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1.3 Zweite Kritik: Die Objektivität der phänomenalen Welt 1.3.1 Der Raum der Wahrnehmung

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Was für die eigenleibliche Wahrnehmung gezeigt wurde, gilt es nunmehr auf die Wahrnehmung insgesamt auszudehnen. Trifft hier nun doch die Illusionsthese zu? Sehen wir in Wahrheit nur Bilder, passend konstruiert und auf den Schirm unseres Bewusstseins projiziert von der Camera Obscura des Gehirns?

Natürlich verhält es sich phänomenal ganz anders: Beim Sehen, wie bei jeder anderen Sinneswahrnehmung, sind wir nicht im Kopf, sondern in der Welt und bei den Dingen. Wahrnehmung findet auch nicht in einem Behälter namens Bewusstsein statt, in den Sinnesreize von außen importiert würden. Ich nehme nicht »Sehempfindungen« oder Bilder wahr, sondern den Schreibtisch, das Fenster, den Himmel usw. Ich höre keine »Schallempfindungen«, sondern Musik. Wahrnehmung stellt eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Gegenstand her. Ist diese Unmittelbarkeit unserer Welterfahrung wirklich nur eine Täuschung?

Das Problem, wie es überhaupt zu einer phänomenalen Welt kommt und welche Funktion sie hat, beschäftigt auch die kognitiven Neurowissenschaften. Warum, so fragt etwa Prinz, nehme ich eigentlich nicht die Reizungen meiner Netzhaut, die Aktionspotenziale meiner Sehnerven oder direkt meine Hirnzustände wahr, wenn sie doch das tatsächliche Substrat meiner Wahrnehmung sind?34 Und warum plane ich Handlungen und nicht direkt die entsprechenden neuromuskulären Prozesse meines Körpers? Mit anderen Worten: Warum gibt es überhaupt »distale« und nicht »proximale Repräsentationen«? – Die Erlebniswelt, so lautet Prinz’ Antwort, stellt einen »virtuellen Raum« dar, in dem die verschiedenen sensorischen und motorischen »Datenformate« einander angeglichen und integriert werden. In diesem Raum können wir also zugleich wahrnehmen, Ziele erkennen und handeln, ohne vom Wissen um die »tatsächlich« ablaufenden physiologischen Prozesse belastet zu sein.

Freilich liegt schon in Prinz‹ Frage ein Kategorienfehler, nämlich die Verwechslung von kausaler und intentionaler Ebene: Wir nehmen Lichtwellen ebenso wenig wahr wie Nervenerregungen, weil sie eben nur die physischen Trägerprozesse der Wahrnehmung darstellen und nicht die Wahrnehmung selbst. Was der Wahrnehmung als vermittelndes Substrat zugrunde liegt, kann schwerlich selbst zu ihrem Gegenstand werden. Zudem erkennt Prinz mit seiner Antwort an, dass gerade die phänomenale Welt uns Orientierung und Handeln in der Welt ermöglicht; dann bleibt nur unerfindlich, warum er sie als »virtuellen Raum« bezeichnet. Immerhin erlaubt sie uns, über einen gesehenen Graben zu springen und mit den Füßen tatsächlich auf der anderen Seite anzukommen. Ihr zugrunde liegt ein »sensus communis«, also ein gemeinsamer Rahmen für die verschiedenen Sinne und Bewegungen, so dass etwa die Person, die ich sehe, ihre Stimme, die ich höre, und ihre Hand, die ich schüttle, dem gleichen Raum angehören – und das ist ja wohl auch tatsächlich der Fall.35 Für eine »Scheinwelt« verfügt die Erlebniswelt also über ein erstaunliches Maß an Objektivität. Betrachten wir dies noch etwas näher.

Das Gehirn - ein Beziehungsorgan

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