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5. Politische Fraktionierungen, Parteien

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Der Bezug zum Staatsganzen, die Bindung an den Monarchen, die viel geringere Rolle der Parteien im öffentlichen Leben und schließlich ihre konstitutive Beschränkung weitestgehend auf Funktionen außerhalb der Exekutive, all diese Momente führten dazu, dass Gestaltung in den hohen Staatsämtern sich in einem nur mittelbaren Verhältnis zu Parteien, Fraktionen und Parlamentsmehrheiten sah. Die Eigenart dieses Systems bestand somit darin, dass der Akteur an der Spitze des Staats- und Regierungsapparates sich zwar nicht als politisches Neutrum verstand, es aber bei allen Präferenzen zu verschiedenen Zeiten für bestimmte Parteien, Fraktionen und Konstellationen doch stets vermied, sich ganz mit einer Richtung oder Fraktionierung zu identifizieren. Bismarck hat darüber selbst im Reichstag reflektiert, so am 29. November 1881: »Die stärkeren Fraktionen stellen an mich den Anspruch, ich soll (sic!) ihnen nicht nur meine Person, sondern das kaiserliche Gewicht zur Verfügung stellen für ihre Fraktionszwecke, dann würden sie […] mit mir zusammen wirtschaften. Ja, wenn das meine Überzeugung wäre, wenn meine Überzeugung mit einer dieser Fraktionen vollständig übereinstimmte, so würde ich mich gern der Fraktion anschließen und würde aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, vorausgesetzt, dass ich voraussähe, mit dieser Fraktion kann ich mein Jahrhundert in die Schranken fordern, und die ist stark genug, um das Deutsche Reich mit ihrer Hilfe zu festigen, auszubilden und zu regieren.«30 Im Weiteren reflektierte der Kanzler dann darüber, er könne sich so etwas unter britischen Bedingungen vorstellen, also bei nur zwei relevanten Parteien im Parlament, deren Majoritäten sich jeweils in Regierungsbildung und politischer Führung ablösten. Es spricht nun sehr viel dafür, dass er hier mit Nebelkerzen warf. Denn genau dieses britische System der parlamentarischen Verantwortlichkeit hat er im Prinzip ja stets abgelehnt und an seiner Stelle eben jene Konstellation befürwortet – und mit den Verfassungsregelungen von 1867 und 1871 selbst wesentlich mit herbeigeführt –, bei der er die zentrale Funktion in einem System von Zuordnungen und Verantwortlichkeiten besaß. Parlament und Fraktionen waren dabei kein unwichtiger Faktor, aber nicht der einzige und unter keinen Umständen sollten sie dominant werden. Vielleicht am klarsten hat Bismarck die Nichtakzeptanz einer Parteidominanz in seiner ganz entscheidenden Reichstagsrede vom 9. Juli 1879 zum Ausdruck gebracht. Es war möglicherweise die Schlüsselszene bei jener zentralen innenpolitischen Kurskorrektur, die das liberale Jahrzehnt in Preußen-Deutschland beendete. Materiell hieß dies: ein Finanzpaket aus Zöllen (Eisen und Getreide) wie Verbrauchssteuern (Tabak) und damit zugleich ein ganz neues Einnahmeniveau für die Reichsfinanzen, sowie partieller Ausgleich mit dem katholischen Zentrum, das diesen Kurs mittrug, ja mit gestaltete. Hinter diesem Politikwechsel stand eine Lobby aus Schwerindustrie und Landwirtschaft, die die Kräfte im Reichstag neu justieren half. Dieser neue Kurs entsprach nicht nur den Interessen der agrarischen und in Teilen der bürgerlichen Wählerschaft. Das Zentrum mochte so hoffen, seinerseits Bismarck in Abhängigkeit zu bringen und den Kulturkampf mildern, vielleicht ganz aus der Welt schaffen zu können. Es ging aber, und das ist ganz typisch für Bismarcks Agieren, nicht einfach darum, nunmehr das Zentrum an der Stelle der Nationalliberalen zu einer Art Koalitionspartei zu machen. Einmal ließ der Stand des Kulturkampfes das grundsätzlich noch nicht zu, es sollte fast noch ein Jahrzehnt ins Land gehen bis zu seiner Abschwächung. Vor allem war es Bismarck darum zu tun, eine relative Präferenz durch eine andere relative Präferenz zu ersetzen, mehr nicht. Und damit verband sich die Taktik, auch innerhalb der betroffenen Parteien beziehungsweise Fraktionen Gunst und Hader zu verteilen.

