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2. Referenzrahmen Kanzlerschaften

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Das kann aber auch heißen: Das Agieren des ersten Deutschen Bundes- (1867–1871) wie des ersten deutschen Reichskanzlers (1871–1890) kann, zumindest versuchsweise, auch gedeutet und gewissermaßen getestet werden im Vergleich mit anderen Kanzlerschaften in der deutschen Geschichte. Natürlich wird man dabei die Unterschiede, nicht nur in den Ordnungs- und Verfassungssystemen, stets mit bedenken müssen, also im Blick auf die Rolle des Landes als unabhängige Großmacht oder heute als integrierte Mittelmacht, im Blick auf die Parteienverhältnisse und die Rahmenbedingungen, wie sie politische Kulturen und mediale Kommunikationen vorgeben.

Aus diesen letzteren Feststellungen ergibt sich bereits zugleich indirekt, dass für »Kanzlervergleiche« mit Bismarck kein Akteur aus der Zeit der Weimarer Republik infrage kommt. Das soll hier nicht weiter verfassungsrechtlich erörtert werden – unbestreitbar ist wohl, dass seit der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 die Regierungschefs auf nationaler Ebene konstitutiv nie in einer schwächeren Position waren als in der Zeit von 1919 bis 1933. Sie waren vom Parlament, das heißt von den Parlamentsmajoritäten, ebenso abhängig wie von der Gunst des Staatsoberhauptes, des Reichspräsidenten. Das unterscheidet sie von den Kanzlern bis 1918, die Parlamentsmajoritäten nicht stürzen konnten, ebenso wie von denen nach 1949, die nach dem Wortlaut der Verfassung im Wesentlichen nur durch das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum zum Rücktritt gezwungen werden können, also durch die Wahl eines Nachfolgers mit der Mehrheit der Abgeordneten. Die beiden wesentlichen politischen Akteure im System der Weimarer Republik, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, waren nur marginal Regierungschefs gewesen. Der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte, unter Bruch der Reichsverfassung, Ebert am 9. November 1918 mit dem Reichskanzleramt designiert; Ebert stand dann an der Spitze des sogenannten Rates der Volksbeauftragen, wurde aber am 11. Februar 1919 zum ersten Reichspräsidenten gewählt und starb in diesem Amt am 28. Februar 1925. Stresemann war im Herbst 1923 für einige Monate Kanzler an der Spitze der ersten Großen Koalition in Deutschland, über längere Zeit amtierte er aber erst im Anschluss daran als Reichsaußenminister (wie als Vorsitzender der Deutschen Volkspartei) bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929.9 Nach alledem scheint es angeraten, Bismarck als Kanzler sozusagen in ein Quartett von bisher vier deutschen Kanzlern einzureihen; dazu gehören Bernhard von Bülow, amtierend von 1900 bis 1909, Konrad Adenauer, amtierend von 1949 bis 1963, Helmut Kohl, amtierend von 1982 bis 1998.10 Natürlich erhebt sich zwischen den beiden kaiserzeitlichen und den beiden bundesdeutschen Kanzlern so etwas wie eine prinzipielle Schranke oder Barriere. Beide Gruppen, Bismarck und Bülow hier, Adenauer und Kohl da, agierten unter deutlich verschiedenen konstitutiven Voraussetzungen, einmal in der Monarchie mit Anbindung an den deutschen Kaiser und preußischen König in Personalunion, im anderen Falle in einer parlamentarischen Demokratie, mit konstitutiv schwachem Staatsoberhaupt, verglichen mit den Verhältnissen bis zum Ende der Weimarer Republik, und zugleich im formalen Amt des Parteiführers, das es so für die Kanzler des Kaiserreiches nicht gegeben hatte: Adenauer wurde Vorsitzender für den CDU-Bereich der alten Bundesrepublik auf dem Parteitag in Goslar von 1950 und blieb es bis weit in die Kanzlerschaft seines Nachfolgers Ludwig Erhard hinein. Helmut Kohl war schon neun Jahre CDU-Parteivorsitzender, als er 1982 Bundeskanzler wurde, und er behielt den Parteivorsitz bis zum Ende seiner Kanzlerschaft als eine zentrale Machtressource inne – am 27. Oktober 1998 wurde Gerhard Schröder zum Nachfolger Helmut Kohls als Bundeskanzler gewählt, 11 Tage später, auf dem CDU-Parteitag vom 7. November 1998, wurde Wolfgang Schäuble zum, wie man heute wohl sagen kann, mäßig geschätzten Nachfolger Kohls im Amt des CDU-Vorsitzenden.

