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Amerikas neues Portfolio – und die Folgen

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Viele Amerikaner pflegen lebenslange Freundschaften mit Deutschen, Schweizern oder Polen. Noch mehr Amerikaner sind sich ihrer irischen und/oder italienischen Wurzeln sehr bewusst. Wer etwas auf sich hält, geht in Chur Skifahren und mindestens einmal im Leben aufs Oktoberfest in München, auch ohne jemals diese Städtenamen aussprechen zu können.

Die gleichen Menschen empfinden jedoch eine allzu enge transatlantische Verzahnung auf politischer bzw. wirtschaftlicher Ebene als zunehmend kostspielige Investition, die sich für ihr Land schlicht nicht auszahlt. Insofern liegt der Businessman Trump mit seinem Kassensturz bezüglich der internationalen Beziehungen Amerikas durchaus auf Linie mit einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung. Es ist in jedem Fall der lautere Teil. Trumps Unterstützer reklamieren die Meinungshoheit für sich (was rechnerisch nicht stimmt). Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Trumpianer sind ohnehin an seiner Seite, gerade in innenpolitischen Fragen. Doch was die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung Amerikas auf dem Globus betrifft, stimmen ihm im Grunde auch seine Kritiker zu. Der Stil des Präsidenten ruft bei ihnen Ablehnung hervor. Sein Ansinnen, die von den USA so empfundenen Handicaps in der internationalen Arena loszuwerden, wird unterstützt, wenn auch oftmals hinter vorgehaltener Hand. Aus Sicht der USA ist gerade der transatlantische Raum, sprich: die Verbindung zu Europa, allzu oft schlicht ein Handicap. Mühseliger Verhandlungspartner, schwerfälliger Alliierter, undankbarer Freund, Trittbrettfahrer. Diese Charakterisierungen sind nicht nur in Washington, und längst nicht nur im konservativen Lager, immer häufiger zu hören. Die komplizierte Entscheidungsstruktur der Europäischen Union trägt nicht zur Vertrauensbildung bei.

Kommt die Sprache auf das Militärische, wird diese Einschätzung noch deutlich entschiedener. Drei kurze Beispiele aus jüngster Zeit: Der Ukraine-Konflikt wird von den Amerikanern als europäisches Problem wahrgenommen, das sie sich quasi über die transatlantischen Beziehungen mit eingekauft haben. Viele Angehörige der US Army stammen aus dem Mittleren Westen, dem Herzen der USA. Von North Dakota oder Indiana aus gesehen liegt schon die Hauptstadt Washington auf einem anderen Planeten. Der dort residierende Präsident ist qua Amt auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er muss daher den Eltern in Bismarck, North Dakota, oder Berne, Indiana (einst von Schweizer Mennoniten gegründet), erklären, warum ihre Söhne und Töchter das ukrainische Donezbecken am anderen Ende der Welt gegen russische Aggressoren verteidigen und dabei ihr Leben riskieren sollten. Trumpianer wollen davon nichts wissen. Daran ändert auch der nüchtern-zurückhaltend formulierte Nordatlantikvertrag nichts. Im Gründungsdokument der NATO ist von der gemeinsamen Arbeit an »freundschaftlichen internationalen Beziehungen« die Rede. Die Ukraine ist nicht einmal Mitglied der NATO, wenn sie auch seit 2018 Beitrittskandidatenstatus hat. Polen, Estland oder Litauen hingegen sind vollwertige Mitglieder. Sie beobachten sehr genau, was ihre Mitgliedschaft im Fall der Fälle eigentlich noch wert wäre.

