Читать книгу Die Reinsten - Thore D. Hansen - Страница 10

4 17. SEPTEMBER,
METROPOLE NEW PARIS, EUROPA

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»Danke, dass wir dich versorgen durften.«

Eve stand auf, sah der Reinsten ins Gesicht, nickte, atmete einmal tief durch und verließ den sterilen Raum des Medilab. Ihr Implantat war in Ordnung und die Standardnanobots waren ausgetauscht worden. Auf dem Bildschirm über ihr konnte sie sehen, wie sie sich in ihrer Blutbahn verteilten.

Sie musste immer wieder an Tessas warnende Worte denken, als die großen Glastüren vor ihr aufgingen und sie den medizinischen Gebäudekomplex verließ. Was bewog ihre Mutter, so energisch auf die Beziehung zu Samir und Adlin hinzuweisen? War es einfach ihr mütterlicher Instinkt, dass sie bei einem Verlust von Thyron ähnliche Gefühle würde ertragen müssen wie sie? Genau solche Projektionen waren das Leiden der Angepassten. Auch ohne Hirnimplantat konnten sich Angepasste einer Prozedur unterziehen, in der Askit ihre Persönlichkeitsfaktoren in einer Simulation aufschlüsselte und daraufhin ein Trainingsprogramm entwickelte, das Tessa zumindest mehr Spielraum innerhalb von Paradise verschafft hätte. Je mehr Askit von einem Menschen wusste, desto mehr Verantwortung wurde ihm anvertraut.

Auf dem Vorplatz des Zentrums blickte Eve verträumt auf eine alte Inschrift, die über einem Schulungscenter für Reinste hing.

HINGABE – DEMUT – REINHEIT – HÖCHSTES POTENZIAL.

Die Außentemperatur betrug immer noch achtunddreißig Grad. Auf dem Display ihres Scanners lieferten die neuen Nanobots eine Erklärung für ihren Schwindel: Ihr Blutdruck war viel zu niedrig, sie hatte zu wenig geschlafen, ein leichter Schleier lag auf ihrem Gemüt.

Sie stellte sich mit einer Gruppe junger Studenten an einem der vielen Versorgungsstände an, die es überall in den Metropolen gab, und wartete geduldig, bis ein älterer Mann in Leinenkleidung ihr eine Essensration aushändigte.

Während der Heimfahrt ballte sie mehrmals ihre Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Die Nahrung hatte ihr wieder Energie gegeben. Sie wollte sich bewegen, die letzten Kilometer würde sie laufen. Sie stoppte den Bus, schaltete die Kühlung ihres Anzuges an, lief und spürte, wie die Luft sie wacher machte, die endlosen Baumreihen spendeten einen leichten Schatten. Rechts und links reihten sich die Häuser, das Geschrei tobender Kinder drang bis auf die Straße, bis sie vor lauter Glück einen Moment stehen bleiben musste. Ihre Endorphinwerte waren auf einem Höchstniveau. Gerade als sie weiterlaufen wollte, erschien auf ihrem Display Thyron.

»Du hast mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt.«

»Bitte, was?«

»Ich bin auf dem Weg zu Tessa. Schön, dass du dich meldest. Du weißt, dass ich morgen komme?«

»Das ist mir nicht entgangen. Ich freu mich. Wir machen hier gerade bedeutende Fortschritte. Wir haben Effekte, mit denen wir nicht gerechnet haben. Selbst Askit konnte sie mit seiner Datenmenge nicht prognostizieren. Die Ausweitung der Waldflächen der letzten Jahrzehnte wurde von allen theoretischen Modellen unterschätzt. Wir haben immer gedacht, dass die Masse an dunklen Wäldern, ihre Blätter, das Sonnenlicht in einem Verhältnis anziehen würden, dass es den Treibhauseffekt zumindest anfänglich verstärken würde, aber nein! Eve, zum ersten Mal werden wir im September unter einen Wert von 550 ppm kommen. Das ist der CO2-Wert von 2076. Die Konverter und alle anderen Maßnahmen leisten ihren Beitrag, aber am Ende ist es das Pflanzenwachstum im Frühjahr und Sommer, und wenn es so weitergeht, werden wir noch erleben, wie es in Grönland wieder schneit.«

Eve setzte sich auf eine Bank am Straßenrand, die unter einer Buche einen Schattenplatz anbot. Die Sonne blinzelte nur leicht durch die Blätter.

»Du hast die Abkühlung der Ozeane vergessen!«

»Natürlich nicht. Nur für diesen Effekt ist das Absorptionspotenzial durch die immer schneller zunehmende Vegetation verantwortlich, das schmälert nicht die Leistung anderer Fachgebiete, systemisch gehört alles zusammen.«

»Du glaubst, dass ich das aus egoistischen Motiven sage?«

»Ja, Askit hat mich schon vor deinem Rückfall gewarnt.«

Eve lachte lauthals los und sah ihrem Mann Thyron liebevoll an. Er war in letzter Zeit wieder zu Scherzen aufgelegt. Seine Zufriedenheit strahlte auf alles und jeden ab, vor allem auf ihn selbst.

