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Der „perfekte Prediger“
ОглавлениеDiese Unterscheidung könnte zu der Annahme verleiten, dass der Christ, der Gottes Wahrheit weitergibt, nichts weiter zu tun braucht, als den Bibeltext zu erklären, und dass Gott schon für den Rest sorgen wird. Das ist ein gefährliches Missverständnis und eine Beschneidung der Aufgabe des Predigers.
Theodor Beza war ein jüngerer Kollege und später der Nachfolger des Reformators Johannes Calvin. In seiner Calvin-Biografie erinnert Beza sich an die drei großen Prediger im Genf der Reformationszeit – Calvin selber, Guillaume Farel und Pierre Viret. Farel – so Beza – war der leidenschaftlichste und kraftvollste der drei. Viret war der redegewandteste; die Zuhörer sogen seine geschickten, sprachlich schönen Formulierungen förmlich ein und merkten gar nicht, wie die Zeit verging. Calvin war der tiefgründigste; seine Predigten waren voll der „gewichtigsten Einsichten“. Calvin hatte am meisten Substanz, Viret die größte Beredsamkeit, Farel die größte Wucht, und Beza kommt zu dem Schluss: „Ein Prediger, der eine Kombination dieser drei Männer war, wäre der absolut perfekte Prediger gewesen.“12 Womit Beza zugibt, dass sein großer Mentor, Calvin, kein perfekter Prediger war. Seine Predigten gingen zwar in die Tiefe, aber Viret und Farel konnten die Aufmerksamkeit der Zuhörer besser fesseln, hatten mehr Überzeugungskraft und sprachen mehr zum Herzen der Menschen.
Im ersten „Predigthandbuch“ der Christenheit schreibt der Kirchenvater Augustinus, dass der Prediger nicht nur die Aufgabe hat, zu belehren (lat. probare), sondern auch, zu erfreuen (delectare) und zu erschüttern und aufzurütteln (flectere).13 Augustinus verurteilt den geistlichen Bankrott der heidnischen Philosophen, findet aber gleichzeitig, dass christliche Prediger von ihren Büchern über die Rhetorik lernen können. Das griechische Wort rhetorike erscheint erstmals in Platos Dialog Gorgias, wo es „das Werk des Überredens“ meint.14 Der Altphilologe George Kennedy schreibt, dass die Rhetorik in gewissem Sinne „ein Phänomen aller menschlichen Kulturen“ ist, da die meisten Kommunikationsakte nicht nur das Ziel haben, Informationen weiterzugeben, sondern auch den Glauben, das Handeln oder Fühlen der Empfänger zu beeinflussen.15 Jeder von uns ist ein Stück weit ein Rhetoriker, und wenn es nur darum geht, durch Veränderungen der Lautstärke, der Tonhöhe oder des Tempos etwas zu betonen. Jeder Redner muss Wörter und Bilder wählen, die das Gemeinte erhellen und die Zuhörer ansprechen, und auf die verschiedensten anderen verbalen und nichtverbalen Arten Aufmerksamkeit wecken und beibehalten und Aussagen betonen und gewichten.
Das sah Calvin nicht anders. In seinem Kommentar zu 1. Korinther 1,17, wo Paulus sagt, dass er bei der Predigt des Evangeliums auf „kluge Worte“ verzichtet, fragt Calvin: „Aber steht die Beredsamkeit in unversöhnlichem Widerspruch zum Evangelium? Ist eine Predigt schon verfälscht, wenn sie in schönen Worten gehalten wird?“ Und er antwortet: „Damit verdammt Paulus nicht allgemein jede [rhetorische] Wissenschaft und Bildung als christusfeindlich …“16 Paulus warnt lediglich vor einem Missbrauch der Rhetorik, bei dem diese zum Selbstzweck wird und mit ihrem unterhaltsamen Zierrat die Schlichtheit der biblischen Botschaft mit „Wortglanz und Prunk“ überlagert.17 Lange Geschichten, eine blumige Ausdrucksweise und dramatische Gesten können die Aufmerksamkeit der Zuhörer fesseln, während die Botschaft des Textes untergeht.
Calvin fährt fort, dass wir weder die schlichte noch die rhetorisch gekonnte Darbietung der Wahrheit verachten dürfen, solange beide im Dienste des Bibeltextes stehen. „Damit ist nicht jede Redekunst in der Predigt verworfen; sie ist gut, wenn sie … unter Beweis stellt, dass sie dem Evangelium den ersten Platz einräumt und ohne Selbstgefälligkeit dem Herrn zu dienen bereit ist.“18 Eine Predigt sollte weder eine menschliche Show sein, die bloß unterhaltsam ist, noch ein trockenes Auflisten von Sätzen und Wahrheiten. Echte, geistliche Beredsamkeit hat aus der leidenschaftlichen Liebe des Predigers zur Wahrheit des Evangeliums zu entspringen sowie aus der Liebe zu den Menschen vor ihm, deren ewige Seligkeit davon abhängt, ob sie diese Wahrheit annehmen oder nicht.
Letztlich ist der Prediger immer zwei Hauptinstanzen verantwortlich: dem Wort Gottes und dem menschlichen Hörer. Es genügt nicht, den Weizen zu ernten; wir müssen ihn auch so zubereiten, dass er essbar wird, sonst kann er die Menschen nicht satt machen. Eine gute Predigt entspringt aus einer doppelten Liebe – der Liebe zum Wort Gottes und der Liebe zu den Menschen, die den Wunsch in uns weckt, ihnen Gottes wunderbare Gnade zu zeigen. Und so gilt: Allein Gott kann Herzen öffnen, aber die Menschen, die sein Wort weitergeben, haben die Aufgabe, es treu und genau darzulegen und für die Herzen und das Leben der Zuhörer aufzuschließen.