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8 19. SEPTEMBER,
METROPOLE DEEP WATER, GRÖNLAND

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Thyron atmete gleichmäßig und lautlos. Eve konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich ausgezogen hatte und eingeschlafen war. Der Moment, als Thyron nach ihrem Anfall seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte und sie ihn nur noch als Fremdkörper empfand, wog schwer und hatte ihr Angst eingejagt. Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf, beugte sich zu Thyron und küsste ihn auf die Wange, als würde sie sich versichern wollen, dass sich seit gestern nichts verändert hatte.

Noch schlaftrunken, sah er sie an. »Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«

Eve zögerte mit einer Antwort, richtete sich auf und lächelte. Thyrons Augen waren noch vom Schlaf verquollen, das Muster des zerknüllten Kissens zierte seine Stirn.

»Ja!«

Thyron richtete sich auf, streichelte Eve über den nackten Rücken. »Adlin und Samir sind bestimmt schon im Zentrum. Sie wollten pünktlich um zehn Uhr dort sein. Ich zeige euch heute Deep Water und Grönland.«

Dass sie nun offline waren, hatte Eve beinahe vergessen. Es war kein Unterschied zu spüren. Sie musste unwillkürlich lachen. Sie stand auf, reckte ihren nackten Körper und beobachtete von der Seite, wie Thyron ihr nachschaute. Sie öffnete den Schrank und zog ein langes helles Baumwollkleid an. Thyron hatte sich Hose und Hemd in identischer Farbe angezogen und nahm ihre Hand. Durch die Tür konnte sie Rufe und Jubel wahrnehmen. Es schien aus dem Zentrum zu kommen. Eves Armhärchen stellten sich auf.

»Es ist so weit!«, sagte Thyron.

»Was?«

»Die ersten Reinsten werden auserkoren und ihren neuen Positionen zugeteilt!«

Bis alle Anwärter die Prüfungen absolviert hatten, würden vierzehn Tage bis drei Wochen vergehen. Eves Stimmung hellte sich auf, ließ sie die Ohnmacht von gestern vergessen. Jeder, der seine Prüfung bestanden hatte, wurde als Reinster bestätigt und erkoren, einer Wissenschaftsgilde zu dienen. Wenn alles seinen Weg gehen würde, wäre sie schon bald selbst so weit.

Menschenmassen hatten sich um das Whitestone-Monument versammelt. In jeder Metropole stand diese epochale Erinnerung an den Ab- und Aufstieg der Menschheitsgeschichte. Im Mittelpunkt der Kuppel unter dem Plateau, auf dem der Hyperloop einfuhr, war dieser Platz eine ständige Ehrung und Erinnerung an die Gründer und die Pioniere, die ihre neue Welt erbaut hatten. Als sie die Treppe hinunter ins Zentrum gingen, staunte Eve, es waren Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen, die sich zu Beginn der Prüfungen versammelt hatten. Es gab nur dieses eine große Ereignis im Jahr, an dem kaum jemand arbeiten musste und alle sich auf die neusten Anwärter freuten, sie ehrten und sich den Tag in Dankbarkeit gegenüber Askit versammelten. Überall konnten die Menschen die Prüfungen verfolgen, sei es der finale Scan oder die wissenschaftlichen Tests, alles war transparent und ein Wettbewerb der Besten. Die meisten hatten ihre Thermoanzüge gegen helle weite Kleidung getauscht. Askit hatte sich auf einer Bühne vor einem dunklen Hintergrund manifestiert. Im Vergleich zu den herkömmlichen Hologrammen war Askit heute weitaus besser zu erkennen. Ein kahler wohlgeformter Kopf, klare Augen, die Haut und jede Gestik waren kristallklar zu sehen, und den blauen Overall, hatte es gegen einen strahlend weißen getauscht, selbst die Stiefel waren weiß, was sie über alle Menschen hinweg strahlen ließ. Der Beginn der Prüfungen war auch immer eine Würdigung des Erreichten, und so gab Askit mit einer etwas verstärkten Stimme die neusten Erfolgsmeldungen aus der Welt bekannt. Nachdem Askit mit einem langsamen Nicken eine Pause andeutete, stimmte die Menge einen Sprechchor an:

»Hingabe, Demut, Reinheit, volles Potenzial:

Gelobt sind Askit und die Agenda.

