Читать книгу Made in China - Tilman Spengler - Страница 18
5
ОглавлениеAls wäre das Bild des kleinen Goldkarpfens auf magischen Wellen weitergeschwommen, taucht es ein paar Stunden später bei einer kleinen Feier auf, die Frau Wang, die Restauratorin des Museums in Xi’an, zum Einzug des russischen Gastes in seine neue Wohnung ausgerichtet hat. Auch Frau Wang kennt die Quelle für Kaviar und Wodka im Laden hinter dem Bahnhof und hat dort schon am Morgen üppig eingekauft. Frau Wu, »der Merker« aus dem Parteibüro, weiß, dass man den Teig für Blini fast genauso zubereitet wie jenen für gebratene chinesische Maultaschen. Auf diesem Gebiet ist sie sogar eine anerkannte Spezialistin und darüber hin aus von beschämender Großzügigkeit, bedenkt man, dass Sesamöl zu dieser Zeit streng rationiert, zudem nur über Sondermarken an verdiente Mitglieder der Partei abgegeben wird.
Der Geruch des erhitzten Sesamöls, der aus der Küche im Untergeschoss des Museums steigt, dringt auch zu den vier alten Frauen, die sich heute erst für den späteren Nachmittag im Park verabredet haben und jetzt auf ihrer Bank sitzen.
»Allererste Qualität, so etwas gab es bei uns schon seit langem nicht mehr.«
»Sie kochen für den jungen Gast aus der Sowjetunion. Der kommt heute Abend zurück.«
»Habt ihr auch schon gehört, dass er blaugestreifte Strümpfe trägt, die bis über das Knie reichen?«
»Ich bleibe trotzdem dabei: Der Kerl wird uns Glück bringen.«
Auch wenn der Gast nichts von diesen Gesprächen erfährt, wird der kleine Empfang zu einem berührenden Erfolg. Leo Zwirn isst und trinkt sich schnell in heitere Ausgelassenheit. Er legt auf seinem Grammophon Walzer von Glinka und Chatschaturjan auf, alle zu den Themen »Zauber« oder »Freundschaft«, und erzählt das »Abenteuer eines dummen Deutschen«, entnommen einer Erzählung seines Landsmanns Nikolai Leskow. Diese Erzählung handelt, das weiß nur Frau Wang, von einem Fremden, der sich bei seinen Gastgebern in Petersburg aus Gefallsucht oder aus Hunger durch den hemmungslosen Verzehr von Blini beliebt machen will. Dass dieser Held allerdings am letzten Blini erstickt, kann Zwirn nicht zu Ende erzählen, weil Frau Wu, »den Merker«, gerade in diesem Moment ein Anfall ihres rätselhaften Schluckaufs ereilt. Hier kann vielleicht das Wort »Hunger« ein Auslöser gewesen sein. Doch da den Umstehenden die Körpersprache der Frau Wu genauso vertraut wie unbegreiflich ist, wird sie schnell hinter einen Wandschirm geführt und dort mit einem milden Tee versorgt.
Zwirn verbeugt sich kurz vor dem Schirm, hebt dann erneut das Glas und bietet seinen Kollegen und selbstverständlich sehr galant auch den Kolleginnen die Verbrüderung an.
»Nennt mich einfach Leo«, ruft er, spricht aber im Gefühl des Glücks den Vornamen auf Englisch aus, schon um zu zeigen, dass Fremdsprachen, ganz gleich welcher Herkunft, nicht zwischen ihm und den neuen Freunden stehen werden. Da seine Aussprache aber nicht perfekt ist, vernehmen seine Zuhörer: »Liu«, wie in Liu Tolstoi.
Darauf trinken die Versammelten. Zwirn wirft spielerisch sein geleertes Glas aus dem offenen Fenster. Diesem Beispiel folgt zwar nur der Museumsdirektor, der achtet aber darauf, dass er den Wurf in genau dergleichen schwungvollen Bewegung ausführt, wie sie der russische Gast vollzogen hat.
»Wie er seinen Namen Leo aussprach, klang es in unseren Ohren wie ›Li yü‹«, notiert später »der Merker«, »also wie ›Karpfen‹, und da er mit seiner hohen Nase, der fliehenden Stirn und den vorquellenden Augen auch so aussieht wie ein Goldfisch, haben wir ihn unter uns gleich ›Karpfen‹ genannt. Frau Wang hat dann noch den Namen ›junger Goldfisch‹ vorgeschlagen und dabei hell gelacht. Frau Wang wirkt irgendwie anders.«
Leo Zwirn ist in Xi’an angekommen. Die Rückkehr nach Leningrad bleibt ein Traum.