Читать книгу Predigen - Timothy Keller - Страница 18

Plädoyer für die Textpredigt als „Normalfall“

Оглавление

Im Laufe der Kirchengeschichte haben sich sowohl die Text- als auch die Themapredigt als notwendig erwiesen, und auch der heutige christliche Prediger oder Lehrer sollte beide als legitime, fruchtbare Predigtformen sehen. Trotzdem finde ich, dass die Textpredigt sozusagen das Predigtgrundnahrungsmittel für eine christliche Gemeinde sein sollte. Warum das? Mir fallen mindestens sechs Gründe ein; auf den ersten möchte ich etwas ausführlicher eingehen.

Die Auslegungspredigt ist die beste Methode, unserer Überzeugung Ausdruck zu geben, dass die ganze Bibel wahr ist. Mit ihr demonstriere ich, dass ich glaube, dass jeder Teil der Bibel Gottes Wort ist – nicht nur bestimmte Themen oder die Aussagen, die mir besonders gut gefallen. Ein solider, fundierter Glaube an die Autorität und Inspiration der Bibel ist ein unbedingtes Muss, wenn ich die Bibel nachhaltig lehren und predigen will, sodass sie Menschenherzen verändert. Wenn dies auch Ihre Überzeugung ist, dann gibt es keine bessere Methode, Ihren Glauben an die Bibel an Ihre Zuhörer weiterzugeben, als sie durch Textpredigten auszulegen, bei denen Sie über einen längeren Zeitraum hinweg systematisch durch große Teile der Bibel gehen und die Bedeutung und Botschaft jedes Abschnitts herausarbeiten und alle Ihre Aussagen vom Bibeltext her begründen und untermauern.

Bitte beachten Sie, dass ein bloß allgemeiner Respekt vor der Bibel, den Sie vielleicht durch Ihre religiöse Erziehung mitbekommen haben, hier nicht ausreicht. Als christlicher Prediger oder Lehrer werden Sie zwangsläufig mit vielen „schwierigen Stellen“ in der Bibel konfrontiert werden – Stellen, die nicht nur dem Zeitgeist und der politischen Korrektheit zuwiderlaufen, sondern manchmal sogar Ihren eigenen Überzeugungen und Gefühlen. Wenn Sie nicht ein solides, tief verwurzeltes Verständnis von der Bibel und ihrer Autorität und Inspiration haben, werden Sie nicht in der Lage sein, die Arbeit zu leisten, die nötig ist, um die einzelnen Stellen zu verstehen und überzeugend an andere Menschen weiterzugeben. Jeder merkt es, wenn der Prediger von dem, was er da sagt, selber nicht überzeugt ist, und schon ist der Prediger nicht mehr der, der verkündet, warnt und zu Gott einlädt, sondern nur noch jemand, der fromme Gedanken, Anekdoten und Meinungen weitergibt.

Natürlich besteht auch die Gefahr, dass der Prediger des Evangeliums der Gnade an Stellen, wo Christen verschiedener Meinung sind, unnötig hart und dogmatisch auftritt. Wir werden später noch zu diesem Thema kommen. Hier möchte ich vor der Gefahr warnen, den umgekehrten Fehler zu machen. Nicht nur die zu konfrontative und harte Predigt geht letztlich ins Leere, sondern auch die allzu weiche und vage, die Angst hat, den Zuhörern etwas zuzumuten. Es kommt hier, wie so oft, auf die rechte Balance an. Wie Timothy Ward schreibt: „Der Prediger, der zu hart ist, provoziert Widerstand. Der, der zu weich ist, wird als belanglos empfunden, als jemand, den man ignorieren kann.“35