Der Syrienkrieg sieht von der anderen Seite des Atlantiks so aus: Amerikas plötzlicher Rückzug im Herbst 2019 wurde nicht mit den Verbündeten in der Region, den Kurden, abgesprochen. Für diese geht es ab sofort um die Existenz. Ein solches Vorgehen entspricht nicht dem Selbstverständnis der alten Garde amerikanischer Außenpolitiker wie McCain, Albright, John Kerry oder auch Bush Vater und Sohn. Doch erstens ist diese Garde bereits abgetreten und zweitens sind ihre Maximen die USA in Afghanistan, Irak oder Libyen teuer zu stehen gekommen. Hier wurde sehr viel investiert und bis heute praktisch nichts erreicht. Warum also weiter dieser Linie folgen? Mit ihrem Abtritt bringen sich die US-Truppen hingegen aus der Schusslinie und in Sicherheit. Die Nachteile hieraus sind überschaubar. Syrien hat praktisch keine Ölvorkommen oder andere Ressourcen, die aus Profitgründen schützenswert wären. Ja, im Chaos des Rückzugs und der Truppenverlagerungen sind viele IS-Kämpfer aus den Gefangenenlagern entkommen. Doch wie viele hiervon werden es über den Atlantik und bis nach Ohio oder Wisconsin schaffen? Gleichzeitig haben Trumps Unterhändler einen zeitweiligen Waffenstillstand für die Region erreicht, an den sich die Türkei, die Kurden und Syrer gehalten haben. Die Androhung massiver Sanktionen, ohne Rücksicht auf die NATO-Mitgliedschaft der Türkei, hat Gewicht. Nur drei Wochen später schaltet ein kleines Team amerikanischer Spezialkräfte den Kopf des Islamischen Staats, Abu Bakr al-Baghdadi, aus. Dieser Verlust wird den IS härter treffen als die Tötung bin Ladens unter Obamas Regie.

Der ferne Nachbar USA hat wieder einmal ein Problem vor Europas Haustüre gelöst, nachdem sich die Hausbesitzer dazu einfach nicht durchringen konnten. Noch dazu, bevor sich dieses Problem über das gesamte Wohnviertel ausbreiten konnte. So die Lesart vieler Amerikaner. Diese Einschätzung – ähnlich der Bewertung der Lage in der Ukraine – mag zum Teil auf der sprichwörtlichen geografischen und vor allem auch geopolitischen Ignoranz vieler Amerikaner beruhen. Sie wird zurecht auch längst nicht von allen geteilt. Schließlich hat die amerikanische Außenpolitik durchaus Anteil an der brisanten Situation im Nahen Osten. Doch für uns Europäer wichtiger als die Grundlage solcher Bewertungen soll für den Moment die Konsequenz hieraus sein. Um im Bild zu bleiben: Die USA beanspruchen für sich die Platzhoheit auf der globalen Spielanlage. Bis zum heutigen Tag nicht von ungefähr, wie ich in Game Over zeigen werde. Daraus ergibt sich eine bestimmte Lesart der Lage – etwa eben mit Bezug auf die Ukraine oder Syrien. Nahtlos fügt sich hier die Ausschaltung des iranischen Militärs Qasem Soleimani im Januar 2020 ins Bild. In diesem Fall hatte aus US-Sicht das Problem längst das »Wohnviertel« Naher Osten erfasst. Höchste Zeit zu handeln also, denn Soleimani war als Kommandeur der Quds-Brigaden dafür verantwortlich, Irans Einfluss in der Region noch zu vergrößern. Im Unterschied zu Syrien verfügt Irans Nachbar Irak über gewaltige Ölvorkommen. Trotz ihrem offenkundigen Interesse daran hatten sich die Amerikaner lange Zeit darauf beschränkt, die iranischen Aktivitäten im Irak einzudämmen. Das ändert sich mit der Belagerung der US-Botschaft Bagdad durch schiitische Milizen. Zwei Tage später stellt die US-Regierung mit größtmöglicher Härte die Platzhoheit Amerikas wieder her. Offiziell dient die Tötung Soleimanis der Abwendung einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr. Dieser Einstufung folgen viele Amerikaner, wohlweislich nicht nur Trump-Anhänger. Auch hier regiert eine große Unkenntnis, manchmal auch unverblümte Negierung der historischen Hintergründe. Zu gut klingt die Geschichte, die man sich selbst erzählt.