Es war eine Sensation, als der Reichskanzler am 3. Mai 1879 den führenden, aber eben nicht den alleinführenden Repräsentanten des Zentrums, Ludwig Windthorst, in seinem Haus zur parlamentarischen Soiree empfing und ostentativ in ein langes Gespräch zog.31 Freilich war und blieb Windthorst trotz aller Signale eine Figur, die Bismarck denkbar fern stand: Nicht nur als führende Kapazität im Zentrum, sondern auch als Anwalt des alten Königreiches Hannover und der 1866 entthronten Welfen-Dynastie. So hat Bismarck den eigentlichen Schlussstein der damaligen Neuregelung der Reichsfinanzen mit dem zentralen Rivalen Windthorsts an der Spitze des Zentrums, dem bayerisch-fränkischen Freiherrn von Franckenstein, ausverhandelt. Es ging um die berühmte Franckensteinsche Klausel, die der Reichskanzler schließlich akzeptierte: Reichseinnahmen aus den neuen Finanzquellen, die 130 Millionen Mark jährlich überstiegen, sollten proportional an die Länder überwiesen werden; der bayerisch-fränkische Aristokrat von Franckenstein, obwohl ursprünglich gegenüber der kleindeutschen Reichsgründung strikt ablehnend, war für Bismarck eine deutlich akzeptablere Figur als der konfliktorientierte Windthorst – und Letzterer »tobte«32, weil der Kanzler nicht mit ihm die entscheidenden Verhandlungen geführt hatte. Bismarck gelang es bei dieser Operation nicht nur, das bis dahin so vehement bekämpfte Zentrum taktisch geschickt auf seine Seite zu ziehen. Bei der Verbannung der Nationalliberalen 1879 aus der Gunst des Kanzlers handelte es sich keineswegs um eine Reise ohne Wiederkehr. Und ein Teil der Fraktion blieb auch jetzt im Kanzlerlager. Es waren jene, die den nationalen Integrationskurs über (ökonomisch-) liberale Prinzipien stellten. Derlei »Ordnungspolitik« wurde von Bismarck als akademisch-weltfremd abgetan. Und mit aller Offenheit hatte er drei Tage zuvor im Reichstag erklärt, wie er sein Verhältnis zu Fraktionen sah: »Eine Fraktion kann sehr wohl die Regierung unterstützen und dafür einen Einfluss auf sie gewinnen, aber wenn sie die Regierung regieren will, dann zwingt sie die Regierung, ihrerseits dagegen zu reagieren.«33

