Читать книгу Die Reinsten - Thore D. Hansen - Страница 9
3 17. SEPTEMBER,
METROPOLE NEW PARIS, EUROPA
ОглавлениеAm frühen Morgen erreichte der Hyperloop New Paris. In Gedanken verloren hatte Eve es fast verpasst, auszusteigen. Pellengrey war verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Auf der Gangway hielt sie erfolglos nach ihm Ausschau zwischen Arbeitern und Reinsten, die geschäftig ihrer Wege gingen. Selten hatte er so schlecht ausgesehen. Üblicherweise war er immer von einer ansteckenden positiven Aura umgeben, er glaubte fest daran, dass sich die Welt wieder erholen würde, und die letzten Jahre war er voller Hoffnung gewesen, dass er richtig lag. Sie blickte nach oben in den alles überragenden Stahlkuppelbau, dessen Glasfassade Solarzellen und Spiegel überzogen. Wenn es auch inzwischen wieder möglich war, sich draußen länger aufzuhalten, blieb die über 500 Meter kreisrunde Anlage stets der Dreh- und Angelpunkt der Metropole. Mit Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad war es erträglich. Vom Zentrum blickte Eve rundherum auf die strahlenförmig angeordneten Korridore, die zu den mehrgeschossigen hellen Gebäudekomplexen führten, die kreisrund in zwanzig Reihen symmetrisch hintereinander parallel zur zentralen Kuppel angeordnet waren. Dort befanden sich die Verwaltungen, Schulen, Medilabs, Lebensmittelverteiler, Rechenzentren, Forschungsabteilungen, Produktionshallen und Wohnquartiere für die dort arbeitenden Menschen. Jede neue Metropole war so ausgerichtet, dass der Hyperloop genau in der Mitte unter der Kuppel sein Ziel erreichte. Bis auf den inneren Ring wurden die Freiflächen für künstliche Flüsse oder für Bäume und Pflanzen genutzt, die der Hitze standhalten konnten und der Stadt so ein eigenes Mikroklima verschafften. In alle Richtungen waren die konzentrischen Kreise von Brücken und Straßen durchzogen. Eve verweilte gerne einen Moment an dem höchsten Aussichtspunkt und genoss die Schönheit der Architektur. Sie schaute sich kurz um. Es waren ungewöhnlich viele Menschen unterwegs. Von den rund zehn Millionen verbliebenen Menschen auf der Welt lebten allein in der Metropole New Paris und dem Umland eine Million. Von allen Seiten war das Brausen der Ventilatoren zu hören, das Summen der technischen Einrichtungen, die einem verlässlichen Uhrwerk gleich die innere Atmosphäre erhielten. Das war es, was das Leben in dieser halbautarken Welt ausmachte. Überall, wo es der Platz zuließ, waren kleine Bäume und Pflanzen zu sehen. Selbst Nutzpflanzen zierten die sterile Umgebung aus Glas, Stahl und recyceltem Kunststoff. Sie ging eine Treppe hinunter und strebte dem westlichen Ausgang zum Solarbusbahnhof zu. Die Luft war im Vergleich zu draußen dicker, lebendiger, im untersten Stockwerk waren so viele Pflanzen, dass ein leichter Geruch von feuchter Erde und organischen Stoffen in Eves Nase kroch – Leben! Sie füllte noch einmal ihre Lungen und verließ den Ausgang zum Busbahnhof. Von hier fuhr regelmäßig ein Shuttle, der sie in ihr altes Zuhause brachte, die Wohn- und Landwirtschaftsgebiete.