Wie finde ich zu einem tragfähigen Vertrauen auf die Bibel als Gottes Wort? Unter anderem, indem ich mir anschaue, was die Bibel über sich selber sagt. Fangen Sie mit einer gründlichen Lektüre des 119. Psalms an; arbeiten Sie heraus, was er über das Wesen des Wortes Gottes und seine Funktion und seinen Nutzen in unserem Leben sagt. Sie sollten sich auch mit wichtigen Büchern bzw. Artikeln über die Autorität der Bibel vertraut machen, wenn Ihre Predigttätigkeit fruchtbar sein soll.36 Und Sie sollten nicht nur allgemein wissen, dass die Bibel wahr ist, sondern auch, dass in der Bibel Gottes Worte identisch sind mit seinen Taten. Wenn er sagt: „Es werde Licht“, dann wird es Licht (1. Mose 1,3), und wenn er jemandem einen neuen Namen gibt, dann wird diese Person damit zu einem anderen Menschen (1. Mose 17,5). Die Bibel sagt nicht, dass Gott erst spricht und dann handelt oder dass er erst benennt und dann verändert, sondern bei Gott sind Sprechen und Handeln ein und dasselbe. Sein Wort ist seine Tat, seine göttliche Kraft.37

Aber wie können wir Gottes tatmächtigen Worte heute hören, wo wir doch nicht mehr die Propheten des Alten Bundes sind oder die Apostel, die zu Jesu Füßen saßen? Nun, Gottes Worte im Munde der Propheten (Jeremia 1,9-10), die in der Bibel aufgeschrieben sind, sind heute, wo wir sie lesen, immer noch Gottes Worte (Jeremia 36). Ward hält es für extrem wichtig, dass der Prediger dies weiß. „Gottes nicht aufhörendes dynamisches Handeln durch den Geist“ ist „aufs Engste verknüpft mit den Worten der Schrift und ihrer Bedeutung.“38 Anders ausgedrückt: Indem wir der Bedeutung der biblischen Worte auf den Grund gehen, wird Gott in unserem Leben aktiv und mächtig. Die Bibel ist nicht nur Information, auch nicht nur wahre Information; sie ist „lebendig und voller Kraft“ (Hebräer 4,12) – Gottes zu Sprache gewordene Kraft. In dem Maße, wie wir die Bedeutung des biblischen Wortes verstehen, prägt Gott uns und macht uns neu.

Wenn Sie als christlicher Prediger und Lehrer dieses Verständnis von der Bibel kennen und bejahen, wird dies die Art, wie Sie predigen, zutiefst prägen. Wenn Sie lediglich glauben, dass der Geist Gottes in einem ganz allgemeinen Sinn irgendwie unter bestimmten Umständen wirkt, wenn Sie die Bibel predigen, werden Sie in Ihrer Predigt seine Macht und Autorität untergraben, indem Sie zu viel Gewicht auf Ihre eigenen Erfahrungen legen oder die Autorität mehr in den Traditionen und Lehren Ihrer Kirche suchen als in der Bibel selber. Oder Sie benutzen die Bibel als eine Art Sammlung von weisen Ratschlägen für die Probleme in der Gesellschaft oder unserem persönlichen Leben. Glauben Sie dagegen, dass die Predigt des Wortes Gottes einer der Hauptkanäle für Gottes Wirken in der Welt ist, dann werden Sie mit großer Sorgfalt und Zuversicht die Bedeutung des Bibeltextes freilegen, in der festen Erwartung, dass Gottes Geist im Leben Ihrer Hörer aktiv werden wird.39

So berühmte Beschreibungen des Wortes Gottes wie die, dass es ein „Feuer“ ist und „wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“ (Jeremia 23,29), sind daher mehr als bloße Rhetorik. Ich habe Hunderte von Fällen erlebt, wo die Bibel selber eine Kraft bewies, geistliche Gleichgültigkeit und innere Verteidigungsmauern zu durchstoßen, die weit über meine Redekunst als Prediger hinausging. Ein paarmal musste ich sogar empörten Gemeindegliedern, die sicher waren, dass einer ihrer Freunde sie bei mir angeschwärzt hatte und dass ich mit meiner Predigt nur auf sie gezielt hatte, ehrlich schwören, dass ich keinerlei Kenntnis von ihren Problemen gehabt hatte, sondern dass die Bibel selber ihre „verborgensten Gedanken“ ans Licht gebracht hatte (1. Korinther 14,25). Ich bin nicht scharf auf empörte Predigthörer, aber ich muss sagen, diese Gespräche liebe ich.

