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Frau Wang hat auf der letzten Sitzung der Museumsleitung angeboten, Zwirn im Chinesischen zu unterrichten. Diese Aufgabe ist zurzeit nicht so leicht, wie von der Konservatorin gedacht. Die Sowjetunion hat mit großen Gesten ihre »freundschaftlichen Beziehungen« zu China abgebrochen. Ein erstes Opfer dieses radikalen Schnitts ist auf chinesischer Seite der Zugang zu russisch-chinesischen Textbüchern, Grammatiken, Fibeln mit Beispielsätzen und vielen anderen pädagogischen Hilfsmitteln. Das ist bitter. Es kommt aber noch schlimmer, nämlich durch die Anordnung, alle sich bereits im Verkehr befindlichen Materialien unverzüglich an die zuständige Zentralstelle zurückzusenden.

»Geschichte ist eine Herausforderung, der wir uns jederzeit gewachsen zeigen«, ruft Kommissar Wu, als er den Mitarbeitern die neue Direktive vorträgt. »Die zuständige Zentralstelle befindet sich vorerst in meinem Büro.«

Es zeigt sich allerdings auch auf diesem Gebiet, dass staatliche Ordnungsmaßnahmen oft nur sehr grobmaschig wirken. Das Löschen von Vergangenheit, selbst wenn es zunächst ausschließlich um den Ausdruck von Gefühlen geht, trifft häufig auf verstockte Herzen in der Bevölkerung. Wer zehn Jahre lang, wenn auch nicht immer aus eigenem Antrieb, Freundschaft gepflegt hat, offiziell oder privat, muss schließlich auf die Wahrung seines Gesichtes bedacht sein.

»An Stalin wird man doch noch festhalten dürfen«, hört man selbst im Büro des Parteisekretärs.

»Und was ist mit den anderen Russen, etwa mit Marx und Engels«, fragt der Kader, der seit jeher für politische Schulung zuständig ist, »sollen deren Bilder jetzt auch abgehängt werden?«

Zudem dürfen die praktischen Folgen dieser Maßnahme nicht unbeachtet bleiben: Lehrbücher, gerade solche mit technischen Ausdrücken, enthalten oft Hinweise, die für den Umgang mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs unverzichtbar sind. Für das Reparieren einer Pumpe sowjetischer Herkunft etwa. Oder eines Mikroskops, wie es für Archäologen unerlässlich ist. Vielleicht auch für die Instandsetzung einer Klimaanlage. Emotionale und praktische Momente greifen in diesem Fall wie Zahnräder ineinander.

Ökonomisch betrachtet sind staatliche Sanktionen bekanntlich ein zuverlässiger Anreiz für eine üppige Blüte des Schwarzmarkts und der Imitationen. Die Stadt Xi’an macht da keine Ausnahme. Bald vertreibt der kleine Laden hinter dem Bahnhof nicht nur Wodka und Kaviar. Auf ein bestimmtes Stichwort können die Kunden hier auch Lehrbücher der russischen Sprache und darüber hinaus freizügige Liebesromane erwerben, auf deren Titelseite unter einer galanten Graphik nie der Hinweis fehlt: »Eine kleine russische Erzählung«. Die Autoren dieser Werke arbeiten übrigens in einem Kollektiv, das sich jeden Samstag im Teehaus, nach zwei Runden Schnaps, eine neue Registriernummer ausdenkt, wie sie für die staatliche Zulassung von Publikationen zwingend erforderlich ist.