Noch vor zwei Jahrzehnten waren die Menschen kaum in der Lage gewesen, sich länger als zwei Stunden draußen aufzuhalten. Ein Thermoanzug konnte bei über 50 Grad nicht lange Abkühlung gewährleisten. Eve konnte sich nur schwer vorstellen, wie die Erbauer der Metropolen gelitten haben mussten. Als sich die automatische Tür vor ihr öffnete und sie ins Freie trat, schlug ihr, eben noch in einem künstlichen tropischen Klima, die trockene Hitze ins Gesicht. Auch wenn die Mischung aus Wald und Flüssen das Schlimmste auffing. Der innere Platz, durch Sonnensegel geschützt, war nicht nur die Anlaufstation für die Solarbusse, er diente auch als Umschlagplatz für alle erdenklichen Güter. Vor ihren Augen wurden Container mit Lebensmitteln befüllt. Fassaden, Dächer und die helle Kleidung der Menschen waren mit feinstem Sand bedeckt. Einer der seltener gewordenen Sommerstürme hatte den Sand aus der iberischen Wüste bis nach New Paris getrieben. Keine andere Metropole war so nah an die sich ausbreitenden Wüsten gebaut worden. Was nur daran lag, dass sie als erste 2062 fertiggestellt worden war, bevor sich unerwartet die iberische Wüste näherte. Die Aufforstungen der letzten Jahrzehnte hatten zwar ihre Wirkung hinterlassen und eine Barriere gegen die bedrohliche Verödung geschaffen, nur gegen die Sandstürme aus dem Süden gab es keine Mittel. Biologen konnten diesem Phänomen teilweise etwas abgewinnen, weil dadurch auch Samen und Nährstoffe nach Europa getrieben wurden, die eine natürliche und weitaus hitzebeständigere Vegetation entstehen ließen. Eve ging weiter. Vor einem Solarbus spielten Kinder mit einem Stoffball. Geschickt hielten sie ihn mit Beinen und Ellbogen über dem Boden. Eine Reinste hatte sichtlich Spaß daran, die Jungen und Mädchen zu trainieren. Für einen Moment bewunderte Eve ihre mentalen Fähigkeiten. Sie waren die erste Generation, die bei bestimmten Wetterlagen wieder einige Zeit draußen spielen konnten. Gerade als sie Adlins hellen Lockenkopf zu erkennen glaubte, reckten die Menschen ihre Köpfe gen Himmel. Eve hielt schützend ihre Hand über die Augen und verfolgte fasziniert, wie Solarjets begleitet von Drohnen über sie hinwegflogen. Für die Bewohner der Metropolen waren die Hyperloopstationen der Dreh- und Angelpunkt für die Fortbewegung. Paradise zählte acht dieser Enklaven: Hope, das Zentrum der Akademie der Wissenschaft im nördlichen Montana Nordamerikas, Deep Water im Süden Grönlands, Asia One und Asia Two im Nordosten Russlands und dem alten Indien, New Johannesburg im Südwesten Afrikas, Nuevo Mundo in Südamerika, Save Ice in der Antarktis und New Paris in Europa. Sie alle waren mit den Hyperloops verbunden. In New Paris waren Fahrräder oder vollautomatische und klimatisierte Solarbusse die einzigen Fortbewegungsmöglichkeiten, mit denen Eve ihr Elternhaus am äußersten Zipfel von New Paris erreichen konnte. Das Fliegen war nur Mitgliedern der Akademie der Wissenschaft erlaubt und den Beschützern der Agenda. Ein weiterer Jet flog über ihre Köpfe hinweg.
Dann tauchten Adlin und ihr Partner Samir Abdel am Ausgang der Station auf. Samir, ein hochgewachsener Mann mit kurz geschorenen Haaren und einer auffälligen frischen Narbe auf der rechten Wange, winkte. Die Narbe in seinem Gesicht verlieh ihm eine harte Ausstrahlung. Samir kam aus New Johannesburg. Man sah es ihm an – die dunkle Farbe, die hohe Stirn oder seine gekräuselten Haare waren ein relativ seltener Anblick, da es nur wenige gab, die ursprünglich aus dieser dürren Gegend kamen. Adlin lief über das ganze Gesicht strahlend auf Eve zu, ihre blauen Augen stachen aus dem von der Feldarbeit gebräunten Gesicht hervor. Einen Kopf kleiner als Eve, schaute sie zu ihr auf.
»Hey, ist alles in Ordnung?«
Eve blickte wieder in den Himmel. Mit genauso einem Flieger war die Gruppe der Wissenschaftler, der ihr Vater angehört hatte, vor vielen Jahren in einen Sturm über dem Atlantik geraten und nicht mehr wiedergekehrt.