Die sogenannte liberale Ära, die im Grunde mit dem preußischen Sieg über Österreich 1866, mit der Indemnitätsvorlage und mit der Errichtung des Norddeutschen Bundes begonnen hatte, und die nun, im Sommer 1879, endete, hatte im Zeichen einer vergleichbaren Konfrontation Bismarcks gestanden, im Zeichen seiner Abwendung von den preußischen Konservativen. Vielleicht war dies der schmerzhafteste innenpolitische Bruch, mit dem er je konfrontiert war, denn hier ging es um die zumindest weitgehende Abwendung von jenem Milieu, dem er selbst eigentlich entstammte. Aber auch in den späten 1860er- und frühen 1870er-Jahren kam für ihn eine gewissermaßen zementierte Bindung an eine Partei, an eine Richtung und an ein Dogma nicht infrage. Für die altpreußischen Konservativen hingegen begann das Verhängnis 1866: Ihre Welt gründete im Bündnis von Thron und Altar, in den patriarchalischen Lebensverhältnissen auf dem Lande, in der Einbindung der preußischen Monarchie in die Integrität der dynastischen Verhältnisse im Zentrum Europas wie auch in das Kooperationsmuster der drei konservativen europäischen Ostmächte Preußen, Österreich und Russland. In idealer Weise hatte die Heilige Allianz nach dem Ende der napoleonischen Ära diese Welt verkörpert. Nun stellte die von Bismarck repräsentierte preußische Politik mit einem Mal Fundamente dieser Ordnung infrage: Sie entthronte die Welfen in Hannover, sie sprengte die legitime Ordnung des Deutschen Bundes, sie ventilierte den Gedanken eines nach gleichem Wahlrecht bestimmten deutschen Nationalparlaments, sie ging auf die Liberalen zu und beantragte die nachträgliche Billigung der Haushaltsvorlagen und ging damit zugleich im Verfassungskonflikt einen ansehnlichen Schritt in Richtung Parlamentarisierung.

Bismarcks alter politischer Ziehvater, von dem er sich freilich schon getrennt hatte, Ludwig von Gerlach, brandmarkte den innerdeutschen Krieg von 1866: »Das war Kains Brudermord, Judas Verrath und die Kreuzigung des Herrn auch.«34 Nun überwarf sich Bismarck mit früheren Weggefährten wie Hans von Kleist-Retzow und Moritz von Blanckenburg. Der innerdeutsche Krieg von 1866 und sein Ausgang zeitigten zweierlei parteipolitische Klärungen beziehungsweise Neuformationen: Im liberalen Lager entstand die Nationalliberale Partei. Sie sah sich vorderhand als die Partei des nationalen Kompromisses mit der preußischen Staatsführung und im Ergebnis als die Partei der schließlichen Reichsgründung, bis es 1879 zum weitgehenden Bruch kam. Im konservativen Lager, in dem die Altkonservativen nun in Opposition zum Regierungskurs gerieten, bildete sich mit den Freikonservativen eine neue Formation heraus: Pragmatischer und nationaler als die Altkonservativen, durchweg auf Regierungskurs, gouvernemental, rekrutiert vor allem aus Beamten-, Offiziers- und Industriellenmilieu, weniger aus dem Milieu der streng evangelischen, vielfach pietistischen ostelbischen Gutsbesitzer und Adeligen. Erst, als sich 1876 die »Deutschkonservativen« formierten, die sich innerlich auf den Boden der neuen Nationalstaatsgründung stellten, und sich eher als agrarische ökonomische Lobbypartei verstanden, begann der Bruch allmählich zu heilen.

Zunächst aber eskalierte die Konfrontation zwischen Bismarck und dem herkömmlichen altpreußischen Konservativismus weiter, über den Einschnitt der Reichsgründung hinweg.

Der preußische und deutsche Kulturkampf gegen die katholische Kirche war – jedenfalls auch – Teil eines etatistischen Modernisierungsprozesses. Zwei Reformmaßnahmen in Preußen provozierten in besonderer Weise den Protest der Altkonservativen, das Schulaufsichts- und das Kreisreformgesetz. Beide griffen in die althergebrachten Verhältnisse ein: Das Schulaufsichtsgesetz von 1872 definierte die Schulaufsicht als eine Funktion des Staates, nicht mehr der Kirche. Das Kreisreformgesetz griff in die lokalen politischen Besitzstände der Gutsbesitzer und Landadeligen ein. »Das Gesetz hob die Polizei- und Verwaltungsbefugnisse der Rittergutsbesitzer auf.«35 Es fand am 23. März 1872 eine breite Mehrheit im preußischen Landtag – gegen die Minderheit von Rittergutsbesitzern und Landräten aus dem ostelbischen Preußen. Aber es fiel ein halbes Jahr später im preußischen Herrenhaus geradezu krachend durch, mit 145 gegen 18 Stimmen. Hier hatte das alte, monarchisch-ständische Preußen seine letzte Rückzugsbastion. Bismarck, auch hier wie oft von überschießender Emotionalität, wollte daraufhin das Herrenhaus, in dem der landständische Adel den Ton angab, geradezu gleichschalten: Künftig sollten hier auf Loyalität getrimmte hohe Beamte und bürgerliche Profiteure des Wirtschaftsaufschwunges den Ton angeben. Stattdessen kam es zu geringen Modifikationen des Kreisreformgesetzes und im Herrenhaus nur zu einem »Pairs-Schub« durch die Ernennung von 24 neuen Mitgliedern, hohen Offizieren und Beamten, auf deren Loyalität die preußische Regierung baute. Damit wurde schließlich die Akzeptanz des Kreisreformgesetzes erreicht.

