Читать книгу Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts - Tilman Mayer - Страница 11
6. Weitere Bezugsfaktoren
ОглавлениеDer frühe Bismarck war preußisch-royalistisch gesinnt, dazu kokettierte er mit dem gleichen Wahlrecht, um die, aus seiner Sicht, Preußen mediatisierende Struktur des Deutschen Bundes plebiszitär in die Luft sprengen zu können. Österreich kam in der ungünstigeren Alternative die Rolle des entfernten Partners in einem mitteleuropäischen Kondominium zu, in der besseren wurde es aus Deutschland verdrängt. Die deutschen Mittelstaaten schließlich, darunter die profiliertesten Bayern und Sachsen, waren so etwas wie Störelemente. Sie drohten Preußen in einer Weise zu fesseln wie die Zwerge den Gulliver. Dieser gesamte Bezugsrahmen wandelte sich grundlegend schon beim deutschen Einigungsprozess im Herbst 1870. Bismarcks journalistischer Adlatus Moritz Busch zitierte ihn beim Abendgespräch nach der Einigung mit der bayerischen Delegation über den Beitritt des Landes zum Deutschen Bund, wie es damals noch hieß, am 23. November 1870: »Die Zeitungen werden nicht zufrieden sein […], der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen; er hätte es erlangt, sie hätten gemußt; und er kann recht haben – mit dem Müssen. Mir aber lag mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren – was sind Verträge, wenn man muß! –, und ich weiß, daß sie vergnügt fortgegangen sind. Ich wollte sie nicht pressen, die Situation nicht ausnutzen.«42 Die konföderale Struktur des Reiches bot Bismarck die Chance, dem nach seiner Funktionslogik unitarischen Verfassungsorgan Reichstag – denn je zentralstaatlicher das Reich werden würde, desto mächtiger musste sein Parlament werden –, so etwas wie Gegenmacht entgegenzusetzen. Es ging dabei vor allem um die Kooperation der großen Einzelstaaten Preußen, Bayern an nächster Stelle, aber auch Sachsen und Württemberg – was naturgemäß den Kleineren schmeichelte. Das ging mitunter so weit, dass Bismarck klagte, im neuen Nationalstaat sei Preußen eigentlich zu groß; insofern habe er die Annexionen von 1866 nur notgedrungen durchgeführt, um Preußen zur geostrategisch so wichtigen Landbrücke von Ostelbien ins Rheinland zu verhelfen. Diese föderale Tendenz verstärkte sich noch mit dem Ende der liberal dominierten Ära gegen Ende der siebziger Jahre, und nun kam ein weiterer, staatsrechtlich außerdeutscher Faktor hinzu: Öster reich: Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht dabei der deutsch-österreichische Zweibund vom 7. Oktober 1879. Die Frage ist, in welchen Kontext er sich eigentlich einfügt, 13 Jahre nach der Schlacht bei Königgrätz und dem österreichischen Eingeständnis, fortan kein innerdeutscher Faktor mehr zu sein. Zunächst einmal war der Zweibund eine klassische Großmächteallianz, seinem Wortlaut nach ein Defensivbündnis gegen Russland. Sein Abschluss stellte damit zunächst nichts anderes dar als eine Station in der Gesamtentwicklung der Sicherheits-, Friedens- und Bündnispolitik auf dem europäischen Kontinent nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71. Vorausgegangen waren das Dreikaiserabkommen der drei klassischen Ostmächte von 1873, die sogenannte Krieg-in-Sicht-Krise von 1875, bei der Deutschland tatsächlich oder vermeintlich einen zweiten Feldzug gegen Frankreich ins Auge gefasst hatte, und daran, tatsächlich oder vermeintlich, von Russland und Großbritannien gehindert wurde, und die zunehmenden Vorstöße des St. Petersburger Hofes, Preußen-Deutschland solle sich nun endlich für die Dienste erkenntlich zeigen, die Russland ihm bei den Kriegen von 1866 und 1870 / 71 geleistet habe, indem es der Berliner Politik den notwendigen Manövrierraum schuf.43 Das Erbe der preußischen Außenpolitik wies entschieden in die prorussische Richtung, seit sich Friedrich der Große mit Zarin Katharina 1764 verbündet hatte, ein Jahr nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges. Hier war eine Tradition entstanden, in der die preußischen Offiziere und Diplomaten über Generationen