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Die Briefmarke, die Zwirn im Postamt gegenüber dem Gästehaus von einem sehr jungen Mann, fast noch einem Kind, erwirbt, zeigt das Profil des Parteivorsitzenden aus der Zeit, in der er Anfang der Vierzigerjahre über die Zukunft des Landes befindet. Auf den ersten Blick wirkt Mao auf dem Bild vielleicht eine Spur zu gut ernährt, bedenkt man, wie entbehrungsreich die Jahre waren, die gerade hinter ihm liegen, der Marsch durch die Sümpfe, das Durchkreuzen der Wüsten, das stürmische Hangeln an dünnen Seilen über steilste Schluchten – die Geschichten des »Langen Marsches« sind ja bestens bekannt. Ein wenig ungewöhnlich ist daher auch die Gesellschaft, in welcher der Parteivorsitzende sich befindet: Über ihm schwebt eine Figur, in der auch ein nicht auf Asien spezialisierter Kunstverständiger wie Zwirn fast auf den ersten Blick Guanyin, die buddhistische Göttin des Mitgefühls, erkennen kann. Umgeben wird diese Gestalt von mehreren weiblichen Wesen, die auch Mao offenbar umtanzen und deren hauchdünne Schleier, wie man früher gern sagte, ihre anmutigen Körper eher verdeutlichen, als sie zu verbergen.

Es ist ein prächtiges, ein auffälliges Postwertzeichen, und Zwirn kauft gleich ein Dutzend der Marken. Er kennt natürlich das Porto für einen Luftpostbrief und hat auch längst schon gelernt, die zwei Zeichen für sein Heimatland korrekt auf den Umschlag zu schreiben. Und nicht nur diese beiden. Für einen Anfänger sind das sehr komplizierte Zeichen. Jeden Tag lernt er ein paar neue hinzu. Es hilft ihm dabei, sein schon bei früheren Gelegenheiten erwiesenes Talent, bildliche Vorlagen verlässlich im Hirn abspeichern und dann noch Wochen später fast originalgetreu reproduzieren zu können. Zwirn selbst nennt das spöttisch seinen »ganz persönlichen Anteil am humanen Affenerbe«. Allerdings wünscht er sich an manchen Tagen und nach vielen zerknüllten Blättern im Papierkorb, die chinesische Schrift wäre von ihrer Struktur her so übersichtlich angelegt wie, sagen wir, die streng abstrakten Kunstwerke von Kasimir Malewitsch, denen früher seine Aufmerksamkeit gehörte.

Um sicherzugehen, beim Adressieren keinen Fehler gemacht zu haben, zeigt Zwirn den Umschlag einer Kollegin, Expertin für Vasen aus der späten Ming-Dynastie, mit der er sich in der vorgestrigen Nacht nach zwei Walzern über klassisches Aktzeichnen unterhalten und deren Russisch sich selbst zu vorgeschrittener Stunde noch als sehr brauchbar erwiesen hat.

»Ich würde das auf keinen Fall abschicken«, sagt die Kollegin, die den Brief kurz in die Hand genommen, gemustert und gleich wieder fallen gelassen hat. »Auf keinen Fall«, wiederholt sie, jede Silbe mit einem Taktschlag ihres ausgeprägten Kinns verstärkend. Dabei fixiert sie den Mann, in dessen Armen sie sich noch vor kurzem schmiegsam nach den Takten von Johann Strauß bewegt hat, mit einem vorwurfsvollen Blick, als sei ihr nicht der Umschlag, sondern der Anstoß erregende Inhalt eines Schreibens zur Überprüfung vorgelegt worden.

So jedenfalls kommt es Zwirn vor, der sich mit einem Schlag gleichzeitig schuldig und bloßgestellt fühlt. In seinem Kopf zieht jetzt noch einmal Zeile für Zeile seines Schreibens an den Vetter in Leuchtschrift vorbei. Diese Leuchtschrift blinkt immer dann besonders grell, wenn die Wörter »anarchisch« oder »Anarchismus« auftauchen. Weder in der Volksrepublik China noch in der Sowjetunion wecken diese Ausdrücke bei wohl- oder übelmeinenden Lesern eine positive Gedankenkette. Zwirn hat da bereits äußerst unangenehme Erfahrungen gemacht, damals, als ihm die Begründung für die Verschickung nach Peking eröffnet wurde. Plötzlich erinnert ihn seine Nase an den Gestank von Arrestzellen in Leningrad, in denen er bereits mehrfach zwei oder drei Nächte verbringen musste.

»Mein Brief ist privat und enthält keinerlei politische Provokation. Ich will nur meinem Vetter und meinen Freunden ein kleines Lebenszeichen senden. Wie es hier aussieht, was wir essen, welche Kunstwerke wir schätzen. Glaubst du etwa, ich treibe hier Spionage?«

Die Kollegin bleibt für einen Moment stumm und blickt auf ihre ausgestreckten Handflächen, die sie wie zum Empfang oder Überreichen einer Gabe nebeneinander geöffnet hält. Dann streicht sie über ihren Rock, als müsse sie diesen tief über die Knie verlängern.