»Ja, ja, ich musste nur gerade an meinen Vater denken. Wenn sich Askit meiner nicht so früh angenommen hätte, um meine Gefühle zu regulieren, würde ich vermutlich keine Sekunde daran denken, irgendwann einmal in einen Solarjet zu steigen.«
Von der Seite registrierte Eve Adlins verschmitztes Lachen, während Samirs Blick in Richtung Station ging. Für den Moment war Eve froh, wieder hier zu sein. In New Paris hatte alles begonnen: ihr Leben, ihre Ausbildung und ihre Partnerschaft mit Thyron. Ein heller Solarbus mit einer großen schwarzen Kennzeichnung in Form von Buchstaben und Zahlen auf der Seite rauschte an ihnen vorbei und wirbelte den staubtrockenen Sand auf. Sie erreichten den Busbahnhof. Eve griff sich einen Apfel aus einem der Nahrungsverteiler, die für jeden in New Paris zur Verfügung standen. Sie hielt ihren Scanner an einen Sensor, und der Konsum wurde der täglichen Nahrungsration zugerechnet.
Adlin klopfte Eve auf die Schulter. »Was macht Thyron in Deep Water? Ich dachte, er wollte unbedingt den Abend mit uns verbringen.«
»Er wird wohl weiter am Konverter arbeiten. Askit hat mit ihm eine Lösung gefunden, die Rate der CO2-Umwandlung weiter zu erhöhen.«
»Ich wusste es. Für ihn sind die Prüfungen sicher keine Mühe mehr«, sagte Adlin.
»Ja, aber er hatte immerhin kurz eine mangelnde Zielorientierung«, erwiderte Eve lachend.
»Ausgerechnet Thyron, eine mangelnde Zielorientierung.«
»Er hat die Nacht vor dem Scan mal wieder durchgearbeitet.«
Eve sah, wie Adlin etwas aus ihrer linken Tasche herausholen wollte.
»Ich habe noch eine Überraschung für dich. Das …«
Bevor Adlin ausreden konnte, stupste Samir Eve und Adlin auf die Schultern.
»Hey, habt ihr sie schon mal in Natura gesehen?«
Eve drehte sich um, eine Truppe von Patriots verließ eine Produktionshalle und donnerte im Gleichschritt zu einer Verladestation. Der ganze Boden vibrierte. Nur einmal als Kind hatte sie einen dieser über vier Meter hohen Allzweckroboter gesehen, jetzt marschierten gleich mehrere unmittelbar an ihr vorbei. Atemlos musterte Eve ihre monströsen Beine aus Stahl, die für sich mannshoch waren, der Korpus bestand zum größten Teil aus einem Energiespeicher, sie konnten sich durch ein- und ausfahrbare Solarzellen selbst aufladen, hatten doppelte Greifhände, geeignet für grobe wie auch für filigrane Arbeiten. Ihr Kopf wurde von den tellergroßen rötlich schimmernden Linsen dominiert, die nachts auch als Lichtquelle dienten und die ihre bedrohliche Ausstrahlung verstärkten. In den Städten bekam man sie nur sehr selten zu Gesicht. Seit der Fertigstellung der letzten Metropole Asia Two wurden sie nur noch zum Grenzschutz und für Arbeiten in den verstrahlten Zonen eingesetzt.
»Ich wusste gar nicht, dass die hier noch produziert werden. Sollte ihre Zahl nicht sinken?«, fragte Eve und schaute immer noch wie angewurzelt zu den Kolossen, die nun umgekippt und in spezielle Container verladen wurden.
Samir richtete seinen Blick auf Eve. »Ich weiß es nicht, aber Degradierte, die mit Gewalt nach Paradise zurückkehren wollen, gibt es nicht mehr. Ich glaube, die Agenda hat im vergangenen Jahr weltweit gerade mal etwas über …«
Askit erschien unerwartet auf Samirs Display.
»Die Zahl der Degradierten sinkt kontinuierlich, da der Algorithmus des Scans immer weiter verbessert wird. Die Arbeit von euch Reinsten trägt einen Teil dazu bei.«
»Danke Askit«, sagte Eve und legte ihren Arm um Adlins Schulter.