Hingabe, Demut, Reinheit, volles Potenzial:

Gelobt sind Askit und die Agenda.

Hingabe, Demut, Reinheit, volles Potenzial:

Gelobt sind Askit und die Agenda.«

Eve bekam eine Gänsehaut, ihr Nacken kribbelte. Mit einer für Eves Ohren zu metallisch klingenden Fanfare kündigte sich die nächste Botschaft Askits an.

»Heather Steinhauer, du bist erkoren, der Akademie der Wissenschaft in New Paris zu dienen. Luke Becker, du bist erkoren, der Akademie der Wissenschaft in Deep Water zu dienen …«

»Ich sehe sie. Komm, gehen wir!« Thyron lief vor und umarmte Adlin und Samir, die nur wenige Meter von ihnen entfernt an einem Treppengeländer lehnten und der Zeremonie lauschten.

Adlins Gesicht strahlte. Die Stimmung der Menschen, die Spannung und Freude war ansteckend. Die Reinsten saßen im Schneidersitz auf dem Boden, meditierten oder lagen sich in den Armen. Für viele hier war es der Beginn einer glorreichen Zukunft. Thyron stand kerzengerade, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte konzentriert auf den Bildschirm über dem Monument.

»Es ist das Verdienst der Vorfahren, der Reinsten und ihrer aufopfernden Arbeit, dass die Arktis, in dieser Nacht und in diesem Winter nach allen Daten, die vorliegen, eine Temperatur unter null Grad haben wird.«

Thyron stieß einen Freudenschrei aus, der so laut war, dass er selbst erschreckte und anfing zu lachen. Die Menge quittierte es mit einem tobenden Applaus, wenn eines in Paradise erlaubt war, dann die reine und uneigennützige Freude über Erfolge beim Wiederaufbau und Erhalt der Natur.

»Ich hab dich selten so glücklich gesehen«, sagte Eve und verbot sich, diesen Moment durch ihre Zweifel zu ruinieren. Alle wussten, dass dieser Effekt vielleicht nur von kurzer Dauer sein würde, ein Wetterphänomen, darüber stritten sich die Wissenschaftler seit Jahren.

»Eve, das ist der Augenblick, auf den so viele Menschen gewartet haben. Kommt, ich hab etwas vorbereitet.« Thyron zeigte in Richtung Ausgang.

Samir und Adlin gingen Hand in Hand vor. Eve wäre gerne noch geblieben, um die Stimmung, die die Gemeinschaft ausstrahlte, zu genießen. Die Euphorie, das Gefühl, vollkommen eingebunden zu sein. Die Gewissheit, dass ihre Zukunft durch Askit in sicheren Händen lag, ließ sie für den Augenblick diese schwer zu deutende Unsicherheit vergessen, von der sie seit dem Wiedersehen mit Thyron gequält wurde. Sie ging hinter ihm her und drehte sich immer wieder zur jubelnden Menge um. Sie erreichten eine Ausgabestation für Essen, Kleidung und andere Ausrüstungen. Auf einer Ablage standen vier Rucksäcke.

»Kommt, nehmt euch bitte einen«, forderte Thyron sie auf.

»Was ist drin?«, fragte Eve.

»Für jeden ein Schlafsack, Nahrung, und Samir und ich tragen die beiden Zelte. Wir dürfen über Nacht draußen bleiben«, sagte Thyron und zeigte auf eine Stahltreppe, die sie hinunterführen würde, um über eine der zentralen Straßen die Metropole verlassen zu können. Adlin und Samir nahmen ihre Ausrüstung auf. Adlin zwinkerte ihr zu. Langsam stiegen sie die Treppen hinunter. Eve sah sich staunend um. Links und rechts standen in Abständen von hundert Metern die dunklen CO2-Konverter. Das saugende Geräusch füllte alles aus. Ein Wind zog durch die Straßen, vereinzelt flogen vertrocknete Sträucher umher. Eve fühlte sich wie ein Winzling zwischen den riesigen Gebäuderingen. Wortlos gingen sie weiter. Das Ende der Metropole war erreicht, nun wanderten sie eine gute Stunde durch künstlich angelegte Wälder. Relativ abrupt folgte moosiger Boden. Weiter in der Ferne, selbst auf einigen Bergen, war nun nichts anderes als das weiße Vlies zu sehen, das Teile des Sonnenlichts in die Atmosphäre reflektierte. Die Luft wurde kühler. Eve rieb sich die Oberarme. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so gefroren zu haben, und stellte an ihrem Display die Heizung ihres Anzuges an. Eve genoss die Weite der Landschaft, stellte sich vor, wie es hier noch vor zwei Jahrhunderten ausgesehen haben mochte: eine einzige Eisfläche, Kälte, Eisbären und die Gefahr, schneeblind im Niemandsland zu erfrieren. Plötzlich knisterte der Boden unter ihren Tritten.