Geradezu klassisch hat Karlheinz Niclauß für die (west-)deutsche Kanzlerdemokratie sechs Bestimmungsfaktoren entwickelt: Dominanz des Kanzlerprinzips über das Ressort- und das Kabinettsprinzip, Kanzlerbonus im Regierungslager und beim Gros der Wähler, Personalisierung der Auseinandersetzung zwischen Amtsinhaber und oppositionellem Kanzlerkandidaten, enge Verbindung zwischen dem Amt des Kanzlers und der Führung der größten Regierungspartei, deutliche Abgrenzung zwischen regierungstragendem und regierungsbekämpfendem Lager und Profilierung durch die Außenpolitik.11 Es wird hier jeweils zumindest kursorisch zu prüfen sein, welche Elemente aus diesem Set auch auf die Spezifik der Regierungsführungen Bismarcks (und Bülows) gegebenenfalls Anwendung finden können. Um hier mit dem Thema Behauptung im Amt unter demokratischen Bedingungen abzuschließen – auch dabei wird dann die Frage der Anwendbarkeit auf wesentlich vordemokratische Zeiten von Interesse sein: Karl-Rudolf Korte, mit der beste Kenner der Kanzlerschaft Helmut Kohls, geht für bundesdeutsche Normalkanzlerschaften von einer Dauer von acht Jahren aus. Er sieht gegen Ende dieses Zeitraumes den Reiz des Neuen ebenso erschöpft wie Verschleißfaktoren allmählich überhand nehmend. Und als »Vorboten des Machtwechsels« benennt er: »1. Machterosionen: Fehlende Unterstützung; 2. Steuerungsverluste: Endloser Politikstau; 3. Kommunikationsdefizit: Anhaltendes Meinungstief; 4. Realitätseinbußen: Die Stufen der Vereinsamung.«12 Die achtjährige »Normaldauer« erscheint für die Geschichte der Bundesrepublik, vor wie nach der Wiedervereinigung von 1990, überraschend oft zu gelten, zumal dann, wenn man es mathematisch nicht gar zu akkurat nimmt: Bei Adenauer war gewissermaßen der obere Wendepunkt mit dem Triumph bei der dritten Bundestagswahl von 1957 und dem bisher erstmaligen Gewinn der absoluten Mehrheit durch eine Parteienformation erreicht. Der Niedergang setzte mit der »Präsidentschaftskrise« von 1959 ein, dem Hin und Her um die Nachfolge des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, in dem Adenauer, zeitweilig selbst Kandidat für das Amt des Staatsoberhauptes, eine denkbar unglückliche Figur abgab. Im Falle Helmut Schmidts waren es circa achteinhalb Jahre, vom Frühjahr 1974 bis zum Herbst 1982, am Ende ausgelaugt durch die Kontroversen um Haushaltskonsolidierung und NATO-Doppelbeschluss. Bei Helmut Kohl wären es – ohne die historische Zäsur der deutschen Wiedervereinigung von 1989 / 90 – aller Voraussicht nach auch acht Jahre geblieben, bis zu einer wahrscheinlichen Wahlniederlage bei einer Bundestagswahl vom Anfang 1991; stattdessen avancierte Kohl zum Kanzler der Einheit und absolvierte eine zweite Achtjahressequenz, von 1990 bis 1998. Im Falle von Gerhard Schröder waren es sieben Jahre, von 1998 bis 2005; Angela Merkel ist drauf und dran, die Achtjahresregel deutlich zu übertreffen, wenn auch in jeweils sehr verschiedenen Konstellationen: Sie amtiert derzeit, seit Ende 2013, in einer für sie zweiten großen Koalition, dazwischen hatte es, von 2009 bis 2013, das Bündnis von Unionsparteien und FDP gegeben. Hier liegt aber ein gravierender Unterschied zu den beiden Urgestalten der Unionsparteien: Adenauer hatte zwar am Ende, seit 1961, mit einer großen Koalition geliebäugelt, de facto aber durchgängig mit kleinen Koalitionen regiert, bei denen die FDP bis zum Ausein anderleben Mitte der 50er-Jahre der wesentliche bürgerliche Partner gewesen war – und 1961 wurde sie es wieder.13 Für Kohl war die FDP durchgängig der gegebene Koalitionspartner.

