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Eine Welt ohne Amerika und mit Amerika

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Fünf Gründe, die keinen Zweifel zulassen: Amerika braucht den Westen nicht. Das hat Konsequenzen, die Game Over erläutern wird. Sie nicht zu erfassen, kommt Europa teuer zu stehen. An erster Stelle den europäischen Schrittmacher Deutschland, aber ebenso kleinere Nationen wie die Schweiz, die auch als nicht-EU Länder schon aus geografischen Gründen von Washington unter »Europa« und damit »dem Westen« verbucht werden.

Erstens, Amerika kann sich diese Haltung aufgrund seiner Stärke und Position noch eine ganze Weile leisten. Wir müssen uns also auf Dauer darauf einstellen und überlegen, welche Rolle wir in Bezug auf die USA einnehmen wollen. Mit Sicherheit falsch wäre die Idee, einfach das Abteil zu wechseln und sich in Ermangelung des amerikanischen in den russischen oder chinesischen Waggon zu setzen. Klar ist auch: Amerika wird seine Haltung nach den Präsidentschaftswahlen nicht fundamental ändern. Der jahrelange Vorlauf und die Wahlen selbst sind ein inneramerikanischer Richtungsstreit. Lassen wir uns nicht täuschen: Die junge, linksliberale Politikergeneration um Alexandria Ocasio-Cortez setzt auch grenzüberschreitende Themen wie Umweltschutz oder Migration auf die Agenda. Aber sie will primär das eigene Land verändern, nicht die Welt.

Zweitens, der Rückzug der Amerikaner macht Raum für die anderen. Diese werden alles daransetzen, das entstehende Vakuum zu ihrer Einflusszone zu machen. China, Russland und – mit Verzögerung – Indien werden Ansprüche anmelden. Ein zerfaserndes Europa läuft Gefahr, von diesen Elefanten des Planeten zertrampelt zu werden. Denn sie bringen wirtschaftlich, zunehmend militärisch und ganz einfach auch demografisch ein enormes Gewicht auf die Waage. Und die nötige Masse in den Raum, das schmächtiger werdende Europa, das gerade erst Großbritannien verloren hat, an den Rand zu drängen.

Drittens, wir bekommen es mit einem Paradox zu tun: Eine Welt »ohne Amerika« und »mit Amerika«. Im Jahr 2018 kamen die fünfzehn erfolgreichsten Filme in russischen Kinos bis auf eine Ausnahme sämtlich aus den USA. Die Stars der NBA touren regelmäßig durch China, die Spiele der besten Basketball-Liga der Welt sorgen dort für Rekordeinschaltquoten. Solange deutsche und europäische Geheimdienste auf die Server der privaten amerikanischen Tech-Giganten zurückgreifen müssen, solange im Westen das faktische Monopol der Informationsplattformen Google, Facebook und Co. anhält, solange der US-Dollar die globale Leitwährung bleibt, solange beim IWF, in der Weltbank und bei den Vereinten Nationen kein Stich gegen die amerikanische Stimme gemacht wird, solange wird Amerika primus inter pares bleiben.

Aus diesem Grund ist das derzeit in politikwissenschaftlichen Kreisen beliebte Bild einer zukünftigen Welt verschiedener Einfluss-Sphären nicht genau genug. Es lässt uns zwar sehen, dass sich künftig mit China, Indien, Russland, den USA und Europa (wenn der Zusammenhalt gewährleistet ist) die großen Fünf die Erde untereinander aufteilen werden. Auch die Herausforderungen, die hieraus erwachsen, werden nicht verschwiegen: Wie das Verhältnis zwischen den Einfluss-Sphären organisieren? Wie damit umgehen, dass somit faktisch eine Zweiklassengesellschaft der Länder entsteht: die Big Five und der Rest? Nebenbei: Keiner der großen Fünf fragt die kleineren Länder in der eigenen Fahrspur um Erlaubnis (im Falle Chinas etwa die Koreas, Vietnams und Taiwans). Eine entscheidende Tatsache verkennt das Bild der Einfluss-Sphären jedoch. Amerika wird als einzige echte global power auch zukünftig einen Sonderstatus einnehmen. Die Supermacht mischt in der indischen, europäischen und jeder anderen Einfluss-Sphäre mit, präziser: Sie dominiert entscheidende Grundkonstanten. Ohne diese können die Sphären nicht effektiv funktionieren, ja, sich nicht einmal aufrechterhalten.

