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Das völlige Versagen

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Jetzt ist es fast genau einen Monat her.

Das Datum meines völligen Versagens: 21. Juli 2019.

Innerhalb von zwei Stunden habe ich alles, was ich mir so sehr über die Jahre in einem jahrelangen Kampf erarbeitet habe, verloren. Dass ich fast alles verliere, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht.

Montag, den 22. Juli 2019

Ich wache früh morgens ohne jedes Zeitgefühl im Polizeiarrest auf. Mein Kopf dröhnt, ich kann die Augen kaum öffnen, denn sie sind geschwollen vom vielen Weinen. Ich richte mich auf und drücke auf den Knopf. Es erscheint eine Polizistin, die ich verzweifelt frage, wie viel Uhr es ist und ob sie bitte zuhause anrufen und fragen kann, ob es meinen Hunden gutgeht.

Ich versuche, mich zu erinnern. Mein Kopf tut so weh.

Was ist passiert? Verdammte Scheiße, was ist passiert? Das kann doch alles nicht wahr sein. Erinnerungsfetzen kommen mir in den Sinn.

Wein, viel Wein, Polizei vor meiner Haustür, die Polizeiwache, Blutabnahme und immer wieder dazwischen nichts. Leer, als wären Stunden weg.

Um 10 Uhr werde ich entlassen.

Ich schäme mich vor den Beamten, denn ich arbeite im Rettungsdienst. Man kennt mich, da wir von Zeit zu Zeit aufgrund von Notfällen auch hier sind. Die Blicke der Beamten reichen aus. Ich möchte im Boden versinken.

Als das große Tor hinter mir zugeht, laufe ich völlig fertig zum Parkplatz, auf dem der Leiter der Wache mich empfängt. Er sagt die beruhigenden Worte:

»Es wird schon alles.« Dass diese Worte dann doch leere Worte sind, werde ich viel später leider schmerzlich erfahren müssen.

»Warte erst mal ab. Wir werden eine Lösung finden.« Ich glaube ihm das, trotzdem habe das Gefühl, keinen Halt mehr zu haben.

Zuhause angekommen, muss ich erst einmal versuchen, meine Gedanken zu sortieren.

Ich habe keinen Führerschein mehr. Gefahren mit 2,2 Promille. Letzten Endes entscheidet aber der Blutwert und der ist noch nicht da. Ein Alptraum, denn ich weiß nichts mehr, gar nichts mehr von dieser Fahrt. Sie ist wie ein dunkles schwarzes Loch. Ich versuche, mich zu beruhigen, denn es ist nichts passiert. Kein Unfall! Ich habe niemand verletzt und mich selbst auch nicht. Zudem geht es meinen beiden Hunden gut ...

Aber ich habe keinen Führerschein mehr.

Ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen, suche erst einmal meinen Zweitschlüssel, um mein Handy aus dem Auto zu holen. Dann sitze ich völlig starr auf dem Bett. Die Hunde kommen immer wieder zu mir, aber ich kann mich einfach nicht bewegen.

Was ist denn nur passiert? Das kann doch alles nicht wahr sein!! Was für ein Alptraum!!

Plötzlich geht die Haustür auf und der Gassi Service steht vor mir. Da ich eigentlich heute Frühschicht gehabt hätte, wären meine Hunde von ihr versorgt worden. In der Aufregung habe ich völlig vergessen, ihr Bescheid zu sagen, abzusagen. Mein Kopf ist völlig leer. Ich habe immer noch Restalkohol und bin total benebelt. Ich schaue in ihr schockiertes Gesicht.

»Oh man, Shit, ich habe dich total vergessen.« Ihre Augen starren mich entsetzt an.

»Wie siehst du denn aus? Warum bist du da?«

»Ich habe keinen Führerschein mehr, ich bin völlig k.o., keine Ahnung, was passiert ist.« Die Hunde sind total nervös, ich kann das kaum ertragen. Ja, sie spüren eben die Verzweiflung, zudem müssen sie ja mal raus.

»Nimm sie jetzt `mal mit, ich muss erst mal duschen.« Als sie weg ist, rufe ich Linda an.

Sie ist mein Herzensmensch, meine engste Vertraute. Noch nie haben wir uns gesehen und trotzdem hören wir uns jeden Tag. Über Facebook haben wir uns wegen einer gemeinsamen Krankheit der Dystonie (wikipedia.org/wiki/Dystonie) kennengelernt und nun so eine enge Verbindung. Ein wundervoller Mensch ist sie mit einem großen Herz, mit Güte, mit Verständnis. Selten habe ich einen Menschen getroffen, der so wundervoll ist wie sie. Ich schätze sie sehr und die Freundschaft ist so kostbar und wertvoll für mich, dass ich diese niemals mehr verlieren oder missen möchte. Es ist ein Geschenk.

