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Die Sprüche als Rätsel

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Goethe hat einmal gesagt, dass der, der nur eine Sprache kennt, gar keine kennt. Was sehr wahrscheinlich richtig ist, aber noch richtiger ist es, dass der, der nur einen Spruch aus dem Buch der Sprüche kennt, keinen kennt.1 Wenn es in einem Spruch heißt, dass die Menschen, die moralisch anständig leben, es immer gut im Leben haben, und dann in einem anderen, dass die Guten manchmal leiden müssen, denkt der moderne Leser sofort, dass hier ein Widerspruch ist. Das liegt daran, dass er nur den einzelnen Spruch vor sich sieht, den er entweder als absolute, für sich stehende Verheißung oder als ebenfalls für sich stehenden Befehl deutet. Doch genau das sind die Sprüche in aller Regel nicht. Jeder Spruch ist vielmehr eine Beschreibung eines bestimmten Aspektes, wie das Leben funktioniert. Da lesen wir einen Spruch über das Eheleben, der, für sich genommen, für alle ehelichen Situationen zu gelten scheint, doch dann zeigt ein späterer Spruch, dass es eheliche Situationen gibt, in denen ein anderes Verhalten das richtige ist. Erst wenn man die Sprüche zusammen betrachtet, sodass sie einander so modifizieren und präzisieren, wie die Teilsätze innerhalb eines Spruches das tun, ergeben sie ein volles, multidimensionales Bild von einem bestimmten Thema oder Lebensbereich.

Kurz: Um die Bedeutung der Sprüche aufzuschließen, müssen wir sie zusammen betrachten. Keiner der einzelnen Sprüche ergibt das ganze Bild. Sprüche 29,19 besagt, dass Diener grundsätzlich dazu neigen, Anweisungen nicht zu befolgen, sodass man streng zu ihnen sein muss – aber 17,2 informiert uns, dass ein kluger Diener am Ende womöglich besser dasteht als ein missratener Sohn. Erst wenn wir die beiden Sprüche nebeneinanderstellen, erkennen wir, dass 29,19 gerade keine Aussage über alle Arbeitnehmer ist, sondern nur über die, die das Arbeiten nicht erfunden haben.2

Es kann sehr lohnend sein, die Aussagen, die die unterschiedlichen Sprüche über ein Thema machen, nebeneinanderzuhalten. In Kapitel 12 erfahren wir, dass der Weg in das sichere Unglück einem Narren wie der richtige Weg vorkommen kann, nur um in Kapitel 16 zu lesen, dass der falsche Weg jedem als der richtige erscheinen kann. Mit anderen Worten: Selbst wenn ich „alles richtig mache“, kann mein Leben trotzdem schiefgehen, weil ich in einer kaputten Welt lebe. Der Weise weiß, dass manchmal jeder Weg „ein Weg in den Tod“ sein kann (16,25). Wie wir noch sehen werden, gibt es eine Ordnung, die Gott der Welt gegeben hat, als er sie schuf, und der wir folgen müssen. Doch andererseits ist dies eine gefallene, von der Sünde entstellte Welt, und die Weisen wissen, dass die Schöpfungsordnung nicht immer funktioniert und auch nicht immer leicht zu erkennen ist.

Nur wenn wir sie alle zusammensehen, geben uns die Sprüche ein weises, differenziertes, theologisch reiches Bild von der Welt.

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