Ein anderes Bild erklärt daher die Situation besser: Der Audi A3, der Skoda Octavia und der Seat Leon sind für sich genommen alle attraktive Fahrzeuge, je nach Geschmack und Geldbeutel. In allen drei Modellen ist die grundlegende Technik des VW Golf verbaut. Während also der Skoda oder Seat auf dem Käufermarkt in Konkurrenz zum VW stehen, würde sich keines der Autos ohne (eine leichte Variante des) VW-Motor auch nur vom Fleck bewegen. Wer Audi fährt, steigt selten auf VW um, wer Porsche fährt, wohl nie, doch ist das eigene Auto unter der Haube dem braven Volkswagen ähnlicher als so mancher Besitzer ahnen dürfte – oder wahrhaben will. Ähnlich verhält es sich mit dem globalen Einfluss der USA. Dieser ist nicht mehr derart offensichtlich an der Oberfläche wie noch zum Ende des Kalten Krieges oder selbst noch zur Jahrtausendwende. Unter der Motorhaube, um im Bild zu bleiben, ist jedoch unverändert viel »USA verbaut«. Trump weiß das genau (obgleich er sich ungleich mehr für Mercedes-Modelle als für den VW Golf erwärmen kann).

Gleich, ob es zum Beispiel um die Beschaffung oder Verschickung von Informationen geht: Der weltweit größte Softwarehersteller (Microsoft) mit dem klassischen Betriebssystem schlechthin (Windows), die meistbesuchte Website der Welt (Google) und der Social Media Gigant Facebook, auf den statistisch etwa jeder siebte Russe regelmäßig zurückgreift – sie alle sind made in USA. Die Abwicklung von Finanzgeschäften und Transaktionen rund um den Globus: läuft größtenteils noch immer über die Leitwährung US-Dollar. Die weltweite Erdölindustrie: rechnet in der Maßeinheit US-amerikanisches Barrel ab. Schließlich die gewaltige kulturelle Anziehungskraft. Seit dem Abtritt Obamas hat Amerikas »weiche Macht« (soft power) hierzulande gelitten, doch in großen Teilen Lateinamerikas und vor allem Asiens ist sie ungebrochen. Schon Kim Jong-il war ein glühender Fan der Rambo-Trilogie, sein Sohn Kim Jong-un zieht dem Vernehmen nach Disney-Filme vor.

Unter all diesen Aspekten stellt Amerika nach wie vor einen Referenzpunkt sogar für diejenigen dar, die dazu in Konkurrenz treten. Insofern leben wir unverändert in einer Welt »mit Amerika«. »Ohne Amerika« ist diese heutige Welt zugleich, da sich die letzte Supermacht der Erde von der Rolle des verantwortungsvollen Schirmherrn der westlichen Hemisphäre – ganz zu schweigen vom Globus – verabschiedet. Auch zu diesem Aspekt weitere Überlegungen im Kapitel »Zwischen Jackpot und Trostpreis« ab Seite 193.

Viertens und letztens: Diese gewaltigen Umbrüche eröffnen Chancen auch für alle, die noch nicht zum Club der Elefanten gehören. Ein einiges Europa, das im Kern zusammenhält und an den Rändern nicht zerfasert, hat alle Möglichkeiten. Doch es wird Zeit brauchen, sich aufzustellen und in diese neue Rolle hineinzuwachsen. Die Hürden sind hoch, und sie sind zahlreich. Europas Zentrifugalkräfte sind stark: Wird das größte Experiment des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert auseinanderfallen? Das hängt auch von der Kooperationsbereitschaft der EU-Mitglieder untereinander, vom Umgang mit dem Brexit und nicht zuletzt von der Akzeptanz innerhalb der EU für eine prominente Rolle Deutschlands ab. Das sensible Gewächs Europäische Union findet sich, geografisch wie etwa auch energiepolitisch gesehen, in einer relativ rauen Umgebung wieder. Gleichzeitig haben sich schon länger dicke bürokratische Wurzeln ausgebildet, die das Gewächs nach innen wie nach außen unflexibel und damit anfällig für scharfe Winde machen. Die Versuchung, sich einzukapseln, ist für Europa allgegenwärtig. Die Versuchung, sich zu verschweizern, für Deutschland jederzeit präsent. Dabei sollte uns die Einschätzung der renommierten Princeton-Politologin Anne-Marie Slaughter Mut machen. Slaughter leitete zwei Jahre lang den Planungsstab im US-Außenministerium unter Hillary Clinton. Im Gespräch mit mir stellt sie schon vor einer Dekade klar, dass »europäische Formen der Demokratie« im Prinzip global sehr viel attraktiver seien als das US-Modell. Europa tue sich selbst keinen Gefallen, die eigenen Errungenschaften nicht höher einzuschätzen und seine Vorbildrolle für andere anzuerkennen. Es sei ein unnötiger Fehler des alten Kontinents, sich bis heute unter Wert zu verkaufen. Wie wir dies ändern könnten, zeigt das Schlusskapitel »Neues Spiel, neues Glück« ab Seite 239.

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