Bismarcks weiterer und gegenläufig erscheinender Kurswechsel von 1879, zurück in ein nun nationaler gewordenes und stärker auf ihn zugeschnittenes konservatives Lager, erfolgte freilich weder abrupt noch kurzfristig, und vollständig war er schon gar nicht. Einer der engsten Verbündeten Bismarcks im nationalliberalen Lager war der aus dem Hannoverschen stammende Rudolf von Bennigsen, insofern ähnlich Windthorst eine preußische Kriegsbeute von 1866. Gerade weil Bennigsen mit seiner Biografie nicht die gewissermaßen innerpreußischen Belastungen des Verfassungskonfliktes von 1862 mit sich herumtrug, war er für Bismarck und dessen Avancen in besonderer Weise zugänglich – und umgekehrt bemühte sich Bismarck in der Endphase seiner verdichteten Kooperation mit den Nationalliberalen, Bennigsen für ein Ministeramt in Preußen zu gewinnen. Bezeichnend auch für seine ganz persönliche Kultur als patriarchalischer Gutsherr und gewissermaßen guter Hausvater ist, wie er Bennigsen am 9. Juli 1877 kurzfristig für einige Tage nach Varzin in Hinterpommern bat. Da es »ohne gesellschaftliche Ansprüche« zugehe, könne der Gast auch gerne den Frack zuhause lassen, solle aber feste Stiefel mitbringen. Die Ministerkandidatur Bennigsens scheiterte am Ende. Ebenso wie Bismarck sich von ihr eine Rechtswendung der Nationalliberalen versprochen hatte, ging es Bennigsen umgekehrt und ganz plausibel darum, durch zusätzliche nationalliberale Minister in Preußen eben das zu erreichen, was der Kanzler und Ministerpräsident unbedingt vermeiden wollte, eine mehr oder weniger förmliche liberale Regierungskonstellation. Bismarck, das zeigte die innenpolitische Konstellation in der zweiten Hälfte der 1870er-Jahre, wog ab, er ging nicht radikal von A nach B, er akzeptierte das Neue, hier die Einbeziehung von reformierten Konservativen und Zentrum, nur eingeschränkt, und er brach, auch wenn es verbal noch so heftig zuging, die Brücken hinter sich keineswegs vollständig ab.

Diese Kultur der innenpolitischen Politikgestaltung sollte von ihm ein letztes Mal mit großem Erfolg bei der Auseinandersetzung um zwei große Militärvorlagen in den Jahren 1886 bis 1888 praktiziert werden. Wieder ging es im Zeichen eines nationalen Integrationsprozesses um die Position der Mittelparteien, der Nationalliberalen und des Zentrums. Die Sozialdemokratie stand ohnehin außerhalb jeglichen Kalküls. Und die Linksliberalen, die Freisinnigen, wurden von Bismarck vielfach wegen ihres prinzipiellen Rechtsstaatskurses trotz aller ideologischen Gräben als de facto Helfershelfer der Sozialdemokraten denunziert. So blieben für eine nationale Integration beziehungsweise Sammlung im Wesentlichen die beiden konservativen Parteien, die Nationalliberalen und das Zentrum, Letzteres weiterhin am wenigsten geschätzt wegen seiner Orientierung hin zum Heiligen Stuhl und zur katholischen Welt, seiner Rolle als eine Art politisch-parlamentarischer Schutzherr der Polen in den preußischen Ostprovinzen, kurzum wegen seiner inneren Unabhängigkeit gegenüber dem kleindeutschen Hohenzollernreich.

