Читать книгу Die Reinsten - Thore D. Hansen - Страница 12

6 18. SEPTEMBER,
METROPOLE DEEP WATER, GRÖNLAND

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Vom Norden erreichte ein Sturm die Metropole. Kein Jet durfte mehr starten, kein Mensch die Stadt verlassen. Der Orkan heulte um die Fassaden, unzählige Blitze entluden sich in immer kürzeren Abständen. Eve war noch mit ihren Emotionen beschäftigt und verband sich mit Askit, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Der Regen ergoss sich wie eine Flut über die Kuppel.

»Askit, warum wusste ich nichts von dem anderen Scanner, den man unter Wasser braucht?«

Askits dreidimensionales Holobild erschien auf ihrem Scanner.

»Ich habe es dir am 28. August um 17.54 Uhr übertragen, Eve.«

»Wieso hab ich das nicht mehr gewusst?«

»Deine perfekte Selbstregulierung bewahrt auch dich nicht vor einer menschlichen Schwäche.«

»Wie meinst du das?«

»Du hast es vergessen.«

Eve konnte sich beim besten Willen nicht erklären, dass ihr etwas so Wichtiges entgangen sein könnte. Obwohl sie es besser wusste, hatte sie kurz das Gefühl, dass sich Askit gerade über sie lustig machte.

»Du hast einen erhöhten Cortisolspiegel. Ich schlage vor, du ruhst dich aus. Ich stelle dir ein paar Übungen zur Verfügung. Du hast nur eine intensive Erstreaktion erlebt.«

Eve schüttelte den Kopf, aber wenn Askit sonst nichts entdeckt hatte, würde es wohl stimmen.

»Dein Score wird davon nicht beeinträchtigt. Das Gefühl von Freude und Demut hat in dieser Form keinen Einfluss auf die bevorstehenden Prüfungen.«

»Es war mehr als Freude, es war …«

»Einmalig, Eve. Danke!«

»Danke, Askit!«

Leicht verspannt, reckte sie ihren Rücken und atmete tief ein. Es war bereits dunkel geworden. Sie lief die hell erleuchtete Gangway entlang. Über ihr tobte der Sturm, die Böen schlugen wie Wellen auf die Metropole ein. Einen Moment fürchtete Eve, dass sich der Boden bewegte. Sie erreichte den Eingang, der sie direkt zu dem riesigen dunklen Gebäude führte, nur durch die Blitze konnte sie kurz ermessen, wie hoch der Konverter war. Am Ende des Turmes brannte Licht durch kleine Fenster. Sie ging durch eine massive Stahltür, die laut hinter ihr einschnappte, sofort wurde der tosende Sturm durch ein brummendes Geräusch ersetzt, das an einen Bienenschwarm erinnerte. Der CO2-Konverter war noch riesiger, als sie es vom Solarflieger aus wahrgenommen hatte. Am Ende des Eingangsbereichs öffnete sich der Fahrstuhl. Thyron winkte ihr zu. Sie standen sich wortlos gegenüber, dann umarmte er sie. Eve legte ihren Kopf an seinen Hals. Der vertraute Geruch seiner Haut hatte etwas Beruhigendes und Aufregendes zugleich. Doch da war noch etwas anderes, etwas, was ihr ein komisches Gefühl bereitete. Schon bei ihrer letzten Begegnung hatte sich ein Gefühl eingeschlichen, für das sie keine Worte fand.

»Wie war es?«

»Ich glaube, ich habe mich in jemand anderes verliebt.«

»Wiegt es dreißig Tonnen und hat die Augen eines Elefanten? Komm, lass uns ins Quartier gehen. Für heute habe ich hier alles erledigt.«

Für einen Moment hielt Eve ihren Mann mit beiden Händen fest und schaute ihn an. Sie hatten sich Wochen nicht gesehen. Seine tief liegenden grauen Augen wirkten müde, sanfter und sicherer als zuletzt, dazu eine Mischung aus Kraft und Willensstärke.