Erst jetzt bemerkte Eve, dass sich Adlins Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase vermehrt hatten. So unterschiedlich sie auch aussahen, umso ähnlicher waren sie sich in ihren Anlagen. An ihrem zwölften Geburtstag war Adlin vor achtzehn Jahren mit ihren Eltern aus der asiatischen Metropole Asia One des ehemaligen Russlands nach New Paris gekommen, nachdem ihr Vater nach New Paris als Ingenieur gesandt wurde. Askit brachte sie mit Eve nach einem Scan in einem Schulungscenter zusammen. Vielleicht wären sie auch bei einem zufälligen Aufeinandertreffen beste Freunde geworden, aber durch den Scan konnte Askit sie mit Aufgaben versehen, die eine viel tiefere Übereinstimmung ergaben. Ihre mathematischen und analytischen Fähigkeiten, die Lust, gemeinsam Lösungen zu finden, die bedingungslose Hingabe an die Gesetze Askits und ihre intellektuellen Leistungen hatten sie zu Seelenverwandten gemacht. Eve fühlte sich einfach wohl, wenn Adlin in ihrer Nähe war. Gemeinsam liefen sie weiter über den Platz, um einen der Solarbusse zu bekommen, der in ihre Wohneinheit fahren würde. Eve warf einen letzten Blick auf die gewaltigen Roboter.
»Hat einer von euch jemals gesehen, wie jemand degradiert wurde?«
Samir schüttelte wortlos den Kopf, Adlin schaute träumerisch und gedankenverloren zu Eve hinauf.
»Mein Vater hat mal erzählt, wie ein Angepasster aus seinem Distrikt von Patriots abgeholt wurde, weil er seinen Nachbarn angegriffen hatte. Wie kommst du jetzt auf die Frage?«
»Nur so. Ich habe nie über die Degradierungen nachgedacht. Sie sind für mich ein Mythos wie diese Roboter«, sagte Eve.
»Damit bist du nicht allein. Askit und die Agenda kümmern sich darum. Ich habe nie verstanden, warum Menschen weiter mit all den negativen Gefühlen, Ängsten, Aggressionen und Schwächen leben wollten, anstatt ihr wahres Potenzial zu entdecken.«
Kaum hatte Adlin ihren Satz beendet, spürte Eve wieder diesen Schwindel. Nachwirkungen des Hyperloops? Samir stupste sie an.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, es geht schon wieder. Ich …«
Samir nahm ihre linke Hand.
»Was ist?«
»Nichts, ich dachte nur kurz, dein Scanner wäre offline.«
»Das hätte ich wohl gemerkt.«
»Hättest du das, ja?«
Samir machte eine komische Handbewegung vor seinem Mund, die Eve nicht deuten konnte. »Alles in Ordnung, Eve. Volles Potenzial! Ich habe noch etwas zu erledigen.«
Eve schaute mit hochgezogenen Augenbrauen zu Adlin. Sie schien sich an Samirs Bemerkung nicht zu stören.
Adlin und Eve setzten sich in den Bus. Eve blickte Samir nach, wie er zurück zur Kuppel ging. Er war erst vor einem Jahr nach New Paris gekommen, nachdem er Adlin bei einer Expedition in Südafrika unter Einsatz seines Lebens vor einem Sturz in die Tiefe bewahrt hatte. Bevor ein Patriot Adlin hochziehen konnte, hatte sich Samir schon das nicht zu übersehende Andenken an seiner Wange an einem Felsvorsprung eingefangen. Sie verstanden sich nicht nur auf Anhieb, ihre Persönlichkeitsfaktoren und ihre genetische Reinheit hatten ein so hohes Potenzial, dass Askit vor einer Woche die Umsiedlung Samirs nach New Paris genehmigt hatte.