Frau Wang weiß von dieser Quelle für alle möglichen Formen von Literatur, benutzt sie aber nicht, denn sie fürchtet, dass auch Kommissar Wu über persönliche Beziehungen zu diesem Laden verfügt. Als materielle und als Informationsquelle. Sie beginnt also ihren Sprachunterricht mit der Übersetzung von Losungen, die überall in der Stadt auf Mauern oder Plakaten zu lesen sind: »Wir unterstützen unsere Bauern beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten!« Zwirn muss die Losung wiederholen und dann in den Satz umwandeln: »Ich unterstütze unsere Bauern beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten!«

Der nächste Satz wandelt das Thema nur geringfügig ab und führt in die etwas schwierigere Frageform: »Kann ich, oder kann ich nicht, dir beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten helfen?«

Der Gast aus Leningrad zeigt sich als aufmerksamer Schüler. Sein Unterricht findet an vier Tagen der Woche statt, pünktlich nach Dienstschluss, im Untergeschoss des Museums. Zwirn, dessen Nase so ausgeprägt wie empfindsam ist, vermeint hier den Duft von Nelken und Kampfer, gleichzeitig von Sandelholz, Zimt und Vanille zu verspüren, bisweilen auch den Anflug von etwas Harzigem, auf das sich seine Nase vorerst noch keinen rechten Reim machen kann.

»Wir Kommunisten tragen nur das Banner des Sozialismus, denn es bietet unserem Körper Schutz und Hilfe!«, lautet die nächste Losung, die Frau Wang ins Sprachspiel bringt. Sie zitiert dabei einen Aufruf, der auf den vier Wandtafeln an der Kreuzung vor dem Museum prangt. In ihrer Stimme klingt leises Bedauern mit, als schäme sie sich insgeheim über das Schlichte, vielleicht sogar Doppeldeutige der Botschaft.

Zwirn spürt ihren inneren Widerstand und befolgt mit einer neuen Variante die Aufforderung, diese Vorgabe in das bekannte Frage- und Antwortspiel umzusetzen. Bei seinem letzten Besuch im Laden hinter dem Bahnhof hat er sich nicht nur mit Wodka und Kaviar versorgt, in seiner Aktentasche landeten auch zwei druckfrische Kopien der populären »Einführung in russisch-chinesische Konversation, Teil I und Teil II«, besorgt von der Abteilung für Fremdsprachen der Sowjetischen Akademie der Geisteswissenschaften. Nach kurzem Nachdenken sagt Zwirn also:

»Wir Kommunisten tragen große Sorge um den Körper und dessen Bedeckung mit Bannern. Wir lieben schöne Körper und schöne Banner.«

Frau Wang nickt überrascht, doch es ist ein aufmunternd skeptisches Nicken mit der freundlichen Aufforderung um eine genauere Bestimmung dieser Aussage. Sie neigt den Kopf leicht zur Seite, so als lauschte sie einer fremden, doch keineswegs irritierenden Melodie.

»Beim Einbringen der Rekordernte der Fünf Getreidesorten im Herbst werde ich besonderes Gewicht auf die Bekleidung deines Körpers mit Bannern legen«, schlägt Zwirn als sprachliche Verbesserung vor.

Das geht jetzt zu schnell, merkt der Russe, schon bevor er zu Ende gesprochen hat. So tändelt man nur mit Zufallsbekanntschaften beim Eislaufen über zugefrorenen Kanälen in Leningrad. Gleichzeitig nimmt er wahr, dass seine Lehrerin am obersten Knopf ihrer schwarzblauen Uniform nestelt.

»Das Banner des Sozialismus schützt die Proletarier weltweit vor dem Begehren der bürgerlichen Klasse, sie sich unterwürfig zu machen«, versucht er es erneut.

»Nein, es geht nicht in erster Linie um Bekleidungsmaterialien, es geht um das Banner des Sozialismus«, korrigiert ihn Frau Wang, ihre zuvor sanfte Stimme jetzt wieder stärker dem Gebaren einer Lehrerin anpassend. Doch wäre das Licht hier im Untergeschoss des Museums nur um ein Weniges heller, hätte man auf ihren Wangen ein zartes Rosa entdecken können. Ein schüchterner Farbton, vielleicht wie die Innenfläche des Blattes eines gerade erblühten Lotus.

»Die Bekleidung des Körpers ist ein entscheidendes Element für den Triumph des Sozialismus weltweit!«, versucht es Leo Zwirn jetzt zum dritten Mal und wirft Frau Wang einen Blick zu, in dem sich die Bereitschaft zu lernen unzweideutig mit einer Lust auf Eroberung mischt.