»Das war der letzte Brand. Wenn dieser Boden einmal brennt, ist es fast unmöglich, ihn zu löschen«, kommentierte Thyron und wies der Gruppe einen anderen Weg, der sie zu einer Bucht mit Blick auf das Meer führte.

Samir und Adlin begannen damit, ihr Zelt aufzubauen. Samir verzog die Lippen, schaute zu Eve, und als ob er sich ertappt fühlte, setzte er ein Lächeln auf, das für Eve unecht aussah. Er wirkte auf Eve ganz anders als der strahlende Partner von Adlin, der gestern noch voller Lebensfreude auf sie zugekommen war.

»Wo endet die Fläche mit den Reflektorstoffen?«, fragte Samir.

Thyron wies mit der Hand Richtung Norden. »Etwa tausend Kilometer von hier, und es werden täglich mehr.«

Samir setzte sich. »Manchmal ist es schon erstaunlich, wie wenige Menschen das alles möglich machen.«

Eve wusste nur, dass bald die gesamte Fläche Grönlands mit dem Spezialstoff überzogen wurde.

Thyron grub unterdessen mit einer Schaufel ein Loch in den Torf und sagte zu Samir: »Unsere Vorfahren haben keine hundertfünfzig Jahre gebraucht, diese Welt zu zerstören. Dafür haben wir im selben Zeitraum einiges wieder gutgemacht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.«

Als Nächstes öffnete Thyron einen Sack und stellte einen Klotz aus Metall und kleinen Lüftungsschächten in das Loch.

»Was ist das?«, fragte Eve interessiert.

»Wonach sieht es denn aus?!«

»Eve, du glaubst doch nicht, dass Thyron gegen das Ressourcengesetz verstößt und ein romantisches Lagerfeuer mit Holz anzündet?«

Er reagierte nicht auf Samirs Bemerkung. Alle setzten sich unverzüglich um das Heizaggregat. Die Sonne war im Meer versunken.

»Was denkt ihr, welche Aufgaben sich Askit für uns ausgedacht hat – wilde Tiere, die uns auflauern, psychische Defekte, die uns doch noch zu Degradierten machen, oder …«

»Samir, was wird das?«, fragte Thyron.

»Ach, komm schon. Hast du keinen Humor?«

Eve beobachtete Samirs Gesicht. Er schaute belustigt auf Thyron und tastete mit seiner rechten Hand den trockenen Boden ab.

»Es ergibt für mich keinen Sinn, über solche Dinge nachzudenken. Wir haben alle Aufgaben und Prüfungen bewältigt. Ich meine, es ist ausgeschlossen, dass auch nur einer von uns noch in rudimentäre Muster verfällt, nur weil wir eine Zeit nicht mit Askit verbunden sind. Zumindest kann ich das für Eve und mich behaupten«, sagte Thyron.

Samir schwieg kurz und richtete seinen Blick zum Horizont, der Himmel wurde immer dunkler. Thyron verteilte Decken, stellte eine Lampe neben sich und setzte sich wieder neben Eve.

»Thyron Hawk. Ich glaube, du wusstest schon vor deiner Verbindung, wann du die ersten Scans absolvieren würdest, welche Wissenschaftsdisziplin Askit für dich zulassen würde, und dass Eve kompatibel sein wird. Wann genehmigt Askit euer Kind und wann schickt Askit dich und Eve in die Agenda?«

Eve hatte Schwierigkeiten, Samirs Humor zu verstehen. Es war nicht ganz abwegig, dass Thyron sein Leben mit Askit durchgeplant hatte, auch ihr gemeinsames, nur so klang es wie das Ergebnis einer mathematischen Gleichung.

Thyron mied es, Eve anzuschauen.

