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ОглавлениеDie Museumsleitung weiß natürlich, dass Leo Zwirn nicht auf eigenen Wunsch aus Peking nach Xi’an gekommen ist. Genauso wenig, wie er damals freiwillig von Leningrad nach Peking wechselte. Sein Aufenthalt in Peking wurde, so steht es in den Akten, durch »delikate Umstände« in seiner Heimatstadt erzwungen. Über diese »Umstände« verbreitet er selbst gern Versionen und Erklärungen, die allerdings nur in Bruchstücken mit den Einträgen seiner Personalakte übereinstimmen:
»Die Bezeichnung ›Filou‹ in Bezug auf meine Person ist ein Schimpfwort, das noch aus dem Sprachschatz der bürgerlichen Reaktion stammt. Mein Lebenswandel stand stets in Einklang mit den hohen Normen der partnerschaftlichen Gleichberechtigung im Sozialismus.«
Oder:
»Es handelt sich um ein bösartiges und rein formalistisches Anschwärzen meiner Person, wenn Genosse W. behauptet, ich hätte das Restaurieren von Erzeugnissen der Sowjetkunst dazu benutzt, neue Werke für den Export in den internationalen Handel zu befördern, und dafür ›schwarze‹ Devisen verlangt und bekommen.«
Aber da nicht nur im Fall des Leo Zwirn sorgfältig geführte Aktenprotokolle aus der UdSSR und der Volksrepublik China über Schicksale wie das des Neuankömmlings bestimmen, hatte er keine andere Wahl, als sich an diesem 7. März 1960 in Xi’an einzufinden. Personalakten, ganz gleich, ob sie in Leningrad oder in Peking lagern, sind kaum einnehmbare Festungen. Ganz besonders schwer haben es die Figuren, von denen die Dokumente handeln, in diese Festungen vorzudringen. In Zwirns lederner Aktentasche befinden sich die Kopien von mehreren Dutzend Schreiben, die er teils direkt für die zuständigen Behörden verfasst, teils an Verwandte oder gute Freunde geschickt hat, von denen er hofft, sie könnten sich dort für ihn verwenden.
»Ich verwehre mich strikt gegen den Vorwurf«, heißt es in einem dieser Briefe, »ich hätte mich in der Affäre der gefälschten und ins kapitalistische Ausland verkauften Gemälde von Kasimir Malewitsch persönlich bereichert und damit als Feind und Schmarotzer der werktätigen Künstler betätigt. Der Zustand der Leinwände ließ keine Restaurierung zu und verlangte nach Neuschöpfungen der Originale. Dass diese mehrfach erstellt werden mussten, lag und liegt in der Natur der Sache. Über den weiteren Verbleib beziehungsweise Nicht-Verbleib der Objekte im Magazin unseres Museums war und ist mir nichts bekannt.«
»Nein«, beginnt ein anderer Brief, »ich weise mit allem Nachdruck die Behauptung zurück, die Tochter des stellvertretenden Kultursekretärs der Stadtverwaltung sowie die Enkelin des Generalstaatsanwalts und deren Halbschwester geschwängert zu haben. Mir sind die Genossinnen zwar vom Augenschein her bekannt, doch nur in einem streng beruflichen Zusammenhang, weil sie an meinen Zeichenkursen teilnahmen.«
Weitere Schreiben leugnen seine Teilnahme an einer spiritistischen Séance im Refektorium des Alexander-Newski-Klosters, für die er sich als Nonne verkleidet habe, und den Diebstahl eines Fahrrads in angetrunkenem Zustand.