Die anderen Passagiere unterhielten sich leise, schauten sich ihre kommenden Arbeitspläne oder die neuesten Meldungen auf den Holoschirmen an. Schweigend fuhren sie eine Viertelstunde an den symmetrisch errichteten Gebäuden vorbei. Als sie das Zentrum von New Paris hinter sich ließen, erreichten sie die Wohn- und Landwirtschaftsgebiete. Links und rechts waren die Felder mit einem Fließ überzogen, das gute drei Meter über dem Boden einen Teil des Sonnenlichts durchließ und den größeren reflektierte. Die Wasserversorgung wurde durch Leitungen aus den Entsalzungsanlagen des Atlantiks gewährleistet. Schon zweimal mussten sie näher an Paradise auf höheres Gebiet versetzt werden, nachdem der Meeresspiegel weiter gestiegen war. Weit hinter den Feldern waren über Quadratkilometer Gewächshäuser angelegt. Nur vereinzelt waren Arbeiter in ihren alten Thermoanzügen zu sehen. Es war eine Tortur, tagsüber unter den Sonnensegeln zu arbeiten, um die genetisch modifizierten Pflanzen, die der Hitze standhalten konnten, zu pflegen und zu ernten. Die Arbeit für die Nahrungsmittelversorgung, den Bau von Häusern, die Pflege der Vegetation, der Wälder, war ein Bestandteil des Alltags. Studium, Forschung, Verwaltung, egal, welche Haupttätigkeit man hatte, jeder war zu diesen Arbeiten verpflichtet. Es sorgte nicht nur für einen gegenseitigen Respekt, es verhinderte soziale Spannungen und hatte alte Hierarchien aufgelöst.
Einige Minuten später schaute Eve immer noch schweigend aus dem Fenster und spürte eine tiefe Demut angesichts dessen, was ihre Vorfahren aufgebaut hatten. Askit hatte die neuen Metropolen kurz nach Gründung der Agenda entworfen. Während die ersten Generationen noch unter den Folgen des Krieges und der Seuchen litten und rund um die Uhr arbeiten mussten, um eine Basis für das Überleben und die Zukunft der nächsten Generationen zu sichern, war die tägliche Pflichtarbeitszeit seit langer Zeit flexibler geworden. Es wurde von Askit genau berechnet, wie viel menschliche Arbeitskraft und Ressourcen notwendig waren, um alle gleichermaßen mit Nahrung, Medizin, Wohnraum, Kleidung, ausgewählten technischen Gütern wie Computern oder Thermoanzügen und größeren Maschinen zu versorgen. Anspruch auf individuellen Besitz gab es nicht. Alles wurde so nah und nachhaltig wie möglich produziert. Darüber hinaus stand jedem alles zu, was für die Ausbildung seiner Potenziale dienlich war. Niemand litt einen Mangel. Alle hatten den gleichen Zugriff auf alles, vorausgesetzt, er trug als produktives Mitglied den gleichen Teil für die Gemeinschaft bei wie alle anderen. Wenn die Nanobots in der Blutbahn eines Menschen meldeten, dass die Leistungsfähigkeit aufgrund körperlicher Alterung nachließ, wurde die Arbeitszeit automatisch angepasst. Die Anzahl der Menschen, die sich als egoistisch, faul oder gar gierig erwiesen oder zu krank waren, war 2191 nahezu auf einem Nullpunkt angekommen. Wie Eve verbrachten die Menschen viel Zeit mit Sport, Meditation, geistigem Training, lernten für ihre Weiterentwicklung oder die Wissenschaft und verbrachten den Abend mit der Familie und Freunden oder leisteten zu später Stunde bei erträglichen Temperaturen ihre Feldarbeit. Vielleicht waren die Menschen nicht intelligenter als früher, aber die wohlerzogenen hatten nun die Zeit und die Hilfe, ihr Gehirn vollumfänglich zu nutzen, hatte ihr Vater einmal gesagt. Dass niemand das System in Paradise infrage stellte, war auch der Tatsache geschuldet, dass es keine Menschen waren, die ihnen Befehle erteilten oder die die Angst schürten, abermals in Verhältnissen zu leben, in denen wenige von den vielen profitieren würden. Askit hingegen erschien unbestechlich und vertrauenswürdig.
Der Wald um die Wohnhäuser war in diesem Sommer dicht gewachsen und die in immer gleichen Abständen gebauten eingeschossigen weißen Landhäuser trugen einen kleinen Beitrag dazu bei, das Sonnenlicht zu reflektieren.
»Wie lange hast du Tessa nicht mehr gesehen?«, fragte Adlin.
»Das ist Wochen her, und es geht ihr nicht gut, ich muss einen Platz für sie finden, bevor ich nach Deep Water gehe.«
Eve sah in Adlins Gesicht. Sie hatte sie noch nie so glücklich gesehen. Seit Askit ihr Samir an die Seite gestellt hatte, war die lange Suche nach einem kompatiblen Partner auch für sie endlich beendet.