Der erste Grund, warum wir normalerweise Textpredigen halten sollten, ist also, dass diese unseren Glauben, dass die ganze Bibel Gottes vollmächtiges, lebendiges und aktives Wort ist, zum Ausdruck bringt und wirksam macht.

Die anderen Gründe dafür, die Textpredigt zum Normalfall in der Gemeinde zu machen, sind mehr praktischer Art, aber deswegen nicht weniger wichtig. Der erste ist, dass eine sorgfältige Auslegungspredigt es den Hörern leichter macht, zu erkennen, dass die Autorität nicht in den Meinungen oder Gedankengängen des Predigers liegt, sondern in Gott selber und seiner Offenbarung in diesem Text. Dies wird nicht sehr klar in Predigten, die den biblischen Text nur oberflächlich abhandeln und sich vor allem in Geschichten, langen Argumentationen oder Gedankenspielen ergehen. Hier kann der Zuhörer sich leicht dem Zugriff unbequemer Textaussagen entziehen, indem er sich sagt: „Na ja, so siehst du das halt …“ Eine solide, klare Auslegung bemüht sich, zu zeigen, was der Text bedeutet – und zeigt damit, dass das, was der Prediger sagt, nicht auf seinem eigenen Gedankenmist gewachsen ist, sondern sich aus diesem autoritativen Text ergibt.

Die Textpredigt bedeutet weiter, dass ich Gott selber die Chance gebe, zu bestimmen, in welche Richtung die Reise meiner Gemeinde gehen soll. Solide Textauslegung ist ein gewisses Abenteuer für den Prediger. Ich beginne, über ein biblisches Buch oder einen längeren Abschnitt zu predigen, mit dem ehrlichen Willen, mich seiner Autorität zu unterwerfen und seiner Leitung zu folgen. Natürlich liegt die Auswahl der Bibelstellen oft beim Prediger (wenn der Text nicht durch eine Perikopenordnung vorgegeben ist) und jeder einigermaßen erfahrene Bibelleser weiß im Voraus ungefähr, was er von einer bestimmten Textstelle zu erwarten hat. Aber eine Auslegungspredigt bedeutet immer, dass ich nicht zu hundert Prozent vorausplanen kann, was meine Gemeinde in den nächsten Wochen oder Monaten hören wird. In dem Maße, wie wir in die Texte eindringen, kommt es zu Fragen und Antworten, die niemand vorhergesehen hat. Wir stellen uns die Bibel ja gerne als Buch vor, das Antworten auf unsere Fragen gibt, was sie ja auch tut. Aber wenn wir den Text wirklich zu uns reden lassen, kann es sein, dass Gott uns zeigt, dass wir ja gar nicht die richtigen Fragen gestellt haben.

Die Menschen unserer Zeit kommen gerne mit der Frage zu der Bibel: „Wie baue ich mein Selbstwertgefühl auf und werde ein souveränerer Mensch?“ Und dann lesen sie, was die Bibel über Sünde und Buße zu sagen hat – und entdecken, dass unser größtes Problem ja nicht unsere Minderwertigkeitsgefühle sind, sondern unser Stolz und unsere Machtfantasien. Wir sind blind für die Tiefen unserer Ichsucht und bilden uns ein, wir könnten unser Leben schon selber in den Griff kriegen. Und dann lesen wir weiter und kommen zu den Bibelabschnitten, die uns zeigen, wie Gott uns als seine Kinder annimmt und gerecht spricht – und entdecken, dass die Bitte, „sich selbst etwas besser annehmen zu können“ eigentlich viel zu wenig war gegenüber der neue Identität, die wir in Christus bekommen … Wenn wir uns in Gottes Wort vertiefen, wird unser ganzes Denken verwandelt werden und wir erkennen, wie unpassend eigentlich die Fragen waren, mit denen wir unsere Bibellektüre angefangen haben.