Von seiner Personalakte in Leningrad kennt Zwirn allerdings nur jene Passagen, die ihm sein jüngerer Vetter Sascha vor anderthalb Jahren hinter der Kantine des Russischen Museums im akustischen Schutz einer lärmenden Kapelle anvertraut hat: »Immer wieder werden von Zeugen Einfallsreichtum und technisches Geschick des Leo Zwirn positiv hervorgehoben. Dazu dessen hohe Merkfähigkeit von Details und schnelles Erfassen verborgener Zusammenhänge und die erforderliche Entschlossenheit, darauf strategisch zu reagieren. Sein Lehrer, Akademiemitglied Woroschilow, hat ihn im Kollegenkreis einmal nach zwei Figuren eines Romans von Dostojewski als die gefährliche Mischung aus einem Großinquisitor und Jesus bezeichnet. Nach Einzelheiten befragt, gab Woroschilow zu Protokoll, Zwirn habe sich gleichzeitig das Vermögen attestiert, Wunder zu vollbringen und diese aus der Welt zu schaffen. Der Zeuge war bei dieser Befragung allerdings schwer alkoholisiert.«
Zu den Vorwürfen, die gegen ihn in Peking erhoben wurden, kann Zwirn sich nicht äußern, weil ihm diese noch gar nicht mitgeteilt wurden. In der sowjetischen Botschaft der chinesischen Hauptstadt hatte er nur eine Person, der er glaubte, vertrauen zu können. Das war Rita, die Stellvertreterin des Kulturattachés, die ihm ein paar Mal für seine Zeichnungen als Modell zur Verfügung stand. Ritas Ehemann arbeitete übrigens in der Konsularabteilung und unterhielt enge Beziehungen zu den chinesischen Kollegen in deren Ausländerbehörde, die auch für den Fall Leo Zwirn zuständig war. Doch gerade zu diesem Zeitpunkt stürmten die politischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik und der UdSSR auf einen gefährlichen Höhepunkt zu, um nicht zu sagen auf einen vorläufig endgültigen Bruch.
»Die werden uns Russen hier bald alle rauswerfen, Ritotschka«, ruft Ritas Mann eines Abends durch die Wohnung im Botschaftsgebäude. Er sortiert gerade Aktenbestände und trennt das Dienstliche vom Privaten. Der Name »Ritotschka« ist eine Koseform, die er nur ganz selten anwendet, doch heute bewegt ihn ein unbestimmbarer Hauch von Abschied. Seine Frau bereitet sich gerade in ihrem Schlafzimmer auf den Auftritt eines Eisenbahnerchors von Gewerkschaftern aus Kiew vor und sucht in einer Schatulle nach einem Schmuckstück, das weitläufig mit Musik oder mit Eisenbahnen, am besten mit beiden, zu tun hat. Sie hält eine Brosche an das Revers ihres Kostüms und antwortet nur: »Gut, gut, mein Täubchen, mach nur weiter, aber reg dich nicht auf, das wird sich alles klären, wir sehen uns später, ich freue mich schon.«
Später am Abend erkennt Rita, dass diese schlichte, vielleicht ein wenig nervös dahingesprochene Aufforderung »mach nur weiter« ein verhängnisvoller Fehler war. Ihr Gatte, Alexej Anatolowitsch, findet bei diesem von Rita ermutigten Akt des Weitermachens eine Reihe von Aktzeichnungen, teils in Kohle, teils in Tinte gefertigt, in denen er unschwer seine Gemahlin wiedererkennt. Den Künstler dieser Darstellungen zu identifizieren fällt Alexej Anatolowitsch ebenfalls nicht schwer.
In der Unterhaltung der Eheleute nach der Rückkehr der Gemahlin vom Konzert des Chors der Eisenbahner aus Kiew geht es, man darf das vermuten, heftig zu. Naturgemäß wird das Argument der künstlerischen Freiheit gegen jenes der ehelichen Treue ausgespielt. Andere Vorfälle werden in Erinnerung gerufen, die ebenfalls unterschiedliche Deutungen des angemessenen Verhaltens der einen oder der anderen Seite zur Disposition gestellt haben. Der russischen Literatur ist hier für viele Vorlagen zu danken. Nein, es kommt nicht zu opernhaft spektakulären Höhepunkten zwischen Rita und Alexej. Es fließt kein Blut, Hämatome werden nach innen getragen.
Dennoch wird der Liebesvorrat des Ehepaars an diesem Abend nicht weniger ausgeplündert als die vielbeschworene »Unzertrennlichkeit« in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der Volksrepublik China infrage gestellt.
Eines, gewiss nicht das unwichtigste Opfer, ist Leo Zwirn. Konkreter gesagt: dessen Personalakte in der Verwahrung des Amtes für Öffentliche Sicherheit in Peking. Rita hatte sie, um ihn schützen zu können, angefordert – und auch ausgehändigt bekommen. Nach dem Streit mit dem Gemahl verschwindet das Dokument zusammen mit den Aktzeichnungen. Die Vernichtung von Akten und anderen Asservaten gehört schließlich zur Routinearbeit diplomatischer Vertretungen.