Während ich kaum ein Wort rauskriege, ich weine und weine, versucht sie, mich zu beruhigen. Seit Wochen hatte sie es schon den Stress bemerkt. Ich war völlig fertig, hatte viel zu viel gemacht, die On-off-Beziehung, der Alkohol. Sie hatte es immer gesagt: »Pass auf!« Aber ich hatte nicht hören wollen. Und jetzt war es passiert. Immer wieder hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass ich es nicht mehr im Griff hatte. Sie weiß auch nicht, was sie nun sagen soll, aber sie hört mir zu. Die ganze Zeit! Ich erzähle immer wieder dasselbe, rede völlig durcheinander, weine und weine, aber sie ist da. Zwar nicht direkt bei mir, aber sie ist da, Tag und Nacht.

Meine Arbeit im Rettungsdienst ist die Hälfte meines Gehaltes, mit dem anderen Beruf, ich bin Diplom-Tanzpädagogin mit einer eigenen Ballettschule, decke ich den Rest ab. Beide Berufe liebe ich und sie erfüllen mich mit großer Freude. Vom Herz her hänge ich mehr am Tanzen, aber ich bin dankbar, den Rettungsdienst mit einem sicheren Einkommen zu haben. Da ich auf dem Land wohne, spüre ich die Panik in mir, zudem ist im Rettungsdienst auch der Führerschein Pflicht und so schreit in mir die Frage:

Was passiert jetzt??

22.07. bis 30.07.2019

Ich bin nicht mehr im Stande fähig, den Unterricht in meiner Ballettschule fortzusetzen. Da dies die letzte Unterrichtswoche vor den großen Ferien ist, entschuldige ich mich bei den Eltern und beende aufgrund von Krankheit das Schuljahr vorzeitig. Es ist unmöglich, nach dieser Nacht zu unterrichten. Normalerweise war der Alkohol in schlimmen Zeiten immer mein Tröster, jedoch bin ich nicht fähig zu trinken.

Essen geht kaum, ich vegetiere so vor mich hin und möchte am liebsten sterben.

Meine Vermieterin, ich wohne ja noch gar nicht so lange in dem Haus, sie wohnt über mir, kümmert sich wirklich rührend um mich.

Sie bringt mir Essen, sagt mir immer wieder:

»Komm, iss was. Jetzt ist es halt so passiert, das wird wieder. Kopf hoch!«

Sie fährt mich zu Terminen, denn ich bin nicht in der Lage, in einen Bus zu steigen. Es ist so lieb von ihr und ich bin sehr dankbar, denn das ist nicht selbstverständlich. Ihre Hilfe und auch ihr Kümmern unterstützen mich sehr, denn eigentlich habe ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich möchte nicht mehr leben.

Mein Hausarzt schreibt mich erst mal krank. Ich bin ein Haufen Elend. Ich habe großes Vertrauen zu ihm. Er kennt meine Lebensgeschichte und da er bei uns auch Notarzt ist, haben wir im Dienst auch schon länger reden können. Er hat das Herz am rechten Fleck und ist noch so ein Arzt, wie man es sich wünscht. Er hört zu, ihm ist der Mensch wichtig und man fühlt sich gut aufgehoben.

»Schau, das ist wirklich schlecht gelaufen, aber es geht weiter. Du schaffst das! Du hast so viel geschafft. Gib nicht auf!«

»Aber mit mir will doch keiner mehr fahren, was denken denn nun alle von mir?!«

»Es werden alle mit dir wieder fahren, weil du deine Arbeit immer gut gemacht hast. Jeder wird sich dran erinnern. Also Kopf hoch! Du hast einen schlimmen Fehler gemacht, aber denk immer dran: Es ist nichts passiert! Das ist doch am wichtigsten! Steh wieder auf, Fehler passieren, jetzt mach es wieder gut!« Er schreibt mir Tabletten auf. Ich denke mir: Sehr gut! Alle auf einmal genommen, ein tiefer Schnitt in die Pulsadern, dann kann ich in Ruhe gehen. Was soll ich denn noch hier? Ich sehe nur noch einen dunklen Tunnel vor mir.

Die Nacht in der Zelle hat Panikattacken bei mir ausgelöst. Immer wieder habe ich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich kann die Handschellen noch an meinen Handgelenken spüren und die Angst, völlig ausgeliefert zu sein. Ich habe Alpträume, wache schweißnass auf, mache Licht an und starre meinen Hund an, der mich nach einiger Zeit wieder beruhigt. So kann ich wieder einschlafen. Es ist ja jemand da, der mich beschützt. Meine Alpträume sind immer gleich:

Ein dunkler Raum und von hinten höre ich etwas näherkommen. Ich möchte weg, aber ich kann weder reden, schreien, noch mich bewegen. Es kommt immer näher und näher. Ich habe Todesangst. Es packt mich, dann wache ich auf ...

Ich habe meine Hunde, weil ich sie liebe, weil ich Tiere liebe, ja, aber was viele nicht wissen, weil ich allein extreme Angst habe. Die traumatischen Erlebnisse in der Kindheit und die Vergewaltigung haben Spuren hinterlassen, denn so selbstsicher und »cool«, wie ich nach außen wirke, so zerbrechlich und unsicher bin ich in Wahrheit!