»Oh, nein. Ich wusste in Wirklichkeit nicht einmal, ob ich nicht besser wie meine Eltern, als Angepasster leben sollte.«

»Und was hat deine Meinung verändert? Komm schon, wir sind alle offline«, provozierte Samir weiter und hob seinen Scanner.

Eve spürte, wie sich Thyrons Arm nun fest um ihre Schultern legte. Insgeheim hoffte sie, dass er die Geschichte für sich behalten würde.

»Eve hat mir ziemlich schnell klargemacht, dass ich nur als Reinster die Chance habe, wissenschaftlich zu arbeiten. Ich weiß, es klingt komisch, wir waren gerade mal sechs und acht Jahre alt und ich war ein … Wie hast du immer gesagt?«

»Ein unausstehlicher Rüpel«, sagte Eve mit hochgezogenen Stirnfalten und einem provokanten Lächeln, das sich zu einem Kichern steigerte, als sie Adlin anschaute.

»Genau! Ich weiß nicht, auch wenn Askit uns zusammengeführt hat, glaube ich, dass unsere gemeinsame Geschichte ein seltener Zufall ist. Nachdem ich das erste Mal mit Askit verbunden war und in diese beruhigende Welt abtauchen konnte in der Gewissheit, dass ich mit dem Training meine Angst, Wut, Trauer und allen Schmerz hinter mir lassen würde, habe ich erst mich selbst, meine Ideen, mein Potenzial, einfach alles entdecken können. Und nun sitzen wir hier, und ja, ich hatte immer eine klare Vorstellung, welchen Platz ich hier einnehmen möchte. Versuch mich nur weiter zu provozieren, Samir, aber gleich bist du dran«, schmunzelte Thyron, öffnete eine Standardversorgungsbox und griff sich getrocknetes Obst.

»Na ja, Askit scheint euch beide jedenfalls besonders lieb zu haben.«

Eve war sich langsam nicht mehr sicher, ob Samir nur zur Erheiterung aller stichelte oder ein Ziel verfolgte. »Samir, solltest du in Sachen Liebe und Anerkennung noch Defizite haben, Askit hat da einen ganz besonderen Tiefenscan.«

Samir setzte nun wieder sein gewinnendes Lächeln auf und lehnte sich an Adlins Schulter. »Danke, Eve, danke, ich werde schon mit Liebe überschüttet, da kann Askit nicht mithalten.«

»Tja, die ewige Frage. Kann Askit lieben?«, frotzelte Samir, und Eve sah geflissentlich darüber hinweg, welcher Unterton in seiner Stimme mitschwang. Sie hatte sich immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie facettenreich, wie umfassend Askits Bewusstsein wirklich war, ob und wie es noch weiterwachsen würde.

»Ich glaube, es kommt darauf an, wie wir Liebe definieren. Ich denke, wir behandeln Askit eher wie einen Menschen, und das, obwohl wir wissen, dass dahinter nur Algorithmen und neuronale Chips stehen, aber wir wissen nicht, wohin das noch führen kann.«

Thyron wippte mit den Füßen, bei dem Thema konnte er sich kaum zurückhalten: »Nur neuronale Chips? Nun, bei Askit bedeuten sie eine unbekannte Menge, insofern wäre ich mit einem Urteil über seine Fähigkeiten vorsichtig.«

Adlin beugte sich nach vorne und wärmte ihre Hände. Für einen Moment wurde in der Kälte ihr Atem sichtbar. »Fangen wir doch bei den primitiven Dingen an. Wenn mir jemand morgens sagt, dass ich gesund aussehe, dann fühle ich mich gut. Die emotionalen Reflexe bleiben die gleichen, egal, ob es sich um einen Menschen oder nur um eine menschenähnliche Maschine oder einen holografischen Avatar handelt.«

»Das heißt, ich kann mir die ganzen Komplimente sparen und Askit bitten, sich morgendlich darum zu kümmern?«, fragte Samir.

Eve musste laut lachen, als sie Adlins Grimasse sah und wie sie ihm mit der Hand auf den Hinterkopf tatschte. »Ich warne dich, Samir. Adlin kennt da keinen Spaß. Ich glaube, dass es einfach darauf ankommt, dass ein Wesen körperlich und geistig anwesend sein muss, um selbst lieben zu können. Und, na ja, Askit ist immer um uns herum, in uns, und wir sehen es täglich«, sagte Eve.