1887 kam zweierlei zusammen: Einmal bedurfte es prinzipiell einer neuen Militärvorlage im Reichstag; seit 1874 galt als Kompromiss zwischen Kanzler und Militärapparat auf der einen Seite, Parlament auf der anderen Seite die gesetzliche Festlegung der Präsenzstärke der Armee auf jeweils sieben Jahre, das berühmte Septennat. Nach 1881 stand damit eine solche Neufestlegung, ein letztes Mal in der Bismarck-Zeit, für 1887 / 88 an. Hier berührten sich nun zwei Problemkreise:

Zum einen ging es um die parlamentarische Mitsprache im Militär- und Rüstungsbereich und damit, nach den Erfahrungen des preußischen Verfassungskonfliktes, um einen hochsensiblen Konfliktgegenstand im System des preußisch-deutschen Konstitutionalismus. Die zweite Dimension war die außenpolitische, mit ihren ganz eigenen innenpolitischen Konsequenzen: Das Jahr 1887 stand im Zeichen einer außenpolitischen Doppelkrise, auf der einen Seite einer innenpolitisch instrumentalisierten Kriegsgefahr im Verhältnis zu Frankreich. Dafür gab der aggressiv auftretende französische Kriegsminister Boulanger die rechte Zielscheibe ab. Am 14. Januar 1887 hatte Bismarck durch den Kaiser den Reichstag auflösen und Neuwahlen ausschreiben lassen, zweieinhalb Wochen später erschien im Blick auf die französische Bedrohung in der Zeitung Post ein Artikel unter dem Titel: »Auf des Messers Schneide«36. Tatsächliche Kriegsgefahr ging auf der anderen Seite hingegen in diesen Monaten eher von dem belasteten Verhältnis zwischen Deutschland – mit Österreich-Ungarn – und Russland im Zeichen der Bulgarienkrise aus. Die führenden Militärs im Generalstab drängten in dieser Situation auf einen Präventivkrieg gegenüber Russland, auf ein gemeinsames Vorgehen mit Österreich-Ungarn, das in einem Feldzug in Kongresspolen eine militärische Entscheidung herbeiführen sollte. Bismarck war gegen den Krieg, aber dieser Kurs ließ sich nur durchhalten, wenn er mit selbstbewussten nationalen Parolen verbunden wurde und für innenpolitische Sammlung im Zeichen einer klaren Polarisierung zwischen nationalem und nichtnationalem Lager stand. Wieder waren Nationalliberale und Zentrum die parlamentarischen Kräfte, um die im Kern der Konflikt geführt wurde. Und umgekehrt sollten Aufrüstung und innere Stärkung die Politik in die Lage versetzen, den Militärs die Begründung für den tatsächlichen Waffengang zu nehmen: Denn ein Präventivkrieg aus einer Situation angenommener oder künftiger potenzieller Schwäche, und sei es auch im Zeichen eines Zweifronten-Krieges gegen Frankreich und Russland, werde dann überflüssig werden, wenn das Reich aus eigener Stärke nichts zu befürchten habe. Hier wird deutlich, wie sehr bei Bismarck Innen- und Außenpolitik, Strategie, Taktik und Instrumentalisierung in enger Wechselbeziehung zueinander standen. Und um das katholische Zentrum unter Druck zu setzen, verfügte Bismarck über eine Waffe, die förmlich