Gleichzeitig ist wie so oft auch in diesem Fall ein Bruchstück Wahrheit enthalten. Im Trumpschen Kosmos nimmt es allerdings überproportionalen Raum ein. Die perfide Strategie seines Lagers besteht darin, das Bruchstück so darzustellen, als mache es das Gefäß als Ganzes aus. In diesem Gefäß ist dann vermeintlich die Erkenntnis über den wahren Verlauf der Welt enthalten. Es ist fatal, und ein aus zentraleuropäischer Perspektive ernüchternder Gedanke, dass der »prozentuale« Wahrheitsgehalt von Analysen wie im Fall der Ukraine, Syriens oder Irans nicht entscheidend ist. Sondern die Tatsache, dass sich die Amerikaner aufgrund der eigenen Größe und militärischen Überlegenheit einen solchen Standpunkt schlicht leisten können. Und dass dieser Standpunkt im Trump-Lager, aber auch bei vielen Demokraten, auf Zustimmung stößt. Ein punktuelles Eingreifen in der Welt, dort, wo die eigenen Interessen bedroht sind, damit gehen die meisten Amerikaner nach wie vor konform. Die Zeiten dauerhaften Engagements sind hingegen vorbei. Die Supermacht legt sich gewissermaßen ein neues Portfolio zu, wie es der Politikwissenschaftler James Lindsay vom Council on Foreign Relations formuliert. Trump hatte dies mit untrüglichem Riecher schon im Wahlkampf 2016 erkannt. Im Gegensatz zu Hillary, welche die Brille der Außenministerin nie wirklich abnahm. Ein kostspieliger Fehler in einem Land, in dem – wie in Deutschland oder der Schweiz auch – Wahlen über Innenpolitik gewonnen werden.

Trumps erste – und womöglich einzige – Amtszeit ist beinahe abgelaufen, und noch immer tun sich selbst politische Verbündete schwer damit, seine Handlungen nachzuvollziehen. Zahllose Journalisten und Experten in den Denkfabriken Washingtons, New Yorks und Chicagos und in aller Welt versuchen tagtäglich, sich einen Reim auf den Präsidenten zu machen. Noch schwerer fällt die Erklärung für getroffene Entscheidungen, oder gar die Prognose dessen, was als Nächstes zu erwarten ist. Schon Trumps Wahlsieg war der Tag, »an dem das Umfragewesen zu Tode kam«, so bekam man es auf den Straßen der US-Hauptstadt zu hören. Hatte doch selbst die renommierte New York Times noch am Morgen prophezeit, Hillary Clinton werde am Abend mit 85-prozentiger Wahrscheinlichkeit Präsidentin sein. Dann der Schock für die politische Community, die ihr Land lange Zeit für sehr berechenbar gehalten hatte. Allem Anschein nach reichte das Schüren von Ressentiments tatsächlich aus, einen erklärten Antipolitiker bis ins höchste Staatsamt zu tragen, dessen ganzes »Politikprogramm« aus der flachen Parole bestand, »den Sumpf in Washington trockenzulegen«.

Trumps Kritiker haben für diese Einsicht sehr lange gebraucht. Mittlerweile, im Vorlauf zur Wahl im November 2020, haben sie hieraus ihre schärfste Waffe geschmiedet. Im Jahr 2016 allerdings ist nicht nur das moderate Amerika, sondern auch ein Großteil des konservativen und erzkonservativen Establishments schlicht erschüttert über diesen Pennywise der Politik. Wie der Clown aus Stephen Kings Horrorklassiker Es riecht Trump die Ängste der Menschen, und er lebt von ihnen. Linksliberale sind entsetzt (der Begriff »liberal« steht in den USA für ein nach hiesigem Dafürhalten eher sozialdemokratisches Politikverständnis). Selbst Trumps treueste Fans wirken zunächst überfordert. Noch am Vorwahltag hatten sie kaum Geld auf den letztlichen Triumph ihres Helden setzen wollen (in amerikanischen Wettbüros kann auf fast alles gewettet werden). Es schien beinahe, als sei Trump, der die Unberechenbarkeit zur Maxime gemacht hat, auch ihnen nicht immer geheuer.

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