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1.3.2 Die objektivierende Leistung der Wahrnehmung
ОглавлениеWas wir wahrnehmen, sind weder Bilder noch Modelle, sondern Dinge und Menschen. Das ist zunächst keineswegs selbstverständlich: Wenn ich beispielsweise ein Haus wahrnehme, dann sehe ich doch eigentlich immer nur eine, perspektivisch begrenzte Ansicht des Hauses. Wie überwindet die Wahrnehmung diese Begrenztheit?
Husserl hat gezeigt, dass die Wahrnehmung ihre Gebundenheit an eine Perspektive aufhebt, indem sie weitere mögliche Aspekte der Dinge integriert (Husserl 1950, 91 ff.). So nehmen wir nicht nur die sichtbare Seite des Hauses wahr, sondern wir sehen auch seine anderen Seiten »mit hinzu«, die wir beim Herumgehen um das Haus erblicken würden. Wir nehmen auch seine Materialität mit wahr, ebenso wie die Möglichkeiten des Handelns, die es uns bietet (z. B. darauf zulaufen, die Türe öffnen, die Treppe hinaufgehen, usw.). Alle diese impliziten Gehalte unserer Wahrnehmung leiten sich von früheren Erfahrungen ab, die wir im Umgang mit Häusern gemacht haben. Daher beruht meine Wahrnehmung eines Objekts auf einem Horizont möglicher Erfahrungen mit diesem Objekt, der jetzt implizit mitgegeben oder »appräsentiert« ist, wie Husserl es ausdrückt. Das heißt, es ist mein verkörperter Umgang mit der Welt, der es mir ermöglicht, das Haus selbst zu sehen, und nicht einen bloßen Empfindungseindruck oder ein subjektives Bild.
Doch es gibt noch eine andere Ebene der Objektivität, die für die menschliche Wahrnehmung charakteristisch ist. Denn wir nehmen das Haus nicht nur als Gegenstand möglichen Handelns wahr, sondern auch als unabhängig von unserer momentanen Wahrnehmung existierend. Die Dinge sind ja nicht nur »für mich« da, in der Immanenz meiner Subjektivität, sondern sie sind mir als solche gegeben. Wie ist diese Unabhängigkeit möglich? – Husserls spätere Antwort verweist auf die Intersubjektivität der Wahrnehmung: Das Haus, das ich dort sehe, ist auch ein möglicher Gegenstand für andere, die es gleichzeitig von anderen Seiten sehen könnten. Somit gewinnt der Gegenstand seine eigentliche Objektivität für mich erst durch die implizit vorausgesetzte Pluralität anderer Perspektiven. Husserl spricht hier auch vom »Horizont möglicher eigener und fremder Erfahrung« oder von einer »offenen Intersubjektivität« (Husserl 1973, 107, 289). Die Pluralität möglicher Subjekte entspricht der Pluralität von Aspekten, die ein Gegenstand aufweist. Alle könnten dieses Haus jetzt sehen. Selbst Robinson sah seine Insel immer auch mit den Augen der anderen, noch bevor Freitag auf den Plan trat. Im Wahrnehmen bewohnen wir immer schon einen Raum, den wir mit anderen teilen.36
Wie wir sehen, bedeutet die Perspektivität der Wahrnehmung keineswegs bloße Subjektivität oder Virtualität. Im Gegenteil, durch die Interaktion mit den Dingen und durch unsere Interaktionen mit anderen sind wir in der Lage, unsere primäre Subjektivität aufzuheben. Die Gestaltpsychologie hat darüber hinaus gezeigt, wie die Wahrnehmung Fragmente zu Ganzheiten vervollständigt (z. B. fehlende Buchstaben zum Wort ergänzt), Farb- oder Formkonstanzen auch dort herstellt, wo das Wahrnehmungsfeld diskontinuierlich oder verzerrt ist (so sehen wir ein schräg gestelltes Rechteck nicht als Rhombus, sondern immer noch als Rechteck), ja dass sogar die Illusionen der Wahrnehmung auf Ausgleichsprozessen beruhen, die normalerweise der objektiven Wiedergabe der Umwelt dienen. Neurokonstruktivisten führen solche Illusionen gerne ins Feld, um die Virtualität der Wahrnehmung zu erweisen. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Gerade die aktiv gestaltende, intentionale Struktur unserer Wahrnehmung befähigt uns, nicht bloße »1:1-Abdrücke« von Reizen zu empfangen, sondern wirkliche Dinge zu erkennen.
Nicht die materiellen Prozesse, die sich zwischen den Objekten, Sinnesrezeptoren und Gehirn abspielen, sind ja das »eigentlich wirkliche« Geschehen bei der Wahrnehmung. Diese gesamte Kaskade von physikalischen und biologischen Prozessen ist nur ihre materielle Grundlage. Es gäbe für uns keine Welt von Wiesen, Bäumen, Katzen oder Menschen und natürlich auch kein adäquates Handeln in dieser Welt, hätte die Wahrnehmung nicht die Elementarprozesse immer schon zu sinnvollen Bedeutungen und Gestalten integriert. Wir nehmen nicht Reize oder Bilder wahr, sondern Gestalt- und Sinneinheiten. Wahrnehmung bedient sich der vermittelnden Prozesse, um eine unmittelbare Beziehung zu den Dingen herzustellen – eine vermittelte Unmittelbarkeit.37
Ich muss also froh sein, meine Hirnzustände nicht wahrnehmen zu können, weil sie selbst mir nicht die geringste Auskunft über die Wirklichkeit geben könnten – ebensowenig wie Radiowellen selbst die Musik hören lassen, die sie übermitteln. Daher sind auch neuronale Prozesse nicht in irgendeiner Weise »realer« als die Wahrnehmungen der Dinge, die sie vermitteln. Das wird spätestens dann unabweisbar, wenn es um meine Mitmenschen geht: Wäre die physikalische Realität die »eigentliche«, so wären sie letztlich nur Gebilde aus Materie- und Energiezuständen. Meine integrierende, gestaltbildende Wahrnehmung zeigt mir andere Menschen somit als das, was sie in Wirklichkeit auch sind – oder sollten wir immer noch von »Konstrukten«, »Bildern« und »Simulationen« sprechen, wenn wir andere erblicken? Auch hier lässt sich der Neurokonstruktivismus nur solange aufrechterhalten wie man das interpersonelle Verhältnis außer Acht lässt. Wahrnehmung ist freilich keine reine Wiedergabe von Reizkonstellationen, denn sie selektiert und gestaltet das Wahrzunehmende. Aber deshalb ist sie doch kein bloßes Konstrukt, sondern sie präsentiert uns die Dinge und Menschen selbst, und in ihrer Beziehung zu uns.
Hier wird eine entscheidende Qualität der Wahrnehmung deutlich, die sich auf physikalischer und physiologischer Ebene nicht findet: Sie stellt eine Koexistenz zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen her. Den anderen Menschen sehend, sehe ich ihn auch in Beziehung zu mir, in einem gemeinsamen Raum. Und nur insofern die phänomenale Welt sich uns als zugänglich, verständlich und bedeutsam darstellt, kann sie für uns überhaupt zur Wirklichkeit werden. Das wird vor allem dadurch möglich, dass wir als verkörperte Subjekte selbst immer schon dieser Welt angehören. Der vermeintlich nur subjektive oder virtuelle Raum des phänomenalen Erlebens ist also alles andere als eine im Kopf zu lokalisierende Innenwelt: Es ist der Raum unseres In-der-Welt-Seins – der Raum der Beziehung zu allem, was für uns Bedeutsamkeit besitzt oder erlangt.