genial anmutet, den eigens dazu in Stellung gebrachten Heiligen Vater, Papst Leo XIII. Anfang Januar 1887 wies der Vatikan den in München amtierenden Nuntius an: »Sie wollen daher aufs Lebhafteste die Führer des Centrums dafür interessieren, daß sie allen ihren Einfluß bei ihren Kollegen anwenden und dieselben versichern, daß sie durch die Unterstützung des Septennats dem Heiligen Vater eine große Freude bereiten und das für die Sache der Katholiken sehr vortheilhaft sein wird.«37 Zugleich gewann Bismarck die kommunikative Hegemonie gegenüber Parlament und Öffentlichkeit durch zwei große Reichstagsreden, die in Teilen geradezu in den nationalen Sprachhaushalt eingegangen sind, der vom 11. Januar 1887 und der vom 6. Februar 1888. Bei der ersten Rede schob er jenen Abgeordneten, die der bereits vorliegenden Septennatsvorlage die Zustimmung versagten, die Verantwortung für einen künftigen, gegenüber Frankreich verlorenen Krieg und für die Folgen zu, und er sparte dabei nicht mit nationaler Dramatisierung: »Man würde dafür sorgen, dass das Deutsche Reich so stark nicht bleibt, wie es ist. Man würde, von der Rheingrenze ausgehend, uns vom Rhein soviel abnehmen, wie man könnte; […] wir würden Schleswig ganz ohne Zweifel an Dänemark verlieren. […] Nun meine Herren, ich kann mir danach nicht denken, wer überhaupt sich stark genug fühlte, die Verantwortung für die Möglichkeiten des Eintritts solcher Zustände zu übernehmen. Die verbündeten Regierungen sind es ganz sicher nicht […]. Die verbündeten Regierungen haben […] dem Volk gegenüber die Verantwortlichkeit dafür, dass dieser Schutz jederzeit vorhanden sei.«38 Mit den »verbündeten Regierungen« kommt hier eine weitere, für die spätere Bismarckzeit typische Referenzebene ins Spiel. Je mehr Bismarck den Reichstag unter Druck zu setzen suchte, desto mehr bedurfte er dazu außerparlamentarischer Verbündeter. Die föderale, in Teilen konföderale Struktur des Bismarck-Reiches legte es dazu nahe, sie im Bundesrat wie bei den Monarchen und Regierungen der anderen deutschen Staaten zu suchen, von außerdeutschen Partnern wie dem wie ein deus ex machina auf die Bühne gezauberten Papst ganz abgesehen. Der Papst selbst hatte durchaus plausible Gründe, sich mit dem evangelischen deutschen Reichskanzler gegen das katholische Zentrum zu verbinden: Das Deutsche Reich stand im Bündnis mit Österreich-Ungarn, der einzig verbliebenen substantiell katholischen Großmacht in Europa. Frankreich und Italien hingegen waren zwar sozusagen auf dem Taufschein katholisch, Frankreich aber politisch laizistisch, und das neue italienische Königreich hatte 1870 den letzten Rest des Kirchenstaates militärisch beseitigt und stand im Fundamentalkonflikt mit dem Heiligen Stuhl. Zusätzlich erhoffte sich der Papst, nicht ohne Grund, die weitgehende Beseitigung der Kulturkampfgesetze, wenn er hier mit dem deutschen Kanzler konform ging.