»Was glaubst du, was uns bei den letzten Prüfungen erwartet?«
Eve rieb sich die Stirn. »Es wären keine, wenn wir das wüssten!«
»Du hast recht.«
Eve konnte das Haus ihrer Mutter bereits erkennen und signalisierte, den Bus zu stoppen. Adlins Elternhaus war nur ein paar Minuten weiter entfernt. Sie stiegen aus und umarmten sich.
»Halt. Das hätte ich fast vergessen.« Langsam zog Adlin einen Umschlag heraus und überreichte ihn Eve.
Das Siegel der Akademie der Wissenschaft strahlte ihr entgegen, und sie spürte, wie ihr Puls schneller schlug. Vorsichtig öffnete sie den Brief. Sie hatte als Kind bei einem Nachbarn geholfen, der einer Nostalgie für Papier verfallen war. Heute hatte man kaum noch Verwendung dafür, da alles Geschriebene und Gedachte im Feld gespeichert und wieder abgerufen werden konnte.
»Ich wusste es«, sagte Eve und umarmte Adlin.
»Was ist es?«
»Du weißt es nicht?«
»Ich kann es mir denken«, sagte Adlin freudestrahlend.
»Ich fasse es nicht. Im Nordpolarmeer sammeln sich ungewöhnlich viele Buckelwale zu Gruppen. Ich soll als Anwärterin der Akademie der Wissenschaft eine Expedition begleiten«, sagte Eve und war für einen Moment irritiert. Warum hatte Askit ihr das nicht einfach mitgeteilt?
»Von wem hast du das bekommen?«
»Sag ich nicht«, erwiderte Adlin. »Nun darfst du fliegen, und deine wissenschaftliche Prüfung ist wohl längst bestanden!«
»Aha, daher dein Schmunzeln vorhin. Ja, schon morgen! Ich darf zu Thyron und anschließend zu den Walgründen fliegen. Ich muss das erst mal verarbeiten. Volles Potenzial, Adlin!«
»Volles Potenzial, du Glückskind«, sagte Adlin und verabschiedete sich mit einem breiten Grinsen.
Von weitem sah Eve ihre Mutter Tessa im Garten unter einem Wirrwarr von Sonnensegeln arbeiten. Sie öffnete die Tür zum Vorgarten, die Treibhäuser reichten bis zum Eingang ins Haus. Die Obstbäume hingen voller Früchte. Vor dem Haus standen die Kisten für Solartransporter bereit. Die Gartentür schloss sich mit einem lauten Knacken.
Tessa stützte ihren unteren Rücken mit der linken Hand ab, drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht um und setzte sich auf die Holzbank vor dem schattigen Hauseingang.
»Tessa, ich sehe es doch. Es wird Zeit, dass du dich operieren lässt, das ist doch keine große Sache!«
Tessa Legrand klopfte sich von ihrer hellbeigen Kleidung die Erde ab, ihre ergrauten Haare schwang sie nach hinten und richtete sich wieder auf.
»Ich bin sprachlos, dass ihr alle zusammen zu den Prüfungen zugelassen seid.«
»Das habe ich nur Askit zu verdanken! Wann soll ich den Termin im Medilab für dich machen?«
Tessa hatte die gleichen smaragdgrünen Augen. Wenn sie dieses leicht runzelige Gesicht betrachtete, hatte Eve immer eine Ahnung, wie sie einmal im Alter aussehen würde, und es gefiel ihr.
»Kind, hör auf. Ich mache das schon. Noch geht es ja, und ich habe zu tun. Ich werde …«
»Tessa, ich werde nie verstehen, warum du jegliche Hilfe ausschlägst. Du hast alle Anlagen für eine Reinste.«
»Gehabt wolltest du sagen. Ich bin eine alte Schachtel.«
»Dein altes Selbstwertproblem, gut, dass du das nie zum Schaden anderer ausgelebt hast, aber …«
»Ich wollte mir etwas bewahren, Eve, und mehr möchte ich dazu auch nicht mehr sagen, das weißt du, und daran ändert sich auch nichts mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, ständig eine Maschine in mein Innerstes zu lassen.«
Eve lachte kurz auf: »Wie oft soll ich das noch erklären? Das ist Askit nur während eines Tiefenscan möglich, bei dem das Implantat direkt über eine Schnittstelle mit Askit verbunden wird. Als du dich damals in der Verwaltung beworben hast, musstest du Hunderte Fragen beantworten, erinnerst du dich?«
»Ja, es war fürchterlich!«
»Das war nur ein oberflächlicher Persönlichkeitstest, dem Scan nicht unähnlich. Dabei wertet Askit beispielsweise deine Gewissenhaftigkeit aus. Aber der Tiefenscan deckt alles auf, vor allem das Unterbewusste, alle Ebenen, die unsere Psyche ausmachen. Tessa, bitte! Wir können uns keine Menschen in verantwortlichen Positionen leisten, die sich ihrer innersten Motive nicht bewusst sind, daran kann ich nichts Beängstigendes finden. Tessa, Askit gegenüber Schamgefühle zu haben, ist unsinnig. Das ist nur deine ewige Angst, dass es sich gegen uns wenden könnte.
