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Die Sprüche als Dichtung

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Das Buch der Sprüche ist nicht ein Lebenshilfebuch zum raschen Durchlesen, vom Typ „sieben Schritte zu einem gelungenen Leben“. Ein Spruch ist eine sprachliche Kunstform, die mir, wenn ich mich geduldig mit ihr auseinandersetze, nach und nach Weisheit gibt. Die Sprüche sind ursprünglich auf Hebräisch verfasst, sodass der moderne deutsche Leser nicht die ganze Kraft des Originals spürt, aber wenn wir uns ein wenig über die Regeln der hebräischen Dichtkunst informieren, entdecken wir Bedeutungsebenen, die wir sonst glatt übersehen würden. Das vielleicht fundamentalste Merkmal der hebräischen Dichtung ist der sogenannte Parallelismus: Zwei Wortgruppen, Teilsätze oder Sätze werden so nebeneinandergestellt, dass sie einander modifizieren und präzisieren. Der zweite Teilsatz kann zum Beispiel den im ersten ausgedrückten Gedanken weiterspinnen und ausbauen – oder aber einen Kontrapunkt setzen, der den Gedanken abmildert oder relativiert. In beiden Fällen verdeutlichen und präzisieren die beiden Teile einander, sodass unsere Erkenntnis sich vertieft.

Sprüche 13,6 lautet zum Beispiel: „Rechtschaffenheit ist die beste Voraussetzung für einen tadellosen Lebenswandel, Ungerechtigkeit aber stürzt einen Menschen in Sünde.“ Der erste Teilsatz hilft uns, die „Ungerechtigkeit“ in dem zweiten Teilsatz genauer zu verstehen: als einen Mangel an Rechtschaffenheit. Aufgrund des Stilmittels des Parallelismus bedeuten die Worte „unrecht“ und „rechtschaffen“, aber auch „weise“ und „töricht“, die sich ständig und scheinbar unnötig in dem Buch wiederholen, in jedem Spruch etwas anderes. Uns wird viel von der Bedeutung eines Spruches entgehen, wenn wir nicht seine Teilsätze sehr sorgfältig miteinander vergleichen und untersuchen, wie die Worte zusammenspielen.

Ein weiteres wichtiges Merkmal der hebräischen Dichtkunst (wie wohl der Dichtkunst aller Sprachen) ist der Einsatz und hohe Stellenwert lebendiger Bilder. Da wird eine Frau mit viel Schönheit und wenig Anstand mit einem goldenen Ring im Rüssel eines Schweines verglichen (Sprüche 11,22), und ein arbeitsscheuer Angestellter ist wie Essig für die Zähne (10,26). Jedes neue Bild ist eine Einladung, darüber nachzudenken, mit was man eine Sache alles vergleichen kann. Der aufmerksame Leser kann fünf, zehn, oder noch mehr Arten aufzählen, auf die das Bild das Gemeinte illustriert.

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