Auf der monarchischen Ebene suchte der bayerische Prinzregent Luitpold, als Angehöriger des wittelsbachischen Hauses 1870 noch ganz auf der Seite der Gegner des bayerischen Eintritts in das neue Reich, in denkbar brüsker Form die bayerischen Abgeordneten im katholischen Zentrum anlässlich einer Begegnung in der Berliner bayerischen Gesandtschaft am 9. Dezember 1886 zur Annahme der Septennatsvorlage buchstäblich zu vergattern.39 Bismarcks Mobilisierungsstrategie ging bei der Reichstagswahl vom 21. Februar 1887 voll auf: Die Wahlbeteiligung stieg auf 77 Prozent gegenüber 60 Prozent bei der Reichstagswahl von 1884. Insbesondere die Nationalliberalen, die sich wieder nach rechts gewandt und hinter die Septennatsvorlage gestellt hatten, profitierten von der Loyalität mit Kaiser, Kanzler und Reich im Zeichen nationaler Sammlung: Sie stiegen von 997 000 Wählern auf jetzt 1 678 000, von 51 auf 99 Mandate; die drei Kartellparteien, Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale erreichten 220 von 397 Mandaten. Für Bismarck hatte es sich also voll ausgezahlt, das Septennat vom Vorgänger-Reichstag mit 183 gegen 154 Stimmen ablehnen und dann neu wählen zu lassen. Der sogenannte Kartell-Reichstag billigte die Septennatsvorlage, darunter auch eine Reihe von Zentrumsabgeordneten, der größte Teil von ihnen enthielt sich. Kaum war aber die neue Friedenspräsenzstärke der Armee gebilligt, erfolgte der nächste rüstungspolitische Paukenschlag, die Ausdehnung der Dienstpflicht in der Landwehr vom 32. auf das 39. Lebensjahr. Für den Mobilisierungsfall brachte sie zusätzliche rund 700 000 Soldaten, oder wie Bismarck plastisch sagte »die Armee einer zweiten Großmacht«. Zur Begründung holte der Kanzler im Reichstag am 6. Februar 1888 über volle zwei Stunden weit aus. Sein Kernargument war:

Durch die Einbeziehung der älteren, ausgebildeten Jahrgänge für den Mobilisierungsfall sollte Deutschland eine so hohe Kriegsstärke erreichen, dass die potenziellen Gegner, Frankreich und Russland wurden hier ganz offen genannt, entweder vom Krieg abgeschreckt werden würden – ein Argument, das im Blick auf den Kalten Krieg ab 1946 / 47 sehr modern klingt – oder, falls es doch zum Waffengang komme, Deutschland zuversichtlich auf den Kriegsausgang blicken dürfe. Die Schlussfolgerung lautete: Für einen Präventivkrieg aus Sorge um künftige Unterlegenheit gebe es also keinen Anlass, und daher könne Deutschland unbesorgt, wie in den bald schon zwei Jahrzehnten seit der Reichsgründung, weiter Friedenspolitik betreiben: »Diese gewaltige Verstärkung wird, wie ich glaube, auch beruhigend auf unserer eigenen Landsleute wirken und wird die Nervosität unserer öffentlichen Meinung, unserer Börse und unserer Presse einigermaßen ermäßigen.«40 Und um einer etwaigen Kriegspolitik weiter den Boden zu entziehen, fügte der Reichskanzler hinzu, dass Krieg kein Instrument (mehr) einer opportunistisch kalkulierenden Kabinettspolitik sei. Friedenspolitik und nationale Parole kamen so zusammen: »Wenn wir in Deutschland einen Krieg mit der vollen Wirkung unserer Nationalkraft führen wollen, so muss es ein Krieg sein, mit dem alle, die ihn mitmachen, alle, die ihm Opfer bringen, kurz und gut, mit dem die ganze Nation einverstanden ist; es muss ein Volkskrieg sein.«41 Man kann es auch so sagen: Bismarck stellte hier die nationale und plebiszitäre Referenzebene gegen die repräsentative, die parlamentarische. Parlament, Parteien und Fraktionen wurden dabei sozusagen von oben und unten unter Druck gesetzt, von oben durch Monarchen und Regierungen, von unten durch das nationale Wohl, das er durch sich repräsentiert sah und das er agitatorisch geschickt gegen die im Parlament vertretenen politischen Fraktionierungen ins Feld zu führen verstand. Ausschalten, beseitigen wollte er Letztere damit freilich keineswegs. Bismarck hat oft und glaubhaft versichert, prinzipiell kein Anhänger eines absolutistischen Systems zu sein. Es ging ihm vielmehr um ein Kräfteparallelogramm, dessen Nutznießer er selbst sein wollte.

Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts

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