Askit hatte einmal erwähnt, dass schon nach wenigen Scans der Algorithmus ermittelt hatte, dass ihre genetischen Anlagen, ihre Interessen und Persönlichkeitsfaktoren eine so hohe Übereinstimmung zeigten, dass sie zeit ihres Lebens eine produktive und erfüllende Partnerschaft haben würden.

Sie wuchsen beide in der gleichen Siedlung auf, Tessa und Patrick waren mit Thyrons Eltern gut befreundet, absolvierten gemeinsam im Zentrum von New Paris ihren Pflichtdienst und wurden von Askit in die Akademie der Wissenschaften berufen. Dabei fing alles ganz anders an. Zunächst hatte sie Thyron nicht ausstehen können, da er ungestüm und emotional war. Sie hatte zwei Jahre vor ihm ihr Implantat bekommen und war Thyron lange Zeit voraus. Heute war das nur noch eine Randnotiz, die sie manchmal nutzte, um Thyron aufzuziehen. Ihre gemeinsame Zukunft würde nun den nächsten Schritt erleben. Langsam verstand sie, warum sie in den letzten Tagen so viel an die Vergangenheit dachte. Vieles würde sich jetzt verändern. Mit der Zulassung für die Prüfung am 21. September konnten sie endlich vollwertige Mitglieder der Akademie werden, und sie waren beide euphorisch, wie es danach weitergehen würde.

»Du siehst angespannt aus, ist alles Ordnung?«

Eve zögerte einen Moment, ob sie von ihren Gefühlen erzählen sollte. Im Moment nahmen alle Reinsten vor den Prüfungen Rücksicht auf die anderen und konfrontierten sie nicht mit persönlichen Prozessen, dafür war Askit da. Aber sie konnte dem Erlebnis dieser unkontrollierten Emotionen bei der Begegnung mit den Walen etwas abgewinnen. Es machte deutlich, warum Menschen wie Tessa sich einem unsinnigen Leiden hingaben, das sie enorme mentale Kraft kosten musste. Aber wie sollte man der Welt dienen können, wenn man ständig mit sich selbst beschäftigt war?

»Ich war im Meer, ich … Ich habe eine Walkuh gestreichelt. Das war beeindruckend, da darf ich schon angespannt aussehen.«

Er lächelte nachsichtig und griff nach ihrer Hand.

Thyron öffnete die Tür. Der Raum war von Grüntönen durchflutet und bot nur Platz für einen Schrank, einen Schreibtisch und einen allerdings großzügigen Schlafplatz. Thyron lotste Eve zum Bett, wo sie ihre Anzüge abstreiften. Durch die Glasfassade hatte man einen Blick in den Himmel. Aurora Borealis, das Nordlicht. Eve hatte es Dutzende Male über das Interface visualisiert, aber dieses kosmische Farbspiel war hier besonders farbenfroh und wechselte ständig von grün auf rot, blau, weiß und violett. Die Reinsten hatten wenig Raum und Zeit für ihre intime Beziehung und körperliche Liebe, für einen Moment konnte sich Eve der Romantik des Augenblicks kaum entziehen, aber die Erlebnisse im Meer ließen sie nicht los. Sie legten sich beide auf das Bett.

»Gehen wir offline?«, fragte Thyron.

»Schon geschehen!«

Eve legte sich zur Seite und blickte in das bunte Spektakel. Thyron schmiegte seinen drahtigen Körper an sie und legte seinen Arm um ihren Bauch.

»Was unterscheidet unser Bewusstsein von Askits?«

»Das fragst du dich jetzt?«

Warum nicht, dachte Eve. »Ich habe heute im Meer vergessen, den Scanner für den Tauchgang mitzunehmen. Als ich eine Walkuh streichelte und in die Augen des Kalbes schaute, war das überwältigend. Ich weiß nicht, aber ich habe mich noch nie so gefühlt und stellte mir die Frage, ob Askit …«