Blicken wir nun zurück ins Kaiserreich: Auch hier gab es, analog zu Ludwig Erhard (1963–1966) und Kurt Georg Kiesinger (1966–1969), kürzere Kanzlerschaften, bei denen die Inhaber sich schon nach wenigen Jahren verschlissen, wie im Falle Leo von Caprivis, im Amt von 1890 bis 1894, im Falle des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, in den folgenden Jahren bis zur Jahrhundertwende; neben Bülow und seiner Kanzlerschaft von 1900 bis 1909 steht die Kanzlerschaft seines Nachfolgers Theobald von Bethmann Hollweg – die ebenfalls in ein Zeitraster von acht Jahren passt, über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 hinweg, von 1909 bis 1917. Die folgenden kurzzeitigen Kriegskanzler Graf von Hertling, Georg Michaelis und Max von Baden können hier außer Betracht bleiben. Auch bei Bismarck selbst ergibt die Achtjahresformel, zugegeben extensiv interpretiert, durchaus Sinn: Gut acht Jahre waren es von seiner Bestallung als preußischer Ministerpräsident im September 1862 bis zum Aufstieg in das Amt des deutschen Reichskanzlers 1871. Und ähnlich wie man für Helmut Kohl postuliert hat, bei normalem Fortgang der Dinge wäre seine Kanzlerschaft 1990 / 91 an ihr Ende gelangt, lässt sich für den preußischen Ministerpräsidenten (und seit 1867 Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes) Otto von Bismarck feststellen, dass die letzte Phase vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 für ihn eher perspektivlos verlief: Die Wahlen zum Zollparlament, durch das der nach dem innerdeutschen Krieg von 1866 wiederhergestellte Deutsche Zollverein einen parlamentarischen Unterbau erhielt, waren in den süddeutschen Ländern 1868 durchaus antipreußisch ausgefallen. In Bayern hatte die klerikal-partikularistische »Patriotenpartei« obsiegt.14 (Für die Länder nördlich der Main-Linie waren die Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages in Personalunion zugleich Mitglieder des Zollparlaments.) Nachdem wie ein deus ex machina der deutsch-französische Krieg von 1870 / 71 für hinreichende nationale Integration gesorgt und die Möglichkeit zur Nationalstaatsgründung eröffnet hatte, amtierte Bismarck, ähnlich wie Kohl ab 1990, frisch bestärkt und neu legitimiert, über die siebziger Jahre im Zeichen einer liberalen Politik der inneren Einigung in Wirtschaft und Gesellschaft. Für Letzere stand geradezu symbolhaft der Kulturkampf mit der katholischen Kirche. Das nächste Jahrzehnt wiederum, ab etwa 1878 / 79, stand im Zeichen einer konservativ-patriarchalischen Sammlungspolitik: Das liberale Element bis einschließlich des von Eduard Lasker geführten linken Flügels der Nationalliberalen wurde zurückgedrängt. Das Sozialistengesetz vom 21. Oktober 1878 stand nicht nur für die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, sondern insbesondere für das Leitbild von einem starken monarchischen Staat; es richtete sich mit seinen Mustern von Integration und Ausgrenzung de facto nicht zuletzt gegen die politischen Ambitionen des Liberalismus.