»Ich weiß, dass meine Arbeit nur einen winzigen Teil beiträgt. Ich glaube, ich hab gerade nur zu viele Endorphine im Blut«, sagte Eve.

»Kann ich verstehen. Dein letzter Scan war unglaublich.«

Eve sah, wie ein alter Mann mit schnellen Schritten an ihr vorbeilief, seine Frau joggte vor ihm her und strahlte über das ganze Gesicht. Einen Moment blieb die Zeit stehen. Die Alten hatten noch eine andere Phase dieser gebeutelten Welt erlebt, in der nicht sicher war, ob ihre Kinder und Kindeskinder eine Zukunft haben würden. Die erste Generation nach dem Kollaps hatte nur ein durchschnittliches Alter von weniger als fünfzig Jahren erreicht, die Strapazen des Aufbaus von Paradise oder die Strahlenkrankheiten hatten ihren Tribut gefordert. Bis die Gesellschaft wieder eine Form und Organisationsdichte erreicht hatte, die eine Aufnahme von wissenschaftlicher Arbeit ermöglichte, um schwere Krankheiten und Mutationen durch Gentechnik erfolgreich zu behandeln, waren unzählige Menschen ohne Nachwuchs gestorben. Egal ob Reinste oder Angepasste, die Älteren genossen ein hohes Ansehen. Mittlerweile musste Askit die Geburten wieder kontrollieren, indem es die Ergebnisse des Scans und die Erbanlagen als Grundlage für seine Entscheidung nahm. Auch wenn Askit schon vor Jahren die genetische Reinheit von Thyron und Eve für kompatibel befunden hatte, war es noch keine Gewissheit, ob sie selbst eines Tages ein Kind haben würden. Thyron wäre sicher ein guter Vater, aber als Reinste der Akademie der Wissenschaft war es üblich, sich ganz in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.

»Eve, bist du noch da?«

»Was? Ja, okay, ich möchte noch laufen. Wir sehen uns morgen. Volles Potenzial!«

»Es wird Zeit, dass du Deep Water siehst. Glückwunsch zur Walexpedition, du hattest den richtigen Impuls. Volles Potenzial, Eve!«

Sie stand auf und lief weiter an verwilderten Wäldern vorbei, die von Lianen und Farnen durchzogen waren. Sie wurden vor über einem Jahrhundert künstlich angelegt und gaben der Tierwelt ihren Platz. Thyron hatte vermutlich recht. Die Korridore für die Tier- und Pflanzenwelt wurden allein in Nordamerika zwischen den Rocky Mountains bis hinauf zur Hudson Bay Kanadas in nur drei Jahrzehnten aufgeforstet und entwickelten sich durch die Abwesenheit des Menschen zu einer neuen Lunge des Planeten. Askits Programmierung war unbestechlich dem Ziel verpflichtet, das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was den Menschen in der Vergangenheit an Mut und Weisheit für radikale Veränderungen gefehlt hatte, entschied Askit in Nanosekunden, sobald es alle relevanten Informationen hatte, und davon hatte es in der Gegenwart unendlich. Aber ob es wirklich reichen würde, um das Klima dauerhaft auf ein stabiles Niveau zu bringen? Ihr Vater Patrick hatte einst vehement seine Zweifel darüber geäußert, dass Askit relevante Daten fehlen könnten, die letztendlich alle Maßnahmen als nutzlos dastehen lassen würden. Eve konnte sich noch genau an jenen Tag und seinen verzweifelten Gesichtsausdruck erinnern, als er sie nach einem Streit mit einem Wissenschaftler kurz vor seinem Verschwinden ins Medilab gebracht hatte. Ihr Thermoanzug war ausgefallen, und sie war bei über 50 Grad im Schatten kollabiert. Als sie fragte, wie es so weit kommen konnte, dass sie unter der Sonne so leiden mussten, erzählte er ihr, dass die Menschen zu lange darum gestritten hatten, ob Geoengineering die richtige Maßnahme sei, um das Drama abzuwenden, oder ob sie damit nicht noch alles weiter verschlimmern würden. Laut Askit hatten die Menschen durch ihre Anzahl und Lebensweise längst Geoengineering betrieben. Es sei unlogisch gewesen, darüber länger nachzudenken. Der Tag, an dem sich die verbliebenen Regierungen der künstlichen Intelligenz unterwarfen, der 21. September 2041, war die Stunde null gewesen. Askit entwarf das globale Notstandsprogramm und verbot den Menschen, sich über die verbliebene Zahl von knapp zehn Millionen Menschen hinaus zu vermehren, legte die Gebiete fest, an denen sie sich noch ansiedeln durften. Als Kind fand sie den Gedanken noch grausam, wie viele Menschen erst ihr Leben lassen mussten, um Paradise zu ermöglichen. Was übrig blieb, war gerade genug, um Askit eine neue Zivilisation aufbauen zu lassen und zu prognostizieren, wie schnell sich die Erde allein schon durch die Reduzierung seines schädlichsten Faktors erholen würde: des Menschen.

