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Die beiden Feinde des Evangeliums
ОглавлениеEine klassische Beschreibung des Evangeliums und was es mit unserem Leben zu tun hat, lautet so: Wir werden allein durch Christus erlöst und allein durch den Glauben, aber nicht durch einen Glauben, der allein bleibt. Echte Erlösung führt immer zu guten Werken und einem veränderten Leben.
Diese Formulierung des Evangeliums stellt die Rolle der Ethik in unserem Leben – unserer „guten Werke“ und moralischen Gesinnung – in den Mittelpunkt. Dabei stellt sie als Erstes klar, dass diese Dinge bei der Frage, ob und wie Gott uns als seine Kinder annimmt, keine Rolle spielen. Römer 4,5 stellt klar, dass Gott „uns trotz all unserer Gottlosigkeit für gerecht erklärt“. Gott nimmt uns nicht wegen unserer moralischen Qualitäten an, ja noch nicht einmal wegen der Qualität unseres Glaubens. Diese Dinge spielen bei ihm keine Rolle, sondern unser vertrauender Glaube vereinigt uns so mit Christus, dass dessen Gerechtigkeit in Gottes Augen zu unserer wird. Er sieht uns als Menschen, die „in Christus“ sind (vgl. Philipper 3,9; ELB). Und dieser rettende Glaube lässt den Heiligen Geist in einem zweiten Schritt eine Verwandlung unseres Herzens beginnen, sodass wir – aus Dankbarkeit und Liebe – Gott gehorchen wollen und konkret anfangen, dies zu tun (vgl. Jakobus 2,14-19).
Seit der Reformation wissen die Theologen darum, dass wir auf zwei auf den ersten Blick einander entgegengesetzte Arten dieses biblische Evangelium und seine Kraft verpassen können. Es sind dies die „Gesetzlichkeit“ – also die Vorstellung, dass wir uns Gott durch unsere guten Taten gewogen machen können – und der „Antinomismus“ (das Wort kommt von dem griechischen Wort für „Gesetz“) – die Vorstellung, dass wir eine Gottesbeziehung haben können, ohne Gottes Wort und seine Gebote zu befolgen. Beide Vorstellungen gehen an einem zentralen Aspekt des Evangeliums vorbei.
Gesetzlichkeit ist viel mehr als die Devise, dass ich durch meine guten Werke erlöst werden kann. Sie ist ein ganzes Netzwerk von Herzenseinstellungen. Sie ist der Glaube, dass Gottes Liebe zu uns von Bedingungen abhängt, die mit dem zusammenhängen, was wir sind bzw. tun. Sie ist die Einstellung, dass ich Gott bestimmte Dinge als Leistungen anbiete, die das, was Christus für mich getan hat, ergänzen und mir Gottes Wohlwollen sichern – z. B., dass ich die Moral hochhalte, mich bemühe, nicht bewusst Böses zu tun, treu zur Bibel und zu meiner Kirche stehe. Eine gesetzliche Einstellung macht uns kleinlich, hart, übertrieben kritikempfindlich, zutiefst unsicher und neidisch auf andere Menschen, weil unsere „persönliche Identität an unsere Leistung und deren Anerkennung geknüpft ist und nicht auf Christus und seiner unverdienten Gnade gründet“55.
Entsprechend ist Antinomismus mehr als die Annahme, dass ich Gottes Geboten nicht zu gehorchen brauche. Es ist das Denken, dass es Gott, wenn er mich doch bedingungslos liebt, egal ist, wie moralisch oder unmoralisch ich lebe. Es ist die Einstellung: „Gott nimmt mich so an, wie ich bin; er will nur, dass ich ich selber bin.“ Nicht selten wird daraus schließlich der Glaube, dass ich nur dann ein freier Mensch sein kann, wenn ich mit dem Glauben an Gott überhaupt Schluss mache.