Schließlich das Ende der Kanzlerschaften Bismarcks wie Bülows: Beide schienen jeweils, Bismarck seit dem Tode Kaiser Wilhelms I. 1888, Bülow seit dem Desaster um das Daily-Telegraph-Interview Kaiser Wilhelms II. 1908, ihrer realen Machtgrundlagen beraubt. Zunächst Bismarck: Bei den »Septennatswahlen« zum Reichstag 1887 hatte er seinen letzten Wahltriumph mit der Parole nationaler Sicherheit durch Aufrüstung errungen und konnte sich nunmehr auf ein festgefügtes Kartell aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und nach rechts gewendeten Nationalliberalen stützen. Nun aber zerbrach sehr schnell seine Machtbasis: Erfolgreich intrigierte gegen ihn Graf Waldersee, der Nachfolger des Grafen Moltke im militärischen Spitzenamt des Generalstabschefs. Die Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 zertrümmerten Bismarcks Kartell von 1887. Sie reduzierten die Zahl seiner Parlamentssitze von 220 auf 135. Damit war auch jede Verlängerung des Sozialistengesetzes ausgeschlossen. Bismarck neigte am Ende zu Staatsstreichüberlegungen. Der junge Kaiser Wilhelm II. hingegen wollte seine Regierung nicht mit der Gefahr des Bürgerkrieges beginnen und präferierte große sozialpolitische Konzessionen, die der Kanzler wiederum vehement ablehnte. Und naturgemäß wollte der Kaiser auch nicht, dass sich mit den Bismarcks – Herbert von Bismarck amtierte als Staatssekretär im Auswärtigen Amt – eine Art Zweitdynastie installierte, die die Hohenzollern ins Abseits drängte. Jenseits aller Emotionen und jenseits der insbesondere nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg so oft ventilierten Frage, ob die Bismarcks in einer weiter geführten Verantwortung für die deutsche Außenpolitik die Konstellation des Jahres 1914 hätten verhindern können, bleibt die schlichte sachliche Erkenntnis, dass der Konflikt und das Ausscheiden des Kanzlers am Ende wohl unvermeidbar waren.

In gewisser Analogie das Ende der Kanzlerschaft Bernhard von Bülows 1909: Hier kurz vor dem Ende ein triumphal anmutender Wahlsieg, die Reichstagswahlen des Jahres 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen: Bülow hatte sie geschickt gegen den linken Zentrumsflügel unter dem aufstrebenden württembergischen Abgeordneten Matthias Erzberger instrumentalisiert, der die Kolonialpolitik des Reiches, Verschwendung wie Grausamkeiten, heftig und gut munitioniert angegriffen hatte. Das daraufhin zustande gekommene Bülow-Kartell umspannte den ganzen parteipolitischen Bogen von den Deutschkonservativen bis zur linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei. Bei Kaiser wie Bürgertum machte Bülow vor allem dadurch Punkte, dass ihm nahezu die Halbierung der sozialdemokratischen Mandatszahl von bislang 81 auf nun nunmehr 43 gelang, allerdings nicht mittels Stimmenrückgängen, sondern mittels Isolierung der SPD beim zweiten Wahlgang (»Stichwahl«) am 5. Februar 1907 in den Wahlkreisen, in denen beim ersten Wahlgang kein Kandidat mindestens die Hälfte der Stimmen erreicht hatte. Aber bis zum Ende war es nurmehr eine kurze Frist.

Der Kaiser, der sich durch waghalsige Aussagen im Interview mit der britischen Zeitung Daily Telegraph 1908 entblößt hatte, sah sich durch seinen Kanzler nicht gedeckt, sondern förmlich verraten. Bülow, dessen Regierungsapparat die redaktionelle Verantwortung trug, ließ den Kaiser im Regen stehen. Am 24. Juni 1909 zerbrach dann der Bülow-Block bei der innenpolitisch entscheidenden Abstimmung über eine große Finanzreform.15 Die insbesondere zur Finanzierung der stetig wachsenden Militärausgaben, zumal für die Flotte, dringend erforderliche Reichsfinanzreform war vor allem daran gescheitert, dass die (preußischen) Konservativen Besitzsteuern auf Reichsebene nach wie vor ablehnten.

