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4. Regieren und Regierungsapparat

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Einen Kanzler beziehungsweise Staatskanzler hatte es in Preußen nur einmal gegeben, mit Karl August von Hardenberg vom 4. Juni 1810 bis zu seinem Tode am 26. November 1822.25 König Friedrich Wilhelm III. hatte in der Ernennungsurkunde für Hardenberg eine besondere Prärogative des Staatskanzlers zum Ausdruck gebracht: »Ich habe beschlossen, Euch zum Staatskanzler zu ernennen und Euch unter meinen unmittelbaren Befehlen die obere Leitung aller Staatsangelegenheiten zu übertragen.«26 Der Ministerpräsident im Königreich Preußen hingegen war unter den Bedingungen der Verfassung von 1850 an sich eine schwache Figur, ein primus inter pares – darauf wurde schon eingegangen. Im Falle Bismarcks kam zumindest hinzu, dass er sich frühzeitig ein hohes Maß an persönlicher Autorität erkämpfte; nach elf Jahren als preußischer Chefdiplomat und als political animal schlechthin, dazu als Joker im preußischen Verfassungskonflikt war er eine erhebliche politische Kapazität. Aber das war er mehr als Einzelakteur, von seinen Kollegen im Staatsministerium hielt er zumeist wenig – man wird hier, ausnahmsweise, der Charakteristik in seinen Memoiren folgen dürfen: »Ebenso war der Handelsminister Graf Itzenplitz nicht im Stande, das Steuer seines überladenen ministeriellen Fahrzeugs selbstständig zu führen, sondern trieb in der Strömung, welche seine Untergebenen ihm herstellten.«27 Die Ausnahme war sicherlich der ihm auch persönlich nahestehende Kriegsminister Albrecht von Roon. Roon war ja schon im September 1862 massiv daran beteiligt gewesen, Bismarck in einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion nach Berlin beziehungsweise Potsdam zu holen, um den König von der Abdankung und damit vom Übergang Preußens zu einem liberalen Regime abzuhalten. Aber die preußischen Kriegsminister hatten in der Hohenzollern-Monarchie sowie auch später im Deutschen Reich eine Art Sonderstellung. Denn da die Armee uneingeschränkt der Kommandogewalt des Königs unterstand – und Bismarck selbst legte zumindest äußerlich stets den größten Wert darauf, dass es dabei blieb –, war der Kriegsminister eine Art Zwitter zwischen zivilem Minister und General in der autonomen Militärhierarchie.

Für Bismarcks konstitutive Stellung bedeutete der Aufstieg zum Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes 1867 und vier Jahre später zum deutschen Reichskanzler – mit nahezu unveränderten Kompetenzen – einen Quantensprung. Er behielt die Funktionen des preußischen Ministerpräsidenten und, nunmehr deutlich an Gewicht zulegend, auch des preußischen Außenministers; denn als solcher »dirigierte« er die 17 preußischen Stimmen im Bundesrat. Der Kanzler aber, ernannt und entlassen allein vom preußischen König als Inhaber des Bundespräsidiums, beziehungsweise – seit 1871 – vom Deutschen Kaiser, war von nun an, formal bis zum 9. November 1918, der einzige Minister auf der Ebene des neu geschaffenen Bundesstaates. »Er wurde ein Verfassungsorgan ersten Ranges, das gerade aus seiner Zwischenstellung zwischen Bundespräsidium und Bundesparlament (Reichstag, P.M.) die Freiheit des selbstständigen Handels gewann.«28 Im verfassungsrechtlichen Sinne bedurfte der Kanzler zwar nicht einer Mehrheit im Reichstag. Parlamentarische Missbilligungen konnten seine Stellung gegenüber dem Monarchen gegebenenfalls – punktuell – sogar stärken; gegen das Parlament war freilich auf Dauer nichts auszurichten: Denn ohne Reichstagsmehrheiten und damit ohne gebilligte Haushalte ließ sich über längere Zeit nicht regieren, es sei denn der Kanzler ließ es, wie zuvor in Preußen, auf einen Konfliktkurs gegenüber dem Parlament ankommen. Das Reich war aber nicht mehr die enge preußische Monarchie, sondern ein differenziertes politisches System. Bismarck liebte das Spiel mit mehreren Bällen auch in der Innenpolitik, gegen das tendenziell unitarische Verfassungsorgan Reichstag setzte er das konföderale Element der Einzelstaaten und ihrer Monarchen, darauf ist noch zurückzukommen. Seine Zentralbehörde war zunächst das 1867 geschaffene »Bundeskanzleramt«, seit 1871 als »Reichskanzleramt« weitergeführt. An seiner Spitze stand bis 1876 der liberale preußische Karrierebeamte Rudolf von Delbrück. Delbrück war Freihändler, er hatte im Herbst 1870 in Versailles an den Verhandlungen zur Einbindung der süddeutschen Staaten in den neuen künftigen Nationalstaat mitgewirkt; er war vom Typus her so etwas wie ein Modernisierer und Technokrat, der nun mit vielerlei ökonomischen und zivilrechtlichen Regelungen die Rahmenbedingungen für die innere Einheit des neuen Nationalstaates herzustellen suchte. Bismarck wurde bald misstrauisch, nichts fürchtete er so sehr wie Machtkonzentration an ihm vorbei. Dazu kam in seinem Regieren eine Art Fundamentalkrise ab der Mitte der 70er-Jahre. Der Kanzler nahm lange Urlaube, bis zu zehn Monate, auf seinen Gütern Varzin in Hinterpommern und später Friedrichsruh bei Hamburg, während derer, wie auch bei seinem Kuraufenthalten im bayerisch-unterfränkischen Bad Kissingen, er darüber nachdachte, wie es denn an der politischen Spitze des Reiches und Preußens weitergehen solle. Die im Parlament oft mit Vehemenz geforderte Einführung von Reichsministern lehnte Bismarck entschieden und bis an das Ende seiner Tage ab, nichts wäre für ihn inakzeptabler gewesen als ein weiteres Kollegialorgan, dazu noch am Ende mit parlamentarischer Verantwortlichkeit. Dazu war ihm die sozusagen immanent-technokratische Machtausweitung des Reichskanzleramtes suspekt. An den Kaiser schrieb er am 22. Januar 1878: »Das Reichskanzleramt in der Gestalt eines zentralisierten Reichsministeriums mit dem unabweislichen Streben, seinen Einfluss auf die ihm nicht untergeordneten Landesregierungen zu üben und zu verstärken, hat schon bisher periodisch in sehr fühlbarer Weise die Wirkungen gehabt, dass die Minister der größeren Bundesstaaten und namentlich E. M. preußische Minister nur selten und mit Zurückhaltung an den Arbeiten des Bundesrates teilnahmen.«29 Im Ergebnis wurde das »Reichskanzleramt« 1879 zu einem »Reichsamt des Innern« mit vielerlei Verwaltungszuständigkeiten degradiert und entpolitisiert. Dazu traten stetig neue Reichsämter, entsprechend der Ausweitung von Politikmaterien auf nationaler Ebene, etwa das Reichspostamt, das Reichsschatzamt, schließlich ein Reichskolonialamt. An der Spitze all dieser Einrichtungen aber standen auf Reichsebene weisungsgebundene Staatssekretäre, eben nicht Minister mit politisch eigenständiger Führung von Geschäftsbereichen. Anstelle des expandierenden Reichskanzleramtes erhielt der Reichskanzler 1878 die Reichskanzlei. Sie war wohl das, was Bismarck wollte, äußerlich unscheinbar, ein besseres Sekretariat, tatsächlich die zentrale Kommunikations- und Koordinationsinstanz auf Reichsebene.