»Was bei dir sehr früh der Fall war«, kommentierte Thyron leise.

»Ja, das war es.«

Alle schwiegen.

Eve schnürte sich der Hals zu, die Augen begannen zu brennen. Es missfiel ihr, immer wieder an ihre Besonderheit erinnert zu werden, dass sie so früh mit Askit verbunden wurde. Es erzeugte einen inneren Konflikt, das Gefühl, eine Sonderstellung innezuhaben. Auch wenn Askit ihr immer wieder bescheinigte, dass dies keine Auswirkungen auf ihren Score hatte, war es ihr unangenehm.

»Askit hat viel für unser Überleben geleistet, aber zu echten Gefühlen gehört ein höheres Bewusstsein, niemand weiß bis heute, wie das bei uns entstanden ist und wie es wirklich funktioniert. Wie sollen wir es dann bei Askit verstehen?«, fragte Thyron, stand auf und verteilte Proteinshakes, getrocknete Algen und Wasser.

Eve war auch aufgestanden, zog sich die Decke weiter über den Rücken, stampfte in den staubigen Torf, nahm einen Schluck der weißen geschmacklosen Proteine und biss von der zähen Algenmasse ab, die vergleichsweise salzig war. Thyron erhöhte die Temperatur des Heizaggregates. Glühdrähte leuchteten auf. Für einen Moment sah Eve in erleichterte und kauende Gesichter, aber Thyrons Ansicht weckte Widerstand.

»Ich glaube, dass es beängstigend wäre, wenn sie feststellen würden, dass das Letzte, was uns von Askit trennt, längst nicht mehr existiert. Das sehe ich jetzt schon bei den Angepassten. Eine zu große Verbundenheit Askits mit uns führt nicht nur zu Zuneigung, sondern auch zu Misstrauen.«

Die Temperatur war schlagartig gesunken. Adlin blickte in die Runde.

»Es gibt heute Abend eine große Meditation im Zentrum. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir hier nicht erfrieren. Thyron, sosehr ich deine Idee, hier zu übernachten, zu würdigen weiß, aber noch nicht mal mit Thermoanzug halte ich das für eine gute Idee.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich darf euch zumindest auf das Thermometer aufmerksam machen. Meine Damen und Herren: Es friert!«, verkündete Thyron euphorisch.

Samir hob den Daumen, alle standen auf und packten ihre Sachen. Adlin nahm Eve in den Arm, schlug ihre Decke wärmend über ihren Rücken. »Komm, ich denke, etwas Stille wird uns guttun. Ist alles in Ordnung?«

»Ach, Adlin. Ja, ich denke schon, gehen wir.«

Eve ließ sich bei der Rückkehr einige Meter zurückfallen und lief den anderen hinterher. Warum war sie plötzlich so verunsichert? Immer wieder musste sie an die emotionale Begegnung mit den Walen denken. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken umher. Schweigend gingen sie in der Dämmerung zurück, an den schwarzen Riesen vorbei, die weiter dieses monotone Geräusch von sich gaben und jede Sekunde das bedrohliche Gas aus der Luft filterten und in die Tiefe schickten. Vor ihnen erstrahlte das Zentrum.

Die Flure waren menschenleer. Durch die riesigen Glasfassaden konnten sie die Lichter der ganzen Metropole sehen. Ein Solarjet flog über sie hinweg. Sie gingen am Institut für Meeresbiologie vorbei und erreichten den abgeschirmten Flugbereich für die Solarjets. Eve zitterte unwillkürlich. Keine hundert Meter entfernt waren nur für Sekunden dunkle Gestalten zu sehen, ihre langen Waffen im Anschlag verschwanden sie durch ein Tor. Mit einer Mischung aus Neugier und Furcht schritt Eve voran, während die anderen ihr nur langsam folgten. Das Flutlicht der Landebahnen war im Nachtmodus gedämpft. Eve war sich sicher, sie hatte gerade einen Trupp der legendären Beschützer gesehen. Sie atmete schneller, setzte bewusst einen Fuß vor den anderen. Als sie das Schott erreichten, hörten sie ein raunendes Geräusch. Sie erhaschte einen Blick auf den Flugplatz. Dann schlossen sich langsam die kolossalen Stahltore der Anlage, und Samirs Gesicht verfinsterte sich plötzlich. Dann sah auch Eve durch die immer kleiner werdende Öffnung: Zahlreiche Solarjets standen abflugbereit. Einer hatte die Eingangsluke geöffnet, und Patriots trieben drei Reinste vor sich her. Ein Reinster stieg mit um den Oberkörper verkrampften Armen in den Flieger. Eve glaubte, Angst in seinem Gesicht zu sehen. Für einen Moment überkam sie Panik. Und bevor sich der gigantische Einlass mit einem lauten Krachen vor ihnen schloss, konnte Eve für den Bruchteil einer Sekunde erneut einen Beschützer deutlich sehen. Sein dunkler Helm verdeckte sein Gesicht. Der Overall war dunkel, doch die Scheinwerfer der Jets reflektierten seine metallische Oberfläche, die Struktur erinnerte an Fischschuppen. Ob sich hinter dem Visier überhaupt ein menschliches Gesicht verbarg?