Wer Kanzlerschaften bis 1918 mit Kanzlerschaften seit 1949 vergleicht, wird vermutlich an erster Stelle an die zentralen konstitutiven Unterschiede denken, einmal an ein Amtieren in monarchischen Zeiten und zugleich ohne Sorge, vom Parlament gestürzt werden zu können, zwar in Bündnis wie in Absprache mit Parteien, aber ohne an deren Spitze zu stehen, und zum anderen ein Regieren im parlamentarischen System, in einer Parteien- und Mediendemokratie, dazu unter den Bedingungen einer stetig fortentwickelten europäischen Integration. Sie lassen das Bild souveräner Großmachtpolitik wie aus einer sehr fernen Vergangenheit anmuten. Ein weiterer Faktor aber wird bei all diesen zutreffenden Überlegungen gern übersehen, nämlich die politische Doppelexistenz Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident (zudem noch preußischer Außenminister). Man stelle sich dazu nur einmal vergleichend vor, die gegenwärtige Bundeskanzlerin führe zugleich die Regierung im Lande Nordrhein-Westfalen, das im Bundesstaat eine im Vergleich zu seiner tatsächlichen sehr viel gewichtigere Rolle spielt. Bismarck begann als preußischer Ministerpräsident auf der Grundlage der Verfassung des Landes von 1850, nachdem er auf dem Höhepunkt des Konfliktes zwischen Landtag und Monarch um die Heeresreform bei seiner berühmten Begegnung mit König Wilhelm I. im Schlosspark von Babelsberg am 22. September 1862 seine künftige Stellung so definiert hatte: »Ich fühle wie ein kurbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherren in Gefahr sieht. Was ich vermag, steht Euer Majestät zur Verfügung.«16 Die Personalunion beider Ämter seit 1867 (Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes) beziehungsweise 1871 (Reichskanzler) war im Kaiserreich dann die Regel, nur zweimal wurde von ihr abgewichen: Von Januar bis November 1873 gab Bismarck das Amt des preußischen Regierungschefs an den ihm befreundeten Kriegsminister Albrecht von Roon ab – und er hat in der Folge immer wieder diese Konstruktion als wenig glücklich bezeichnet. Sein Nachfolger Leo von Caprivi musste schließlich in den letzten beiden Jahren seiner Kanzlerschaft, von 1892 bis 1894, in Preußen den hochkonservativen Grafen Botho zu Eulenburg als Ministerpräsident amtieren lassen, ein politisch antagonistisches Verhältnis, das nicht lange gut gehen konnte. Die preußische Verfassung von 1850 kannte an sich gar keinen Ministerpräsidenten, er war de facto nur ein »primus inter pares innerhalb des kollegial verfassten Kabinetts«.17 Eine förmliche Richtlinienkompetenz gab es nicht, vielmehr eher eine politisch bedingte. Und erst durch die be rühmte Kabinettsordre vom 8. September 1852 wurde sichergestellt, dass die Ministerpräsidenten die Politik der Ressortinhaber wirksam zu koordinieren vermochten und an der Kommunikation zwischen einzelnen Ministern und Monarchen beteiligt werden mussten. Bismarck war gleichwohl von Anfang an Chef im preußischen Staatsministerium beziehungsweise in der preußischen Regierung. Das hatte drei Gründe:

Er war der letzte Joker, den Militärs und Konservative im Verfassungskonflikt zwischen Monarch und Landtag über die preußische Heeresreform im Ärmel hatten, und er wusste das natürlich. Ansonsten gab es nur die Alternativen Nachgeben, Abdankung des Königs und Übergang zu einem parlamentarischen Regieren oder offener Staatsstreich – und beides war unbedingt zu vermeiden. Zweitens war Bismarck, der ja als Verwaltungsbeamter im unmittelbaren Sinne gescheitert war – als Referendar hatte er vor dem zweiten Staatsexamen und angesichts der Mühsal des üblichen Staatsbetriebes kapituliert –, zugleich ein homo politicus par excellence. Und drittens war er Spezialist in allen Fragen der Außenpolitik, bezogen auf Preußens Rolle im Deutschen Bund wie in den europäischen Großmächtebeziehungen. Dazu hatte er eine elfjährige Lehrzeit verbracht, von 1851 bis 1859 als preußischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt am Main, dann bis 1862 als Botschafter in Sankt Petersburg und zuletzt noch für kurze Zeit in diesem Jahr als Botschafter in Paris. Kein Zweifel: Von Anfang an stand mit ihm die Person im Zentrum, nicht der Amtsträger.

Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts

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