doch diese szientistische Weltsicht ist keineswegs unausweichlich. Die Tatsache, dass Lichtwellen nicht farbig und Schallwellen nicht laut sind, ist kein Grund, die Wirklichkeit von Farben und Töne zu bestreiten. Schließlich gibt es eine Fülle von anderen Merkmalen der Wirklichkeit, die ebenfalls durch das recht grobe Raster physikalischer Beschreibungen fallen – etwa die Fruchtbarkeit von Obstbäumen, das Brutpflegeverhalten von Graugänsen, die Verfassung der USA oder der deutsche Exportüberschuss im Jahr 2019. Soll all dies nichts Wirkliches bezeichnen, nur weil die Physik dazu nichts zu sagen weiß?
Der Physikalismus behauptet, alles, was sich über die Welt aussagen lässt, ließe sich auf physikalische Tatsachen zurückführen (so etwa Quine 1980). Freilich gilt dies zumindest sicher nicht für diese Aussage selbst – denn das Wissen, was überhaupt eine physikalische Tatsache ist, kann selbst nicht in der Menge aller physikalischen Tatsachen enthalten sein. Aber auch das zu Reduzierende – die Wahrnehmung von Farben, Tönen, Gerüchen – kann gar nicht Gegenstand physikalischer Aussagen sein, da es eben primär zu den psychologischen Tatsachen gehört. Der physikalistische Reduktionist hat es also mit Phänomenen zu tun, die er in der Sprache, die er als einzig zulässige voraussetzt, nicht einmal beschreiben, geschweige denn reduzieren kann.
Natürlich hätte es in einer rein physikalischen Welt keinen Sinn, von Farben oder Tönen zu sprechen. Aber eine solche Welt ist nur eine gedachte Abstraktion von der Welt, die wir als Lebewesen bewohnen und erfahren – der Welt, die unser Organismus sich erschließt, um sich in ihr zu erhalten, in der er qualitative Unterschiede macht, die sich so auf der physikalischen Ebene nicht finden, und so die Umwelt in Bedeutsames und Relevantes strukturiert. So wird es auch möglich, dass die Dinge und Lebewesen sich uns zeigen, also in Farben, Klängen und Düften über sich hinaus und mit uns in Beziehung treten. Insofern sind die Sinnesqualitäten Resultate der Beziehung eines Lebewesens zu seiner Umwelt; doch diese Beziehung hat einen welterschließenden und insofern durchaus objektiven Charakter. Selbst die sogenannten primären Qualitäten der Physik werden uns nur über die sekundären überhaupt zugänglich.
Ist der Baum also tatsächlich grün? Das kommt darauf an, ob wir ihn als Teil unserer gemeinsamen Lebenswelt betrachten – dann können wir uns jederzeit auf seine Farbe einigen, sie ist also nicht etwa »nur subjektiv« – oder aber in eine physikalische Konstruktwelt hinabsteigen, in der sich von den lebensweltlichen Qualitäten voraussetzungsgemäß nichts mehr findet. Weder ist die Farbe eine objektive Eigenschaft der materiellen Welt (»naiver« Realismus), noch ist sie bloßes Produkt einer Innenwelt (Konstruktivismus). Farben und andere Sinnesqualitäten sind Ausdruck einer Komplementarität von Lebewesen und Umwelt. Sie entstehen im Zusammenwirken von Wahrnehmungsvermögen und Objekteigenschaften. So lässt sich zeigen, dass die Ausbildung von Farbmustern bei Blütenpflanzen sich in ständiger Interaktion mit der Ausbildung des Farbsehens bei Insekten vollzog. Die Eigenschaft und ihre Wahrnehmung entstanden in verschiedenen Arten ko-evolutiv, im Rahmen eines übergreifenden ökologischen Systems (Ehrlich u. Raven 1964).
In ähnlicher Weise gilt für das Leben insgesamt: Mit seiner Entwicklung veränderte sich auch die Welt; es traten neue, systemische Beziehungen und entsprechende relationale Eigenschaften auf. Lebewesen erzeugen qualitative aus quantitativen Unterschieden, und damit verwandeln sie die Welt, denn die spezifische Beziehung von Farbeigenschaft und Farbwahrnehmung gehört nun als solche zu ihren objektiven Merkmalen. Diese verwandelte Welt ist unsere Lebenswelt. Wir alle, sofern wir nicht blind sind, sehen Farben und können unsere Wahrnehmung mit der Wahrnehmung anderer abgleichen. Wir kleiden uns in bestimmten Farbtönen, um anderen Menschen zu gefallen, und Maler gestalten mit Farben die Leinwand, um damit bestimmte Wirkungen in uns hervorzurufen. Unsere Welt enthält daher Farben und andere Qualitäten ebenso notwendig wie sie Früchte, Bäume, Tiere und Menschen enthält – wir können nicht das eine bestreiten und das andere bestehen lassen.