Читать книгу Die Reinsten - Thore D. Hansen - Страница 6
Prolog 15. SEPTEMBER 2191
ОглавлениеDas südliche Grenzgebiet der iberischen Wüste zu kontrollieren, war für ihn Routine. Kel überflog es immer wieder mit Demut. Unter wolkenfreiem Himmel steuerte er konzentriert seinen Solarjet über Old Paris. Zwischen den eingestürzten Ruinen einstiger Prachtbauten hatten sich Bäume, Farne und für die Klimazone exotische Pflanzen ihren Platz erobert. Stählerne Brücken, Monumente und Fassaden, einst für die Ewigkeit gebaut, waren bereits vor Jahrzehnten der Korrosion zum Opfer gefallen. Ein Meer aus Grün und wuchtigen Wurzeln breitete sich überall aus. Durch Lichtungen sah Kel Bären und Hirsche vorbeiziehen. Die Natur hatte keine Zeit. Als wollte sie die Spuren ihres einstigen Erzfeindes so schnell wie möglich vom Antlitz der Erde löschen, schritt die Transformation unerbittlich fort. Von der Katastrophe, die sich vor langer Zeit auf dem Planeten abgespielt hatte, war immer weniger zu sehen. Für Kel war der Blick auf diese letzten Zeugnisse der Vergangenheit nur noch ein Gedenkmoment an seine Vorfahren. Ihr Gründer. Ihr seid gestorben, bevor ich geboren wurde, damals, als unsere Welt dem Untergang geweiht war. Ihr habt sie gerettet, und ich wünschte, ihr könntet sehen, was euch gelungen ist.
Er beschleunigte den Jet. Bis an den Horizont erstreckten sich aufgeforstete Wälder, mühevoll der unbarmherzigen Wüste wieder abgerungen. Unter ihm pflanzten Robotereinheiten Bäume, schlossen Lichtungen, rangen der unwirtlichen Hitze das Leben Meter um Meter wieder ab. Kel genoss jede Minute dieses Anblickes. Er hatte das Glück der späten Geburt. Wo der Klimawandel bis vor wenigen Jahrzehnten eine Wüste hinterlassen hatte, dehnte sich nun wieder eine grüne Lunge weit nach Süden aus.
Es dauerte eine gute Flugstunde, bis sich die Vorboten der tödlichen Zone ankündigten. Als die Pyrenäen in Sicht kamen, dünnten sich die Wälder unter ihm langsam aus. Es folgten zerborstene Baumstümpfe, öde Steppe, verfallene, von Dünen überzogene Dörfer und Städte, deren Gemäuer über Jahrzehnte vom Wind geschliffen im Niemandsland ihrem endgültigen Ende entgegenfristeten.
Der Sandsturm setzte ohne Vorwarnung ein. Die beiden Rotoren seines solargetriebenen Einflüglers dröhnten laut auf. Der Jet verlor an Auftrieb. Der Rumpf vibrierte. Während er wendete, glaubte Kel für einen Sekundenbruchteil, durch die getrübte Atmosphäre am Boden menschliche Silhouetten zu erkennen. Der Bordcomputer sendete ihm eine erweiterte Sicht der Realität in sein hermetisch abgeriegeltes Cockpit. Bei Bedarf konnte er 360 Grad erfassen. Er zoomte das Bild näher heran. Nun war es deutlich zu sehen. Drei Menschen – mit Tüchern und Brillen vor der staubigen Luft geschützt. Sie näherten sich der Grenze und einem Quantenrepeater. Eine Armada von Drohnen und Patriots, begleitet von einem Solartransporter, hatten die Gruppe ebenfalls ausgemacht und bewegten sich auf sie zu. Noch nie hatte Kel bei einem Überflug so nah an der lebensgefährlichen Grenze solche Gestalten gesehen. Waren es Kolonisten oder Degradierte? Wo kamen sie her? Wussten sie nicht, dass sie in ihr Verderben laufen würden? Nur wenige Hundert Meter trennten sie von dem Moment, der ihr trostloses Leben jenseits von Paradise schlagartig beenden würde. Wollten sie das etwa?
»Flug AC1613, Commander Kel Stanley. Ich habe hier vermutlich drei Degradierte, die auf Drohnen und Patriots zulaufen, soll ich sie warnen?«
Keine Reaktion. Es ging um Sekunden. Jeden Moment würden die Patriots, riesige Kampfroboter, das Feuer eröffnen. Über sein Hirnimplantat steuerte Kel den Jet als letzte Warnung mit jaulendem Antrieb knapp über die Köpfe der drei am Boden hinweg. Drohnen und Patriots versperrten den Degradierten den Weg. Kurz standen sich Menschen und Roboter bewegungslos gegenüber. Einer der Männer war gefährlich nah an einen Patriot herangetreten. Warum schossen die Roboter nicht?, fragte sich Kel. Was ging da vor? Der Mann berührte den Patriot, als wolle er sich über ihn mit Askit verbinden. Kel versuchte, die schlechte Sicht zu kompensieren, vergrößerte das Bild bis aufs Maximum.
»Commander Kel«, ertönte eine leicht verzerrte Stimme, »dreh ab und kehre zurück nach Askit City!«
Kel zog den Flieger nur zögerlich wieder nach oben. Wenn es sich bei dem Mann da unten um einen Degradierten handelte, hätte er ihn über die Signatur seines Gehirnimplantats sofort identifizieren können. Doch genau in dem Moment hatte die künstliche Intelligenz Askit die Kontrolle übernommen.
»Commander, keine weiteren Gedanken dazu. Es ist alles in Ordnung. Die Patriots werden den Menschen ihren Weg weisen und sie mit dem Nötigsten versorgen. Dein Mitgefühl ehrt dich.«
Irritiert flog Kel eine weitere Runde. Ein Patriot entlud aus dem Transporter Lebensmittel und stellte sie vor der kleinen Gruppe ab. Der Erste der kleinen Gruppe drehte sich um und ging zurück, die anderen nahmen die Überlebensrationen auf und folgten ihm, ohne zu zögern. Kel sah gebannt zu. Dann wurde alles schwarz vor seinen Augen. Kel nahm seinen Helm ab und blickte in der rötlichen Notbeleuchtung auf seinen schuppenartigen Schutzanzug herab. Er fasste sich an den Hinterkopf und überprüfte den Anschluss zwischen Implantat und Bordcomputer. Die ruckartige Bewegung des Jets deutete auf einen Richtungswechsel hin. Der Bordcomputer sandte kein Bild mehr. Die Beschleunigung drückte ihn tiefer in seinen Sitz. Der Steuerung enthoben, starrte Kel in ein gefühltes Nichts.
»Commander Kel. Melde dich nach deiner Rückkehr in Askit City zu einem Scan. Es gibt keinen Grund, Verantwortung für etwas zu übernehmen, dessen Ursache du nicht bist!«
»Ja, Askit. Hast du deswegen meinen Bordcomputer gesperrt?«
»Eine Identifizierung der Degradierten hätte deine Projektionen und intrinsischen Motive zu helfen nur weiter verstärkt. Nach dem Scan kannst du den Dienst für die Agenda wieder effektiv fortsetzen.«
Kels Halsschlagader pochte gegen das eng anliegende Material seines Anzugs. Er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass er soeben Zeuge eines Vorgangs geworden war, dessen Tragweite er nur erahnen konnte.
»Danke, Askit!«