aufwuchsen. Preußen war, mit dem Höhepunkt in der Zeit der Heiligen Allianz 1815, so etwas wie die Assistenz-Großmacht Russlands in Mitteleuropa; beide sicherten sich gegenseitig, beide hatten keinerlei territoriale Ansprüche gegeneinander, und beider Dynastien, Hohenzollern und Romanows, waren eng miteinander verbunden und verwandt. Nun aber hatten sich Bezugsrahmen und Interessen gravierend gewandelt: Für das Deutsche Reich kam die Verbindung mit dem zaristischen Imperium und damit die Akzeptanz eines subalternen Status schwerlich infrage. Ließ Deutschland sich auf eine Verbindung mit Russland ein, dann lag die Kompetenzkompetenz für Konflikte in Europa in St. Petersburg, nicht in Berlin. Kam es dann zum Krieg zwischen Russland und England, dann musste Deutschland als eine Art Vasall mitgehen. Österreich-Ungarn hingegen war die unbestreitbar schwächere Macht; es würde, so durfte Bismarck kalkulieren, nicht von Deutschland Gefolgschaft erwarten, sondern auf einen erheblichen Gewinn an Sicherheit spekulieren. Und die Verbindung zu Wien werde Berlin auch keinesfalls die Feindschaft mit London einbringen, denn Österreich-Ungarn und Großbritannien waren im Grunde Partner auf dem Balkan beim Bemühen, das Vordringen Russlands in dieser Region und gegen die türkischen Meerengen einzudämmen – das war eine der Lehren des Berliner Kongresses von 1878 gewesen. Bismarck hatte also allerhand außenpolitische Gründe, für ein Bündnis mit Österreich-Ungarn zu optieren. Es gab aber noch eine zweite, innenpolitische Dimension. An Kaiser Wilhelm I., dem diese neue Kombination so heftig widerstrebte, dass er an Abdankung dachte, schrieb der Kanzler am 7. September 1879: »Schließlich gestatte ich mir, mit Bezugnahme auf die nationalen Empfindungen im gesamten Deutschen Reiche noch auf die geschichtliche Tatsache ehrfurchtsvoll hinzuweisen, daß das ›deutsche Vaterland‹ nach tausendjähriger Tradition sich auch an der Donau, in Steiermark und in Tirol noch wieder findet, in Moskau und Petersburg aber nicht. Diese Tatsache bleibt für die Haltbarkeit und für die Popularität unserer auswärtigen Beziehungen im Parlamente und im Volke von wesentlicher Bedeutung.«44 Hier gilt es nun, die einzelnen Stränge zusammenzuführen: 1879, das ist das Jahr des inneren Umbaus des Reiches, der Schaffung einer neuen Steuer- und Finanzordnung, der Distanzierung von den Liberalen und der Gewinnung von so etwas wie einer neuen Geschäftsgrundlage gegenüber dem Zentrum und mit ihm der katholischen Welt. Was konnte dabei von größerem Wert sein als das Verheilen auch der großdeutschen Wunden von 1848 / 49 und vor allem von 1866? Bismarcks ursprüngliches Konzept war es 1879, über eine reine Militärallianz hinaus, eine »organischen Union« beider Staatswesen herzustellen, durch parlamentarische Ratifikationen in besonderer Weise und vor allem öffentlichkeitswirksam legitimiert. Jenseits einer reinen Sicherheitsallianz sollten wirtschaftliche und kulturelle Kooperationen vereinbart werden – ein wenig fühlt man sich an den deutsch-französischem Vertrag vom 22. Januar 1963 und die darin enthaltenen Vereinbarungen über Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten erinnert. Kein Zweifel: Diese Kombination sollte in der Tradition der Vorstellungen von einem engeren und einem weiteren Bund in Mitteleuropa stehen, einem engeren in Gestalt des 1871 gegründeten kleindeutschen Reiches, und einem weiteren in Gestalt der Verbindung mit Österreich-Ungarn. Das war die Lösung von 1849 gewesen, die schließlich gescheitert war; mit diesem Modell war auch Bismarck noch 1866 in die agitatorische Feldschlacht bei den letzten Sitzungen des Bundestages in Frankfurt gezogen. Die so seit 1867 bestehende österreichisch-ungarische Doppelmonarchie widersetzte sich allerdings dieser Struktur unter ihrem aus Ungarn stammenden Außenminister Graf Julius Andrássy, denn in Wien und Budapest wusste man, was eine solche Teilfusion bedeuten musste: nämlich die Position der Zweitrangigkeit, vielleicht der Gefolgschaft gegenüber dem deutschen Vormund. So