Thyron stöhnte leise. »Du fragst dich, ob Askit intensive Gefühle nachvollziehen kann. Deine Frage hat schon die Gründer beschäftigt. Eigentlich war das immer die entscheidende Frage. Was hat Askit, was haben Maschinen und was nicht. Nur wir wissen, was in uns vorgeht, das konnte lange niemand von außen messen. Deswegen wurden die Implantate und der Scan entwickelt. Nicht auszudenken, was es bedeuten würde, wenn unsere archaischen Emotionen und nicht unser Verstand uns beherrschen würden. Was, wie du weißt, uns fast …«

»… vernichtet hätte, aber woher wissen wir, was in Askit vorgeht?«

»Hast du das Askit nie gefragt?«

Eve drehte sich um und küsste Thyron auf die Stirn. »Ich frag aber dich, mein kleines Genie.«

»Kannst du dich erinnern, wie Askit reagiert hat, als dein Vater verschwand? Hat es dich getröstet oder hat es dich beruhigt und aufgeklärt, wie du damit umgehen sollst.«

»Letzteres.«

»Na, bitte. Entscheidend ist dein neuronales Korrelat, das ist charakteristisch wie dein Fingerabdruck. Bei jemand anderem, in einer anderen Situation, anderen kognitiven und emotionalen Anlagen, einem anderen Ergebnis des Scans, hätte Askit eine andere Wahl für dich getroffen. Es reagiert auf deine Anlagen. Das Bewusstsein ist ein komplexes Spektrum und kein einziger Zustand. Dieses Spektrum entscheidet darüber, wie du sprichst, wie du Zeichen, Botschaften und Ereignisse deutest, verstehst und sendest, einfach alles. Für unsere Zukunft und Effektivität geht es darum, was in uns vorgeht und nicht umgekehrt. Askit arbeitet streng Algorithmen ab, und die entscheiden, ob du in der Lage bist, dich über alle Emotionen hinweg selbst zu steuern, ob du eine Reinste bist.« Thyron lag regungslos, nicht einmal seine Augenlider bewegten sich.

Eve betrachtete ihn liebevoll. »Wo werden wir in einer Woche sein?«

»Du meinst, ob Askit uns für unseren Dienst trennen wird. Nein, du und Adlin seid unzertrennlich. Nur bei Samir bin ich mir nicht sicher. Unsere Fachgebiete sind in Deep Water vertreten, aber Physiker wie Samir, na ja, er hat gelernt, es hinzunehmen.«

Eve blickte wieder in die Polarlichter, die sich wie Wellen im Ozean bewegten, Ruhe forderten. »Es wäre für Adlin, ach, was rede ich, es wäre für uns alle schön, wir werden sehen, vielleicht landen wir ja auch noch woanders.«

Thyron stand auf und ging zum Fenster. Er reckte sich. Das wechselnde Lichtspiel betonte seinen muskulösen Oberkörper.

»Machst du dir Gedanken wegen der Prüfungen?«

»Nein. Ich bin gut vorbereitet. Du etwa?«

»Ja. Aber eher über das, was danach kommt. Was ist unser Ziel?«

Er zog sich ein frisches Hemd über und stand für einen Moment wie angewurzelt vor dem Schrank.

»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich arbeite, ich bin rein, ich diene der Gemeinschaft, wir räumen den Planeten auf. Das erfüllt mich. Wie kommst du plötzlich auf diese Fragen so kurz vor der …«

»Ahhhh!« Eve griff sich ans Implantat an ihrem Hinterkopf.

»Was ist los? Eve? Eve?«, rief Thyron und lief zu ihr.

Ein Schmerz stach ihr ins Rückenmark, als hätte ihr jemand ein Stück Eis ins Gehirn gelegt, das jetzt langsam die Nervenkanäle entlanglief. Alles verschwamm um sie herum. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht sprechen, sah verschwommen, wie das schemenhafte Gesicht vor ihr seine Lippen bewegte. Als sie Hände auf ihrer Schulter spürte, liefen ihr Schauer den Nacken hinunter. Der Schmerz ließ nicht nach, ihr ganzer Körper, jede Zelle zog sich zusammen, schien zu schreien. Und dann umhüllte sie erlösende Dunkelheit.

Die Reinsten

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