Tessa schaute Eve an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Ich weiß, wie der Scan funktioniert, keine noch so geniale Maschine kann die Motive eines Kindes besser beurteilen als die eigene Mutter, und wie ich sehe, geht es dir gut. Du hast eine Ausstrahlung, unglaublich. Wie viele Männer mussten wegen dir schon zu einem Scan?«
Eve konnte ihr Lachen nicht unterdrücken, umarmte ihre Mutter und sah sie an. Ihre Augen funkelten, sie war wirklich glücklich in dem Garten, umgeben von Kräutern und Pflanzen. Die heiße Luft roch nach Gras, Minze, Thymian, Äpfeln und anderen Obstsorten. In diesem Jahr schafften es auch die ersten genetisch modifizierten Gemüsesorten, im Freien der brütenden Sonne zu widerstehen. Die Ozonschicht hatte sich so weit erholt, dass die Menschen ohne Schutzanzug bis zu vier Stunden und länger draußen bleiben konnten. In Tessas Jugend wäre ein solcher Garten undenkbar gewesen.
»Wie ich sehe, hat Adlin dir die gute Nachricht überbracht.«
»Du hattest die Idee mit dem Briefpapier?«
»Ich habe Askit darum gebeten. Ich weiß, wie sehr du darauf gewartet hast, endlich deine geliebten Forschungsobjekte in ihrem natürlichen Element zu erleben.«
»Wenn sich das Verhalten der Wale wirklich so verändert hat, wäre das der Beweis, dass meine waghalsige Theorie stimmt, ja, aber merkwürdig, dass Askit mich nicht direkt benachrichtigt hat, als hätte es mich überraschen wollen«, wunderte sich Eve.
»Tja, menschlich, nicht wahr?«, sagte Tessa leise grinsend. »Du hast deinen Ersatzscanner im Haus liegen gelassen und warst im Hyperloop nicht erreichbar. Ich habe die Nachricht gesehen und wollte dir eine Freude bereiten, und Askit hat es zugelassen.«
»Trotzdem merkwürdig. Ich werde morgen nach Deep Water reisen, und von dort geht es los, und dann sehe ich endlich Thyron wieder. Ich kümmere mich jetzt um einen Termin für dich, in Ordnung?«
Tessa verneinte, schloss die Augen und drückte Eve fest an sich. Wortlos gingen sie ins Haus. Obwohl Tessa sehr ordentlich war, standen in der Erntezeit überall Kisten mit Obst herum. Die Töpfe auf dem riesigen Holztisch waren gefüllt mit Früchten zum Einkochen. Je nach Anzahl der Familienmitglieder waren in den Häusern die Schlafräume und ein Waschraum um den Wohn- und Essraum angelegt. Selbst nach Jahren rochen die Wände angenehm nach dem Lehm, der für das erträgliche Raumklima sorgte. Neben dem Bad war Eves altes Schlafzimmer. Nur in der Küche stach der Holoschirm unter der Decke neben den einfachen Holzmöbeln und Küchengeräten hervor. Eve sah, dass sich Tessa nach den paar Schritten erneut ihre Hüfte hielt. Vorsichtig setzte sie sich auf einen Stuhl.