Heute gewann das Leben der Menschen und Tiere umso mehr an Qualität, und als wären ihre Gedanken der Produzent der Realität, erblickte Eve eine Bärenfamilie, die die Straße kreuzte, ohne Kenntnis von ihr zu nehmen. Sie drosselte ihr Tempo, versuchte, weniger kräftig aufzutreten, bis die Bärenmutter mit ihren Jungen wieder im Dickicht verschwand. Überall auf der Welt lebten die Menschen in Koexistenz mit zahlreichen wilden Tieren, und der Wald hatte sich über ehemalige ausgedörrte Ackerflächen schneller ausgebreitet als gedacht. Bevor Askit 2043 die Religion verboten hatte, wollten ihre letzten Anhänger es als göttliche Fügung interpretieren, dass gerade so viele Menschen überlebten, um mit ihrer verbliebenen Kraft das aufzubauen, wovon heute alle gut leben konnten.

Wieso musste sie gerade jetzt daran denken, fragte sich Eve. Sie schüttelte sich während des Laufs. Es gab keinen Grund zurückzuschauen, und doch konnte sie nicht widerstehen, es war sogar ein beruhigendes Gefühl.

Es ließ die Gegenwart, das Erreichte greifbarer, noch wertvoller erscheinen, denn das war Paradise für sie, seit sie denken konnte.

Tessa kam ihr auf der Straße entgegen. Etwas musste vorgefallen sein. Sie wirkte angespannt, der Schweiß lief ihr die Stirn herunter, und sie atmete schwer.

»Was ist passiert?«

»Julian ist verunglückt. Du musst mir helfen, schnell!«

Eve sprintete los. Sie sah, wie Tessa humpelnd versuchte, ihr Tempo zu halten. Julian wohnte direkt gegenüber von Tessa und produzierte wie sie Obst und Gemüse. Er war schon über siebzig Jahre alt. Als sie den Garten erreichten, verband sich Eve mit seinem Scanner, auch er war ein Angepasster ohne Hirnimplantat.

Tessa kam atemlos und mit kreidebleichem Gesicht dazu.

»Ich hoffe, er hat wenigstens Nanobots.«

»Ja, wegen seines Herzfehlers.«

Julians graue Haare und sein zerfurchtes Gesicht waren blutverschmiert. Sein Blutdruck war bedrohlich niedrig, und er verlor am rechten Bein sehr viel Blut.

Eve schloss die Augen und verband sich direkt mit Askit.

Askit? Kannst du mir helfen? Ich stelle die Verbindung zu den Nanobots her. Er ist für Tessa ein wertvoller Freund.

Sein Blutverlust ist zu hoch, sein Herz kollabiert. Er wird die nächsten zehn Minuten nicht überleben. Danke für deinen Einsatz, Eve. Ich übernehme das.

Danke, Askit.

»Danke für dein Leben und was du für Paradise getan hast, Julian«, sagte Eve zu dem Sterbenden.

Tessa vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Händen. »Was soll das heißen? Willst du ihn verbluten lassen, wo bleibt das Medicar? Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

Tessa liefen die Tränen die Wangen hinunter.

»Gib ihm Halt, es ist gleich vorbei. Er ist mit 98-prozentiger Sicherheit vor dem Eintreffen eines Medicars nicht mehr am Leben.«

»98 Prozent sind keine Gewissheit! Das heißt, sie kommen nicht?«

»Mutter, du weißt, dass das nicht in Ordnung ist. Unser Überleben ist nun mal davon abhängig, dass wir unsere Grenzen akzeptieren. Deine Emotionen …«

»Schon gut, schon gut«, sagte Tessa.

Eve spürte, wie sie sich zwang, ruhig zu bleiben, während ihr ganzer Körper vibrierte und sie ihre Lippen zusammenpresste. Tessa atmete tief ein und nahm Julians Hand. Seine Augen schlossen sich, seine Atmung hatte wie prognostiziert aufgehört, die Nanobots hatten genug Schmerzmittel ausgeschüttet, um Julian den Übergang zu erleichtern. Tessa erhob sich in Tränen aufgelöst, ging ins Haus und holte einen der vorgeschriebenen Standardtransportsäcke für Verstorbene, wie es sie in jedem Haushalt gab. Er würde Julians Leiche bis zu seiner Entsorgung kühlen. Sie ließ ihn auf den Boden fallen und kniete sich langsam mit verzerrtem Gesicht nieder.

»Er wird froh gewesen sein, dass du ihn gefunden hast, dass er noch mal deine Hand gespürt hat«, sagte Eve.

»Es tut mir leid, Kind. Ich hab mich kurz gehen lassen.«

Eve legte ihren Arm um Tessa und half ihr wieder hoch.

»Geh schon. Ich bleib noch ein wenig hier.«

Eve zögerte nicht, ging aus dem Garten auf die Straße. Es war Zeit für ihre Übungen. Kurz bevor sie Tessas Haus erreichte, meldete sich Askit.

Danke, Eve. Dein Score hat sich um einen weiteren Punkt erhöht.

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