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Ein neues Spiel

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Game Over für den Westen: Das bedeutet nicht, dass mit diesem Spiel alle Spiele auf immer vorbei sind. Stattdessen kann ein neues Spiel beginnen. Neues Spiel, neues Glück (siehe hierzu auch das gleichnamige Kapitel ab Seite 239), und damit neue Möglichkeiten. Allerdings heißt neu nicht willkürlich. Es bedarf von Beginn an einer durchdachten Strategie. So ist es beispielsweise keine gute Idee, nun einen »neuen« Westen in Konkurrenz zum bisherigen aufzubauen. Schon in Sachen Himmelsrichtung ergäbe das wenig Sinn, schließlich gibt es nur den einen Westen. Auch besteht die große und lange gemeinsame Geschichte des »alten« Westens fort. Die Errungenschaften der transatlantischen Allianz über die Jahrzehnte haben zweifelsohne ihre Berechtigung. Der Einfluss auf die Gegenwart ist unübersehbar und hat zurecht einen bis heute gewaltigen Stellenwert. Von Plato bis zur NATO – um David Gress’ bekanntestes Werk zu zitieren – erstreckt sich das Fundament unserer gemeinsamen Verständigung über uns selbst und die Welt im Ganzen. Schon früh wurde auf allen Kanälen in beide Richtungen gefunkt. Kulturell-diplomatisch, geschichtlich, auch und gerade rechtsgeschichtlich und politisch-demokratisch zeigt sich das gemeinsame aufklärerische Erbe. Statt also ein neues Kraftfeld aufzusetzen, das in Aufbau und Beschaffenheit in Konkurrenz zum bisherigen steht oder dieses doppelt, geht es darum, die Welt neu zu denken. Um dann Europa und innerhalb Europas Deutschland neu zu verorten. Nicht in bloßer Abgrenzung zum Bisherigen, sondern als sinnvolle, tragfähige und zeitgemäße Weiterführung in unserer Zeit.

Dazu werden wir unsere Denkgewohnheiten ändern müssen. Leichter ist es womöglich, mit den Sehgewohnheiten zu beginnen, wobei auch diese Umstellung nicht zu unterschätzen ist. Zur Veranschaulichung ein Beispiel von einer nicht allzu lange zurückliegenden USA-Reise, freilich ohne weltgeschichtliche Bedeutung. Auf der Rückfahrt zum Flughafen Washington D.C. blieb mein Mietauto mitten im ländlichen Virginia liegen. Ich hatte Pech, denn ich war unbemerkt über einen rostigen Nagel gefahren, der Reifen nun platt. Doch ich hatte auch Glück, denn der Weg in das Provinzstädtchen Front Royal war nicht weit, und so machte ich mich im Abendlicht zu Fuß auf den Weg, um bei der dortigen Werkstatt anzuklopfen. Plötzlich fiel mir auf, dass ich einen Begleiter hatte: Am Straßenrand neben mir schnürte ein junger Fuchs entlang – das erkannte ich auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen erschien mir der kleine Kerl etwas merkwürdig, aber was sollte es denn sonst sein? Tatsächlich lag ich gründlich daneben. Wie mir der Mechaniker später sagte, handelte es sich um ein Opossum. Ich hatte dieses Tier noch nie im Leben gesehen. Unsere Sehgewohnheiten aber sind hartnäckig, wir sehen, was wir kennen oder zu kennen meinen.

Was geopolitische Belange angeht, haben wir oftmals niemanden an der Seite, der uns zu einer neuen Sicht der Dinge verhilft. Dabei lohnt es sich bereits, einmal die Blickrichtung zu ändern. Wir sind es gewohnt, in Breitengraden zu denken. Diese umspannen den Planeten horizontal und legen uns daher die Kategorie »West/Ost« nahe. Sie ist uns schon lange zum primären Sortierungsmechanismus des Planeten geworden. Ändern wir hingegen unsere Sehgewohnheiten und denken in der vertikalen Kategorie der Längengrade, tun sich neue Ausblicke auf. Die Neufokussierung ist gewöhnungsbedürftig, aber sie erschließt Visionen. Dann erscheint ein neuartiger Nationenverbund auf der Nord-Süd-Achse vorstellbar, eine Alternative zur bisher unsere Perzeption der Welt bestimmenden West-Ost-Achse, entlang derer die transatlantische Allianz aufgespannt ist. Wohlgemerkt eine Alternative, keine in Konkurrenz gedachte Variante, kein zwingendes Entweder-oder und schon gar keine Gegnerschaft.

Wenn wir unsere Wahrnehmung der Welt einmal auf die Nord-Süd-Achse fokussieren, scheint ein schiefes Trapez auf, von den baltischen Staaten über Skandinavien bis zu den britischen Inseln hinüber, hinunter bis in den nordafrikanischen Raum und über das Schwarze Meer, die Ukraine und Weißrussland zurück hinauf ins Baltikum. So gewagt das zunächst klingt, so viele Vorteile würde es bieten. Es ist dies jedoch eine Vision, die Raum braucht. Und zuvor die Verständigung auf eine gemeinsame Lesart der Welt, wie sie uns heute entgegentritt. Daher findet diese Vision ihren Platz im Kapitel »Neues Spiel, neues Glück« ab Seite 239. Am Anfang steht die schmerzhafte Einsicht: Das Spiel, wie wir es kannten, ist vorbei (faktisch ist den meisten von uns, deren Leben im Westen seinen Anfang und Verlauf genommen hat, kein anderes bekannt). Es wurde ohne unser Zutun und ohne unsere Zustimmung beendet. Wir müssen nun erstens diese Erkenntnis annehmen, ohne zu resignieren. Dann zweitens die Ursachen hierfür richtig verstehen. Damit wir drittens auf die Konsequenzen hieraus vorbereitet sind. Dann können wir viertens selbst ein neues Spiel entwickeln. Und in diesem Spiel für Europa und Deutschland eine adäquate Rolle entwerfen.

Dieses Buch möchte auf diesem Weg eine Begleitung sein und an den vier zentralen Weggabelungen unterwegs Orientierung bieten. Immer sollten wir dabei dreierlei im Auge behalten: Die aktuelle Lage in den USA, die sich verändernde Rolle der USA in der Welt und die Konsequenzen hieraus für uns. Alle drei Dimensionen hängen zusammen; ohne die eine sind die anderen nicht zu verstehen. Ein Glück, dass sich diese äußerst komplexe Gemengelage zu bestimmten Zeitpunkten besser durchschauen lässt als dies gewöhnlich der Fall ist. Das Präsidentschaftswahljahr 2020 ist ein solcher Zeitpunkt. Die für uns zur Orientierung erforderlichen Wegmarken werden nun grell ausgeleuchtet. Es lohnt sich für uns, genau hinzusehen. Erfahrungsgemäß ist es schwierig, den Sieger vorherzusagen. Dafür ist das Wahljahr eine hervorragende Gelegenheit, die Risse und Spannungen der ältesten Demokratie der Welt aufzuzeigen. Sodann die USA als Brennglas für die grundsätzlichen Probleme der westlichen Welt heute zu sehen. Und daraus wertvolle Schlüsse für die Situation auf unserer Seite des Atlantiks zu ziehen: Wo wir stehen. Wo wir herkommen. Wo wir hinwollen – und wohin nicht.

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