blieb es beim reinen Sicherheitsbündnis mit antirussischer Stoßrichtung, das überdies fürs Erste offiziell geheim gehalten wurde. Gleichwohl wusste man in den beiden Ländern und in ganz Europa sehr bald, dass hier eine neue Allianz entstanden war, und auch von ihrer kulturnational-identitären Unterfütterung, ob nun förmlich verbrieft oder nicht, war vielfach die Rede. Der preußische Staatsminister von Lucius berichtete von der Sitzung der preußischen Regierung am 28. September 1879: »Diese Allianz ist die Wiederaufrichtung des Deutschen Bundes in einer neuen, zeitgemäßen Form. Ein Bollwerk des Friedens für lange Jahre hinaus. Populär bei allen Parteien, exklusive Nihilisten und Sozialisten.«45 Und bei dieser geradezu großdeutschen Tonlage blieb es weiter. Vor der Reichstagsauflösung, mit der Bismarck 1887 in den Wahlkampf um das Septennat ging, erklärte er bei seiner großen Parlamentsrede vom 11. Januar 1887: »Unsere Aufgabe haben wir zuerst darin erkannt, die Staaten, mit denen wir Kriege geführt hatten, nach Möglichkeit zu versöhnen. Es ist uns dies vollständig gelungen mit Österreich. Die Absicht und das Bedürfnis, dahin zu gelangen, beherrschten bereits die Friedensverhandlungen in Nikolsburg im Jahre 1866, und es hat uns seitdem nie das Bestreben verlassen, die Anlehnung an Österreich wiederzugewinnen, die wir vor 1866 nur scheinbar und buchstäblich hatten, die wir jetzt in der Wirklichkeit vollständig besitzen (Bravo!). Wir stehen mit Österreich in einem so sicheren und vertrauensvollen Verhältnisse, wie es weder wie im Deutschen Bund trotz aller geschriebenen Verträge noch früher im Heiligen Römischen Reiche jemals der Fall gewesen ist (Bravo!) …«46
Bismarck mag die hier gefundene Lösung nahezu ideal angemutet haben: Im Zweibund war das Deutsche Reich unbestreitbar der stärkere Partner, es stabilisierte mit der außenpolitischen auch die innenpolitische Lage in Österreich und hier naturgemäß an erster Stelle die Position der Deutschen in den Ländern der Donaumonarchie. Das bedeutete aber zugleich, dass das Auseinanderbrechen Österreich-Ungarns möglichst vermieden werden musste, und dass man sich, solange es ging, auch gar nicht die Frage stellte, wie sich das Deutsche Reich im Falle eines Untergangs der Donaumonarchie verhalten sollte. Denn für die preußisch-deutschen Führungsschichten wäre dies naturgemäß die denkbar unerwünschteste Eventualität gewesen: Traten diese Länder auf sich gestellt dem Deutschen Reich bei, dann brachten sie ihm jede Menge Minderheitenkonflikte ein, verstärkten das katholische Element, und außenpolitisch gab es mit einem Mal keinen Bündnispartner mehr, sondern eine isolierte Position.
In einer gewissen Analogie mag man auf der innerstaatlichen Ebene die Kommunikation Bismarcks in dieser Phase mit den Süddeutschen, namentlich dem bayerischen König Ludwig II., sehen. Auch hier ging es um Kommunikation, um Vertrauensgewinn, um den Abbau innerdeutscher Barrieren. Bismarck urlaubte beziehungsweise kurte fast regelmäßig während des Sommers in Bad Kissingen, sozusagen dem nördlichsten bayerischen Vorposten, bereits nördlich der Main-Linie. Dazu stellte ihm der bayerische König stets eine Kutsche mit Pferden zur Verfügung. Das gab jedes Mal den äußeren Anlass für einen relativ intensiven Austausch von Dankschreiben mit umfangreichen politischen Darlegungen. Der bayerische Monarch sollte sich privilegiert, informiert und in die Reichspolitik einbezogen fühlen können.47 Am 4. August 1879 schreibt der Reichskanzler aus Bad Kissingen an den bayerischen König im Blick auf die parteipolitischen Entwicklungen auf Reichsebene: »Das Centrum hat zum ersten Male begonnen, sich im positivem Sinne an der Gesetzgebung des Reiches zu betheiligen. […] Die nationalliberale Partei, wird, wie ich hoffe, durch die letzte Reichstagssession ihrer Scheidung in eine monarchische und eine fortschrittliche, also republikanische Hälfte entgegengeführt werden.