Die bekannteste biblische Darstellung dieser beiden falschen Denkweisen finden wir im Römerbrief. In Römer 1,18-32 zeigt Paulus auf, dass die Heiden Gott verloren haben, weil sie sein Gesetz missachten – und danach, in Römer 2,1–3,20, führt er aus, dass die Juden, die Gottes Gebote und sein Wort bejahen und halten, ebenfalls von Gott entfremdet sind. Warum sind sie entfremdet? Weil sie sich in ihrer Gottesbeziehung auf dieses Halten des Gesetzes verlassen und nicht auf Gottes Gnade; sie suchen eine „Gerechtigkeit, die sich auf das Gesetz gründet und die ich mir durch eigene Leistungen erwerbe“ (Philipper 3,9; vgl. 3,3-6). Äußerlich sind sie gerecht, aber innerlich sind sie selbstgerecht und suchen ihre Erlösung letztlich nicht bei Gott. Beide – die Heiden und die Juden, die Antinomisten und die Selbstgerechten – lehnen Gottes Gnade und Erlösung ab, nur jeweils auf eine andere Weise, was Paulus zu dem harten Fazit bringt: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer … keiner fragt nach Gott“ (Römer 3,10-11).
Äußerlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den „Gottlosen“, die die traditionellen Normen und Moral verspotten und links liegen lassen, und den hochmoralischen, bibeltreuen „Frommen“, die mit ethischem Wohlverhalten Punkte bei Gott sammeln wollen, aber Paulus sagt, dass sie beide auf eine Art Selbsterlösung setzen und dass die inneren Unterschiede zwischen ihnen eher gering sind.
Wer die Bibel kommunizieren will, muss immer diese beiden Grundeinstellungen berücksichtigen. Viele Bibeltexte enthalten Ermahnungen, wie Gläubige richtig leben sollen, die, wenn man sie isoliert vom Rest der Bibel betrachtet, gesetzlich missverstanden werden können. Andere Stellen in der Bibel betonen Gottes Gnade, Erlösung und bedingungslose Liebe – was, isoliert betrachtet, zu dem Fehlschluss verleiten kann, dass Gottes Gnade nicht zu einem veränderten Leben führt. In The Art of Prophesying schreibt William Perkins, dass „der Prediger um die rechte Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium wissen muss“56. Das Gesetz zeigt uns zunächst, dass wir das Evangelium brauchen – und wenn wir dann durch den Glauben Gottes Erlösung angenommen haben, zeigt es uns, wie wir den, der uns erlöst hat, recht kennenlernen, ihm dienen und ihm immer ähnlicher werden können. Es ist absolut wichtig, dass der Prediger seinen Zuhörern nicht nur zeigt, wie sie moralisch und gut leben sollen, sondern solche Ermahnungen immer auch mit dem Evangelium verknüpft. Und es ist genauso wichtig, dass er der Gemeinde nicht immer nur versichert, dass Gott sie bedingungslos liebt und aus Gnade erlöst hat, sondern ihr auch zeigt, wie echte Erlösung unser Leben verändert.
Perkins sagt nicht, dass wir jeden einzelnen Bibelvers einfach in eine der beiden Schubladen einordnen können – die Verse, die uns sagen, was wir tun müssen, und die, die uns sagen, dass wir aus Gnade erlöst sind, egal, was wir getan haben – und nennt zwei Bibelverse, die beide Aspekte zusammenführen: Johannes 14,21 und 14,23.57 In Johannes 14,23 sagt Jesus seinen Jüngern: „Wenn jemand mich liebt, wird er sich nach meinem Wort richten. Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“ Hier wird ganz klar, dass das Evangelium den Gehorsam gegenüber Gott verwandelt: Aus einer gesetzlichen Methode, sich seine Erlösung zu verdienen, wird eine Reaktion dankbarer Liebe auf die bereits empfangene Erlösung. Der aus der Gnade des Evangeliums fließende Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz will den, der uns so unendlich teuer erlöst und erkauft hat, immer besser kennenlernen und lieben, ihm Freude machen und ihm ähnlicher werden. Diese Stelle in Johannes 14 redet also weder der Gesetzlichkeit das Wort noch der Auffassung, dass vor lauter Evangelium das Gesetz gar keine Rolle mehr spielt.
Es gibt wenige Bibelstellen, die die Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium so klar und perfekt aufzeigen, wie diese Verse in Johannes 14. Meistens steht in dem Text, über den wir predigen, entweder das Gesetz oder das Evangelium im Vordergrund, und daher müssen wir immer – immer! – den Text in den Kontext der ganzen Bibel stellen: die Botschaft des Evangeliums.