Meine Kindheit war geprägt von vielen einschneidenden Erlebnissen. Ich habe nie das Gefühl von Sicherheit gehabt. Mein leiblicher Vater prügelte aufgrund einer Krankheit auf meine Mutter ein, sodass wir immer wieder ins Frauenhaus flüchten mussten.

Im Frauenhaus war die Stimmung immer sehr angespannt und leider gab es auch unter den Frauen viel Streit, was man an sich niemandem zum Vorwurf machen konnte, denn allen ging es nicht gut.

Später dann die Scheidung, neue Partner meiner Mutter, der viele Alkohol ... Meine Mutter war mit allem völlig überfordert und so war ihr Freund »Alkohol« immer da.

Letzten Endes dann der Umzug zu meinem Stiefvater, mit dem es auch nicht immer leicht war.

Ich war als kleines Mädchen so traumatisiert, dass ich die erste Klasse wiederholen musste, da ich nur mit meinem Spielzeugpferd redete. Später dann in der Grundschule stand in meiner Beurteilung: Tina hat eine blühende Fantasie. Heute betrachtet war es einfach ein Hilferuf, ein »Ich will Aufmerksamkeit!«, weil ich niemals Aufmerksamkeit bekam.

Alle anderen Kinder hatten eine normale Familie, nur ich nicht. So zauberte ich mir meine Wunschfamilie und erfand großartige Geschichten.

Im Alter von ca. 10 Jahren erlebte ich dann die traumatische Erfahrung, dass mir eine Reitlehrerin ins Gesicht schlug. Bis heute habe ich das nicht vergessen.

Wir waren im Reitcamp und übernachteten auf diesem Pferdehof, zu dem ich zum Voltigieren ging. In der Reithalle spritzte uns die Reitlehrerin mit Wasser ab. Die anderen meinten, es wäre doch witzig, wenn sie auch mal abgespritzt würde. So sagten sie mir, ich solle es tun. So schlich ich mich an, nahm ihr den Schlauch weg und spritze sie voll. Daraufhin holte sie aus und schlug mir ins Gesicht. Totenstille in der Halle. Ich rannte vor Schreck in die Ecke und weinte und weinte. Klatschnass, der Schlag in meinem Gesicht brannte und alle ließen mich dastehen.

Unfassbar, wenn ich heute darüber nachdenke. Dieser Moment der völligen Bloßstellung und diese Hilflosigkeit haben sich tief in mir eingebrannt. In der Nacht kam die Reitlehrerin zu mir und gab mir einen Schokoriegel zur Versöhnung. Letzten Endes habe ich es niemandem erzählt, aber so etwas darf auf keinen Fall passieren.

Mit 12 Jahren verfolgte mich und meine Freundin auf dem Weg nach Hause ein Exhibitionist. Plötzlich stand er vor uns mit offener Hose. Ein Schock und es machte mir große Angst.

Mit 13 Jahren dann der Mann, der mich und meine Freundin auf seinem Pferd reiten ließ und nach einer Weile anfing, uns zufällig zu berühren. Es war fruchtbar, denn wir fühlten uns so ausgeliefert und konnten uns nicht wehren. Ich war damals unsicher, ohne Selbstbewusstsein und ich konnte mit niemand sprechen. Zuhause war meine Mutter oft betrunken und sonst war da niemand, dem ich es hätte sagen können. Es war wie eine Wiederholung, denn als kleines Mädchen mit ca. 6/7 Jahren geschah schon einmal, etwas in der Art. Kinder verdrängen dies jedoch oft, damit sie überleben. Ich hatte es bis dahin auch verdrängt, doch dann kamen die Erinnerungen.

Mit 17 Jahren dann die Vergewaltigung. Diese Nacht wird niemals aus meinem Kopf gehen. Seitdem kommen sie immer wieder, die Alpträume, die Ängste und die Panik.

Es war jedoch in den letzten Jahren weniger geworden, doch die Nacht in der Zelle hat alles wieder hochgeholt. Meine Hülle nach Außen, mein Gesicht, ist eine Maske, dahinter steckt ein kleines unsicheres Kind. Wenn es dunkel wird, kommen die Angst und die Erinnerung. Nicht immer, aber immer wieder und deshalb habe ich Hunde. Sie schützen mich, sie beruhigen mich und sie sind da. Ohne ihre Nähe würde ich wohl viele Nächte nicht schlafen und wäre tagsüber oft vor Müdigkeit nicht arbeitsfähig.

Wie soll es denn nun weiter gehen?

Ich weine und weine. Ich fühle mich völlig erschlagen, denn ohne Führerschein bin ich hier auf dem Land völlig aufgeschmissen. Wären meine Hunde nicht da, würde ich wohl nicht mehr aufstehen. Ich denke ernsthaft darüber nach, mich umzubringen.

Es erscheint alles so sinnlos, alles, was ich mir erschaffen habe, ist kaputt. Freunde versuchen, mich aufzubauen, mir Mut zu machen, reden auf mich ein, es wird alles gut, aber ich sehe momentan kein Licht.

Ich bin müde, wirklich müde, denn mein Leben war von Anfang an nicht leicht und immer ein harter Kampf.

Herz sucht Mut Seele sucht Halt

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