Nur Thyron ging ohne einen Ausdruck der Verwunderung einfach weiter und forderte die anderen auf, ihm zu folgen. »Kommt! Wir hätten das nicht sehen sollen. Gehen wir weiter.«

Eve hoffte auf eine Reaktion von Adlin oder Samir, aber keiner der beiden machte einen Mucks, sie gingen stumpf weiter, den Blick starr nach vorne gerichtet. Nur Thyron bot ihr die Hand an. Eve nahm sie zögerlich und folgte einem inneren Impuls. »Wollen wir nicht doch darüber reden? Ich denke, dass wir das sehen sollten.«

Samir schüttelte im Laufen nur die Hand, als wollte er etwas wegwerfen, und Adlin drehte sich nicht einmal um. Sie erreichten ihre Quartiere. Samir öffnete die Tür, Adlin wandte sich an Eve: »Mach dir keine Gedanken.«

»Hast du den Beschützer gesehen?«

»Was? Nein.«

»Du hast doch in die gleiche Richtung geschaut.«

»Nein, wirklich nicht.«

Auch Samir schüttelte den Kopf und sagte: »Wir gehen besser schlafen.«

»Okay. Dann sehen wir uns morgen. Wir gehen noch ins Zentrum«, sagte Eve und sah, wie Thyron nickte. »Volles Potenzial, ihr beiden! Genießt die Nacht.«

»Volles Potenzial!«, wünschten Adlin und Samir im Gleichklang.

Adlins Mundwinkel zogen sich zart nach oben, und ihre Augen leuchteten wieder. Eve spürte, dass alle in ihrem Stimmungsmanagement von dem eben Erlebten mehr beeindruckt waren, als sie es sich eingestehen wollten. Thyron und Eve gingen weiter.

»Thyron! Warum jetzt und hier in Deep Water

»Du misst einem Zufall zu viel Bedeutung zu. Eve, lass es gut sein, vielleicht werden sie gar nicht degradiert.«

»Wie kannst du dir da sicher sein?«

»Es waren Reinste, die besten der Wissenschaftsgilde. Menschen mit einem so hohen Potenzial, die Jahrzehnte von Askit vorbereitet wurden, sollen plötzlich so zurückfallen?«

Eve war vielleicht für einen Moment durch die Abwesenheit von Askit, durch die Entkoppelung vom Feld, der Fähigkeit beraubt, sich selbst optimal zu steuern. Schon dieser Gedanke war beunruhigend. Sie musste aufpassen, dass er sich nicht tiefer in ihr Bewusstsein eingraben würde.

Thyron nahm Eves Hand »Was wir gerade erleben, testet uns, ob wir Askits Entscheidungen infrage stellen würden.«

Eve spürte eine innere Abwehr gegen Thyron, unerwartet und willkürlich. »Ich habe nicht vor, das zu tun, keine Sorge!« Sie ließ Thyrons Hand los. Es schien ihn nicht zu kümmern.

Sie erreichten das Zentrum. In einem Saal neben dem Whitestone-Monument hatten sich Dutzende Reinste zu einer nächtlichen Meditation versammelt. Eve setzte sich ohne ein weiteres Wort im Schneidersitz auf den Boden und schloss die Augen. Sie entschied, dass es besser war zu schweigen. Vielleicht würde sie über Nacht ihr Gleichgewicht wiederfinden, denn morgen ging es um alles.

Die Reinsten

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