»Niemand redet hier von Spionage, aber du bist Ausländer und kennst nicht die Regeln, die bei uns gelten.«

»Soll ich dir den Brief vorlesen? Oder willst du ihn selber lesen?«

Die Kollegin faltet jetzt die Hände und sagt gelassen: »Das ist nicht nötig.«

»Aber ich bestehe darauf«, ruft Zwirn. »Du wirst sehen, ich behandle alles hier mit großem Respekt. Auch das Denkmal eures Urkaisers. Auch den Postverkehr. Auch über eure Frauen schreibe ich nichts Respektloses. Ich habe auch niemanden denunziert. Das ist auch ganz und gar nicht meine Art. Ganz im Gegenteil. Oder …«, an dieser Stelle überkommt den Russen ein böser Verdacht, »oder heißt das, ihr habt den Brief bereits gelesen, während ich nicht in meinem Zimmer war?«

»Es geht nicht um den Inhalt des Briefes«, sagt die Kollegin, »der Inhalt geht mich überhaupt nichts an, ich arbeite nicht für die in diesem Fall zuständigen Organe, das ist überhaupt nicht meine Verantwortung.«

»Und worum geht es?«

»Es geht mir nur um den Briefumschlag.«

»Den Umschlag?«

»Genau gesagt geht es um die Briefmarken, die du gekauft und darauf geklebt hast.«

»Das verstehe ich so wenig wie der Goldfisch das Klavierspiel, selbst wenn er auf dem Flügel schwimmt.« Zwirn ist immer noch erregt, doch die Spannung lässt fühlbar nach. ›Zu wenig Porto‹, denkt er, ›das wird ja wohl kein Verbrechen sein. Verwunderlich nur, dass die Kollegin ihre Erklärung nicht mit einem Lächeln einleitet.‹

»Es gibt seit einigen Jahren keine Briefmarken, die den Vorsitzenden Mao abbilden. Das hat politische Gründe und folgt strengen Regeln. Was du also eingekauft hast, sind schlicht Fälschungen. Entweder Fälschungen für Geld oder Fälschungen zur Verfolgung bösartiger politischer Ziele.«

»Also Ramsch?«

»Viel schlimmer! Wenn du den Brief mit diesen Marken in den Postkasten eingesteckt hättest, wäre er nie in deiner Heimat angekommen, das ist noch das Geringste. Aber in kürzester Zeit hätten dich die Genossen vom Amt für Öffentliche Sicherheit ausfindig gemacht und dich beschuldigt, regierungsfeindliche Briefmarken in Umlauf gebracht zu haben. Daraus wäre für uns alle großer Schaden entstanden, wir sind ja deine Kollegen und tragen für dich Verantwortung.«

»Ich habe die Marken ganz normal in einem Postamt gekauft, direkt auf der anderen Straßenseite, gegenüber unserem Gästehaus.«

»Und wer kann das bezeugen? Warst du allein?«

»Der Verkäufer natürlich, ein junger Kerl, für mich fast noch ein Kind. Ich habe ihn gar nicht besonders beachtet. Ich habe ihm nur den Umschlag gezeigt und die Adresse, da hat er genickt und mir die Marken über den Tresen geschoben.«

Zwirn ruft sich den Vorgang in Erinnerung. Ja, er ist allein in dem Amt gewesen, der Verkäufer trug keine Postuniform, nur ein weißes Unterhemd und gepunktete Hosen, als sei er gerade aus dem Bett gekommen. Doch diese Hosen waren auch nichts Auffälliges. In China, hat er gelernt, trägt man offenbar häufig dieselben Hosen zur Tages- wie zur Nachtzeit. Frauen wie Männer. Gerade wenn die Temperaturen angestiegen sind und nicht mehr zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang unterscheiden wollen.

»Kannst du sein Gesicht beschreiben oder seine Körpergröße?«, fragt die Kollegin, deren Stimme jetzt weniger besorgt, vielmehr schnurrend klingt, so wie bei jenem letzten Langsamen Walzer, als sie gegen Ende sagte: »Vielleicht später, bei einem anderen Mal, mein Täubchen.«

Das russische Wort »Täubchen« hatte ihn so heftig getroffen wie ein plötzlicher Zahnschmerz. Zwirn ist bei seiner Muttersprache sehr empfindlich, er mag als Mann nicht »Täubchen« genannt werden, das verletzt seinen Stolz. »Täubchen« nannte ihn zum letzten Mal eine längst verstorbene Großtante, die für Kinder noch Gewänder aus der »guten Zeit« aufbewahrte. Diese Kleider sahen alle aus wie Mädchenkleider, waren es vielleicht sogar, und Zwirn erinnert sich mit Schrecken an eine braunstichige Photographie, die ihn mit langen, bis auf die Schultern herabfallenden Locken zeigt.