Am Ende gewinnt man, liest man die Vielzahl an Stellungnahmen und auch Parlamentsreden Bismarcks zur Struktur der Reichsleitung, den Eindruck, dass ihm, der einmal als preußischer Ministerpräsident begonnen hatte, die Reichsfunktionen schließlich näher standen. Als Reichskanzler war er eine Art administrativer Autokrat, freilich nicht im luftleeren Raum, sondern im Mit- und Gegeneinander verschiedener Größen. Als preußischer Ministerpräsident musste er sich bis zum Ende seiner aktiven Tage mit Themen wie Bildungs- und Schulwesen, Kommunalordnungen und Verkehrswegebau abplagen. Wenn derlei Themen nicht auf höherer politischer Ebene instrumentalisiert und damit zweckentfremdet werden konnten, dann war diese Prosa schwerlich eine Welt, die ihn faszinierte.

Was ergibt sich nun, wenn man die wirklich singuläre Konstruktion des Bundes- beziehungsweise Reichskanzlers in der deutschen Geschichte von 1867 bis 1918 mit der des Bundeskanzlers seit 1949 vergleicht? Und ist ein solcher Vergleich überhaupt anzustellen?

Versucht man es, dann erscheinen zwei Punkte bemerkenswert: Der Kanzler im Kaiserreich war der einzige Minister auf Nationalstaatsebene, er hatte es aber zugleich mit einem sehr viel stärkeren Staatsoberhaupt zu tun – aber diese Feststellung bedarf wiederum der Relativierung: Denn der deutsche Kaiser und preußische König konnte seinen Kanzler und Premier in Preußen in der Realität nicht einfach nach der Laune eines absolutistischen Duodezfürsten auswechseln. Ohne ein Mindestmaß an Akzeptanz in der politischen Klasse des Reiches ging es nicht. So ist auch nie, trotz mancherlei Unkenrufen, ein wirklich hochkonservativer preußischer »Reaktionär« ins Kanzleramt gelangt.

Schließlich: Bismarck war zwar bei allen Reichstagswahlen bis 1890 nie ein »Spitzenkandidat«. Er nahm aber mit seinem Apparat stets Einfluss auf das Wahlgeschäft und die Wähler wussten sehr wohl, welche Kräfte der Kanzler favorisierte. Allerdings ging es am Wahltag nicht unmittelbar um sein Leben und Überleben im Amt. Helmut Kohl wurde 1998 abgewählt, Bismarcks Ergebnis bei der Reichstagswahl 1890 war ähnlich desaströs. Aber zunächst einmal schwächte es nur seine Stellung; hätte der Monarch ihm weiter den Rücken gestärkt, dann hätte er, wie er so gern formulierte, »weiterkämpfen« können, zumindest für einige Zeit.

Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts

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