Ihre Mutter war und blieb einfach eine Angepasste. Angepasste ohne Implantat hatten keinerlei Nachteile, mussten über ihren Pflichtdienst hinaus nicht mehr leisten als alle anderen, hatten Zugriff auf alle Errungenschaften von Paradise, solange sie nicht ein gestörtes oder der Gemeinschaft schädliches Verhalten erkennen ließen. Das tat Tessa nicht ein einziges Mal. Im Gegenteil, sie genoss das gleiche Ansehen, die gleiche Wertigkeit wie die Reinsten. Sie führte ein stilles und zurückgezogenes Leben. Askit hatte ihr immer wieder nach dem Verschwinden ihres Ehemanns angeboten, sie von ihrer Trauer und Einsamkeit zu befreien, aber Tessa weigerte sich und kümmerte sich freiwillig rund um die Uhr um ihre Nahrungsmittelproduktion und die zurückgebliebenen Kinder von degradierten Reinsten, die wegen Fehlverhaltens binnen Stunden ihre Heimatmetropole verlassen mussten.
»Was ist mit der Kleinen, die du zuletzt noch betreut hast?«
Eve überkam unwillkürlich ein Glücksgefühl. Von draußen glitzerte das Sonnenlicht durch einen Baum. Es war ruhig, nur ein paar Vögel zwitscherten. Es war wunderschön an diesem Ort, aber das alles war nicht von Dauer, irgendwann würde auch Tessa nicht mehr leben und eine neue Familie würde hier einziehen.
»Ich mache das nicht mehr. Ich hab lange genug erlebt, wie die Kinder vor lauter Angst vor dem Implantat nachts die Kissen vollheulen.«
»Das ist nicht in Ordnung, Tessa. Du weißt, welche Chancen als potenzielle Reinste auf sie warten. Was ist mit der Kleinen?«
»Nichts! Ich bin zu alt, sie wurde einer Familie in der Metropole zugeteilt, und das Implantat hat sie verweigert.«
Das Zeitfenster für die Operation eines Hirnimplantates war begrenzt. Zwar entwickelte sich das Gehirn noch bis zum fünfundzwanzigsten oder achtundzwanzigsten Lebensjahr, nur je früher sich das Implantat an das Wachstum anpassen konnte, desto besser, das wusste Eve aus eigener Erfahrung.
»Ich verstehe deinen Widerstand nicht, Tessa. Niemand hat die Verbindung zu Askit so früh bekommen wie ich – und schau, was aus mir geworden ist, ich bin nun eine Anwärterin für die Akademie und habe einen Score von dreihundertneunzig. Ich kann mich noch genau erinnern, wie du mir diese Schauermärchen erzählt hast, was alles mit meinem Gehirn passieren könnte!«
»Die haben doch gut funktioniert!«
»Was?«
»Du erinnerst dich nur nicht mehr daran, ich war nicht so egoistisch, wie du annimmst. Ich wollte dir nicht deine Zukunft verbauen, und so habe ich dir erst Angst eingejagt, und dann wurdest du richtig neugierig. Dein Vater hätte es vermutlich nie zugelassen. Ich mach mir deswegen keine Vorwürfe, aber du solltest das zumindest wissen.«
Eve konnte sich wirklich nicht daran erinnern. Es gab keinen Grund, Tessa nicht zu glauben. Eve wurde erneut schwindelig. Für einen Moment sackte ihr Kopf nach hinten.
»Was ist, Eve?«
»Ich weiß es nicht. Mir ist seit einigen Tagen schwindelig. Ich sollte meine Nanobots besser erneuern, wer weiß, was mir sonst beim Fliegen passiert. Am Ende falle ich noch in Ohnmacht, wenn Thyron mich in die Arme nimmt.«
Eve kontrollierte die Daten auf ihrem Scanner. »Ich fahr ins Medilab. Wart nicht mit dem Abendessen auf mich, ich versorg mich dann dort!«
»Du liebst Thyron sehr, nicht wahr?«
Eve kniete sich vor Tessa, legte ihr versöhnlich die Arme auf die Schultern. »Wie kommst du denn jetzt darauf? Wir sind Partner, und es hat sich alles gut entwickelt!«
»Ich freue mich für dich. Wenn es mal ein Problem gibt, halte dich auch an Samir und Adlin.«
»Wir vier sind unzertrennlich.«
Als Eve sich umdrehte und gehen wollte, griff Tessa unwirsch nach ihrer Hand.
»Hör einfach auf mich!«