»Nein«, antwortet Zwirn grummelig, ohne auf den Grund seiner plötzlichen Verstimmung einzugehen, »ich kann mich beim besten Willen nur an Einzelheiten erinnern, deren Fehlen, also deren Abwesenheit mir aufgefallen ist. Also die fehlende Uniform des jungen Mannes, die ich schon erwähnte. Was mir im Nachhinein auch noch merkwürdig vorkommt, ist, dass er nicht nach Knoblauch gerochen hat. Jeder riecht in dieser Stadt nach Knoblauch, Junge wie Alte, Frauen wie Männer, aber dieser Verkäufer roch eben ausdrücklich nicht nach Knoblauch. Das fällt mir aber erst jetzt ein. Und dann noch ein Drittes: Der kleine Kerl war oder ist bei all seiner Unscheinbarkeit von einer umwerfenden Höflichkeit. Vorbildliches Benehmen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Höflichkeit?«, fragt die Kollegin, die mit einem energischen Griff der rechten Hand einen Stift und ein quadratisches Notizheft aus der linken Brusttasche ihrer Bluse gezogen hat. »Was genau soll das heißen? Kleinbürgerliche Manieren? Ein Duckmäuser?« Ihre hellrote Zunge gleitet zweimal flink über die Spitze des Schreibgerätes. Ihre Knie hält sie unter dem Rock eng gegeneinandergepresst. Zwirn ist kurz irritiert, einmal, weil das Hervorziehen des Notizheftes gleich zwei Knöpfe der Bluse geöffnet hat, zum anderen, weil der Einband des Heftes einen Schwarm von Goldfischen zeigt, der ihn zu bitteren Rückschlüssen auf den Geschmack der Besitzerin zwingt. Am meisten verstört ihn jedoch, dass dieses Gespräch merklich eine andere Richtung zu nehmen scheint. Vertraulich, ja, fürsorglich hat es begonnen, jetzt durchweht ein wahrnehmbarer Hauch von Schwefel das Geschehen. Für eine Unterhaltung unter Kollegen verwenden die Beteiligten nur in besonderen Fällen schriftliche Notizen.

»Höflichkeit ist in sozialistischen Ämtern oder Kaufhäusern so außergewöhnlich abwesend, dass ihr Erscheinen auffällt wie sonst nur ein Ladendiebstahl«, fährt Zwirn fort, der beschlossen hat, das kleine Heft der Kollegin einfach nicht zu beachten. »Gut, es kommt natürlich auch zu Ladendiebstählen, die nicht bemerkt werden, wie das ja auch bei einem Anfall von Höflichkeit passieren kann, aber das ist selten. Ich will damit auch nur sagen: Man müsste einmal an einer Theorie der auffälligen Abwesenheit arbeiten. Gerade in der Kunstgeschichte ist man doch mehr damit beschäftigt, das schreiend Vorhandene zu erfassen als das schreiend Fehlende.«

»Interessant«, sagt die Kollegin, ohne aufzublicken, züngelt noch einmal kurz über die Spitze ihres Stiftes und schreibt dann schnell weiter. Eine chinesische Zigarettenlänge später klappt sie das Büchlein zusammen, lässt es zurück in die Tasche der Bluse gleiten und schließt gelassen auch wieder deren zwei Knöpfe.

»Man müsste also, behauptest du, zur vollständigen Erfassung einer Person, eines Vorfalls oder eines Objektes eine spezielle Liste von auffälligen und unauffälligen Abwesenheiten anlegen«, fasst sie jetzt ihre Gedanken und das für eine höhere Instanz später zu verschriftlichende Ergebnis ihrer Unterhaltung zusammen, »für mich ist das wirklich interessant.«

Zwirn hat seit langem eine fast körperliche Abwehr entwickelt, sobald das in jeder Sprache dieser Welt dümmliche Wort »interessant« fällt. Das gilt auch jetzt, wo es aus dem Munde einer weiblichen Person kommt, die gerade mit einem Stift und der Knopfleiste ihrer Bluse gespielt hat. Andererseits ist Zwirns Geschlechtsleben seit dem unglücklichen Ausgang seiner Affäre mit Ritotschka in Peking auf Träume und wild neu zusammengefügte Wunschbilder angewiesen.

Daher lässt er sich nicht einmal von dem Wort »interessant« davon abhalten, sich mit der Kollegin zum Abendessen zu verabreden. Der Abend beginnt, wie es sich gehört, in der Abteilung der Kantine, die für privilegierte Gäste reserviert ist. Heute Abend sind sie dort allein, sieht man einmal von der Bedienung ab, die sie nur unauffällig beobachtet.

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