Wie gesagt, die Beleuchtung im kleinen Arbeitsatelier ist um diese Zeit aus Kostengründen eingeschränkt, umso deutlicher nimmt Zwirn Gerüche auf. Der Zusammenhang ist naturgemäß völlig eingebildet, doch seitdem Frau Wang den Knopf ihrer Uniformjacke geöffnet hat, strömt der so schwache wie lockende Geruch von Zimt und Vanille allein aus dem Oberteil der Uniform seiner Lehrerin. Behauptet jedenfalls die Nase von Leo Zwirn.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Frau Wang, »welche politischen Losungen, welche Plakate sind dir seit deiner Ankunft in den Straßen unserer Stadt noch aufgefallen?«

Im Nachbarraum klingelt das Diensttelefon, Frau Wang erhebt sich und schreitet zum Apparat.

Zwirn lehnt sich zurück und lässt verschiedene Straßenszenen durch die Erinnerung ziehen. Manche Bilder sind grau, andere bereits verschwommen oder nur noch in kleinen Details erhalten: der Straßenmusiker vor dem Kino etwa, der auf seiner zweisaitigen Kniegeige schräg, aber erkennbar eine Melodie aus der Oper »Pique Dame« spielt, die Obstverkäuferin, die für ihre Kunden ein Schälmesser bereithält, das mit einer langen Kette an der Ladenkasse hängt, die beiden jungen Mädchen, die mit ihren Füßen einen Ball in der Luft tanzen lassen, in dem eine schmutzige Feder steckt.

Aber eine politische Losung? Doch, jetzt erinnert sich Zwirn an ein Plakat zur Geburtenpolitik, das ihm an der Wand rechts neben dem Obstladen aufgefallen ist. Es zeigt zwei überaus gut genährte Babys, gekleidet jeweils in ein prachtvolles blaues und ein strahlend rotes Gewand, ihre Köpfe sind geschoren bis auf eine pechschwarze Glückslocke, die wie ein kleiner Rüssel vom prallen Hinterkopf in den Himmel weist.

Zwirn hat das Bild fasziniert, einmal, weil es künstlerisch so platt und eindeutig ist und keinem konventionellen Gebot der Ästhetik folgt, zum anderen, weil es ihn an einen seiner künstlerischen Helden erinnert, nämlich an die Arbeiten des New Yorker Malers Jasper Johns. Die fünf, sehr opulent in Gold glänzenden und in Halbrelief ausgestalteten Schriftzeichen unter dem Bild der Babys hatte Zwirn sich in sein Notizbuch kopiert und noch am selben Abend dort auch die Übersetzung »Viel Zeugen ist eine gute Sache!« eingetragen.

›Der Spruch ist, recht besehen, genauso befriedigend und überzeugend wie das Bild des Amerikaners‹, dachte Zwirn und fügte diesen Gedanken seiner Flaschenpost nach Leningrad hinzu. Diesmal wieder in einem Brief an seinen Vetter Sascha, der ihn als Erster auf die Arbeiten des Amerikaners und ihre Bedeutung als Ikone der modernen Kunst aufmerksam gemacht hat.

»Also, welche Losung ist dir aufgefallen?« Frau Wang schaut ihren Schützling weiterhin mit freundlich aufgeschlossener Erwartung an. ›Ihre Stimme‹, denkt Zwirn, ›hat jetzt wieder die Anmutung von warmem Lehm auf einer Töpferschale, der eine tänzerische Gestalt annimmt.‹

»Viel Zeugen ist eine gute Sache«, ruft der Russe, aus dem kleinen Dämmern seiner Erinnerung hochschreckend. Vielleicht war dieses Dämmern ja eine Art Wachtraum, das Zusammenwirken des Geruchs von Vanille und Zimt mit dem geöffneten Knopf einer Uniformjacke.

Frau Wang hat diesen Knopf mittlerweile wieder geschlossen.

»Bevölkerungspolitik ist ein Thema, das wir in einer späteren Sitzung erörtern werden«, sagt sie in einem Ton, der nur scheinbar wieder zu alter Strenge zurückgefunden hat.

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