« Und zum Moment des Persönlichen: »Einen wesentlichen Antheil an der guten Wirkung hat die Leichtigkeit, mit welcher E.W.M. Gnade mich in den Stand setzt, die gute Luft der umgebenden Wälder zu genießen. Die ausgezeichneten Pferde des Marstalls E.W.M. machen es leicht, jeden Punkt der schönen Umgebung Kissingens zu erreichen […].«48 Fünf Wochen später ist Bismarck in Bad Gastein, der Vertragsschluss mit Österreich bahnt sich an. Aus Bad Gastein richtet er am 10. September 1879 ein bemerkenswert umfangreiches Schreiben an den bayerischen König. Es erläutert detailliert die außenpolitische Lage in der Dreiecksbeziehung zwischen Deutschland, Russland und Österreich aus seiner Sicht, und auch hier kommt die großdeutsch-mitteleuropäische Komponente wieder zum Ausdruck: »Ich würde es für eine wesentliche Garantie des Europäischen Friedens und der Sicherheit Deutschlands halten, wenn das Deutsche Reich auf eine […] Abmachung mit Österreich einginge, welche zum Zweck hätte, den Frieden mit Russland nach wie vor sorgfältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte angegriffen würde, einander beizustehen […]. Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte an einander könnte auch für niemanden etwas Herausforderndes haben, da die selbe gegenseitige Assekuranz beider in dem deutschen Bundesverhältniß von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.«49 Auch hier also der Zweibund von 1879 ganz in der Kontinuität der Beziehungsmuster von Altem Reich und Deutschem Bund. Im Folgejahr, am 1. Juni 1880, appelliert Bismarck an den bayerischen König, die monarchische Solidarität gegen die parlamentarische Linke, das heißt die ihm nicht botmäßigen Kräfte im Reichstag, zu setzen: »Wenn der Reichstag in einer starken und conservativen Mehrheit den verbündeten Regierungen gegenüber eine wohlerwogene Stellung einnimmt, so wird eine verständige Politik gewiß mit derselben rechnen wollen; wenn aber gerade die turbulenten, demokratischen und unitarischen Elemente des Reichstags unter Benutzung der Stimmvortheile, welche sie aus der principiellen Opposition des Centrums ziehn in die Rechte der Regierung mit eingreifen wollen, so darf meines Erachtens unter Letzteren die Nachgiebigkeit keine Vertretung finden.«50 Eine solche Wunschkombination hatte Bismarck deutlich später mit den Reichstagswahlen vom Februar 1887 ansatzweise erreicht: Die beiden konservativen Parteien und die nach rechts gewendeten Nationalliberalen fest in seinem Lager, das Zentrum von der nationalen Sammlungsparole des Kanzlers durchaus nicht unbeeindruckt, die Monarchen weitgehend auf seiner Seite. War doch mehr als bezeichnend gewesen, wie der De-facto-Nachfolger des am 13. Juni 1886 unter mysteriösen Umständen im Starnberger See zu Tode gekommenen Königs Ludwig II., Prinzregent Luitpold, am 9. November dieses Jahres die bayerischen Reichstagsabgeordneten in Berlin zusammengestaucht und auf Bismarck-Kurs zu bringen versucht hatte. Aber diese Phase unbestrittener innenpolitischer Hegemonie hielt nicht lange an. Am 9. März 1888 starb, über 90-jährig, Kaiser Wilhelm I. Bismarck, der ihm 27 Jahre als Regierungschef gedient hatte, verlor damit im Ergebnis doch die entscheidende Stütze seiner Macht. Zum Nachfolger, Kaiser Friedrich III., dem Monarchen für 99 Tage, hatte er stets ein problematisches, oft kritisches Verhältnis unterhalten. Umso mehr galt das für dessen Gemahlin Victoria, mit ihrer britisch-liberalen Sozialisation. Aber die hier begründeten, jahrzehntelangen Konflikte spielten nun eigentlich keine Rolle mehr. Der todkranke Kaiser Friedrich III. konnte in seiner kurzen Regentschaft keine Akzente mehr setzen. Am Ende ging es ihm um Kontinuität, und auf dem Totenbett legte er die Hände Bismarcks und seiner Frau ineinander. Schließlich ahnten wohl beide, Bismarck wie Friedrich III., dass der unfertige neue Kronprinz Wilhelm zu verlässlicher Führung des Reiches schwerlich im Stande sein werde. Der Bruch mit diesem war bald so tief, dass ein gleitender Übergang nicht möglich war. Das fruchtlose Nachspiel der Bismarck ’schen Kanzlerschaft von 1888 bis 1890 bleibt hier außer Betrachtung.