Ein weiteres Argument für die Auslegungspredigt ist, dass sie dem Text auch die Chance gibt, darüber zu bestimmen, in welche Richtung die Reise für den Prediger selber geht. Sie hilft ihm, dem Druck besser zu widerstehen, seine Botschaften zu sehr an die Erwartungen und Tabus der Gesellschaft anzupassen, in der er lebt. Sie führt ihn zu Themen hin, an denen er sich eigentlich lieber nicht die Finger verbrennen wollte in einer Zeit, wo manche Aussagen der Bibel (z. B. zu Fragen der Sexualität) sehr unpopulär sind. Die Auslegungspredigt macht mir Mut, Gottes Willen zu solchen Reizthemen deutlich darzulegen, und sie zwingt mich, Mittel und Wege zu finden, diese Themen öffentlich anzusprechen.

So kann die Textpredigt uns davor bewahren, beim Predigen unsere Steckenpferde zu reiten und Lieblingsthemen zu pflegen. Jemand hat einmal gesagt, dass selbst die besten Prediger nur etwa ein Dutzend Predigten auf Lager haben, die sie immer wieder bringen; nur die Bibelstellen wechseln. Und die schlechtesten Prediger haben dann, so könnte man ergänzen, nur eine einzige Predigt, die sie bis zum Geht-nicht-Mehr wiederholen. Diese Kritik kommt der Wahrheit näher, als uns Predigern lieb sein kann, und wir haben nur dann eine realistische Chance, diese Falle zu vermeiden, wenn wir uns in der Kunst der Auslegungspredigt üben.

Regelmäßige Textpredigten sind auch eine gute Anleitung zum persönlichen Bibellesen. Die Hörer lernen es, selber ihre Bibel zu lesen und sich Texte zu erschließen. Sie lernen es, auf die Besonderheiten eines Textes zu achten und den Gesamtzusammenhang der Bibel besser zu verstehen: Was bedeutet dieser Ausdruck und jenes Motiv? Sie werden erfahrenere und sensiblere Bibelleser.

Ich möchte noch ein letztes Argument für die Auslegungspredigt anführen, das Sie nach dem bisher Gesagten vielleicht zunächst überraschen wird. Wir haben gesehen, dass die regelmäßige Textauslegung davor schützt, nur über unsere Lieblingsthemen zu reden, und den textlichen und thematischen Horizont erweitert. Aber sie lässt uns auch immer deutlicher das eine große biblische Zentralthema sehen. Zwei Mal in meinem Leben haben mir Prediger berichtet, dass sie erst nachdem sie Prediger geworden waren, zu einem lebendigen Glauben an Christus kamen; sie waren von ihren eigenen Predigten bekehrt worden. Und ich kenne einen anderen Pastor, der durch das Hören der Textpredigten seines Amtskollegen in der Gemeinde ein lebendiger Christ wurde. Wie ist so etwas möglich?

In der Auslegungspredigt lautet der große Generalschlüssel: Kontext, Kontext, Kontext. Um die Bedeutung eines Satzes zu verstehen, müssen wir fragen: „Was bedeutet dieser Satz im Verhältnis zum Rest dieses Bibelabschnitts?“ Um die Bedeutung des Bibelabschnitts zu verstehen, müssen wir fragen: „Wie verhält sich dieser Abschnitt zum Rest des Buches?“ Um die Botschaft des ganzen Buches zu ermitteln, müssen wir fragen: „Wie verhält sich dieses Buch zum Rest der Bibel?“ Wenn Sie dies Woche um Woche tun, erkennen Sie schließlich den roten Faden der ganzen Bibel: das Evangelium von Jesus Christus. Da dieses Evangelium die große Auflösung und Erfüllung aller Handlungsstränge und Geschichten und Bilder und Begriffe in der Bibel ist, wird den Menschen, die Woche um Woche Auslegungspredigten hören (und dem Prediger selber!), die Erlösung in Jesus Christus und ihre Bedeutung für uns immer mehr aufgehen. Und dabei wird es keine Minute langweilig werden, weil wir das Evangelium in seiner endlosen, herrlichen, immer neuen Fülle erleben. Es gibt nichts Besseres, um eine Gemeinde in diese Realität hineinzuführen, als die Textpredigt.

Predigen

Подняться наверх