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II. Kriminalität

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17 Verglichen mit dieser vielfältigen und uneinheitlichen Präsentation des Fachs scheint dessen Gegenstand, die Kriminalität, auf den ersten Blick leichter zugänglich. Wir alle haben dazu illustrierende Alltagsvorstellungen. Indes sollte eine seriöse Bestimmung mehr leisten – und stößt dabei auf erstaunliche Schwierigkeiten. Kriminalität ist nicht direkt anschaubar oder betastbar. Sie verbirgt sich im common sense des Alltagsverständnisses, das wir für eine wissenschaftliche Bestimmung aufbereiten und rekonstruieren müssen. Auf dem Umschlag eines Einführungsbuchs in die Humanmedizin kann das Thema durch die anatomische Zeichnung eines menschlichen Körpers vollständig versinnbildlicht werden. Aber wie sollte man Kriminalität korrekt illustrieren?

18 Das Wort „Kriminalität“ geht zurück auf das lateinische crimen (Anklage, Beschuldigung), eine Ableitung von cernere (auswählen, entscheiden). Es bedeutet ursprünglich etwas, das ausgewählt und beurteilt wird. Später erfolgte die semantische Einengung auf den förmlichen strafrechtlichen Vorwurf und die Handlungen, auf welche sich dieser Vorwurf bezieht. Etymologisch weist der Begriff Kriminalität zunächst auf eine strafrechtliche Attribution und sodann auf die in dieser Attribution als strafrechtlich relevant bestimmten Handlungen hin. „Kriminalität“ hat also einerseits mit dem Vorgang der Zuschreibung dieser Bezeichnung im strafrechtlichen Vorwurf zu tun und andererseits mit dem Verhalten, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Dieses in der ursprünglichen Begriffsbedeutung angelegte ambivalente Verständnis der Kriminalität als Verhalten und als Zuschreibung wurde in der Kriminologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und führte zu einem Grundlagenkonflikt zwischen erklärenden traditionellen Richtungen und der seinerzeit neuen Perspektive des Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.).

19 Der Begriff „Kriminalität“ ist einerseits ein ordnender Sammelbegriff, andererseits ein zu emotionaler Distanzierung animierender Unterscheidungsbegriff. Als Sammelbegriff bestimmt er die Gesamtheit der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Handlungen unter diesem Gesichtspunkt als artgleich. Als Unterscheidungsbegriff [28] ist Kriminalität negativ besetzt und markiert eine Sinndifferenz zu positiv besetzten Begriffen wie Ansehen, Erwünschtheit oder Privileg. Das Wissen über die ordnende und die orientierende Funktion von Kriminalität wird in einem vorurteilsbesetzten Verständnis erarbeitet und ist als ein generelles und implizites, jedoch bei Bedarf situativ explizierbares Hintergrundwissen den sozialen Akteur:innen präsent. Durch Aktivierung dieses Hintergrundwissens lassen sich wahrgenommene Handlungen in einen Vorrat an Unterscheidungen einordnen und Sinnzuschreibungen vornehmen.

20 Für Begriffe wie Kriminalität ist charakteristisch, dass ihr Bedeutungskern nicht fix bestimmt ist, sondern sich je nach seiner Rahmung in einem spezifischen kulturellen Kontext innerhalb des Begriffshofs verschiebt. Die relative Flexibilität der Bedeutung von Kriminalität wird dadurch gefördert, dass das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgegriffen wird. Aufklärerische Philosophie, Anthropologie, Soziale Arbeit, Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Strafrechtswissenschaft gewinnen ihm jeweils eine andere Bedeutung ab, deren Relevanz begrenzt bleibt. Die Pluralität der wissenschaftlichen Anschauungen bewirkt, dass der Rahmen des Themas sich diesen entsprechend anders spannt. Für die einen geht es um biologische Dispositionen, für andere um das persönliche Umfeld, die Sozialstruktur oder um soziale Reaktionen auf Kriminalität.

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Die offizielle Zuschreibung von Kriminalität erfolgt durch das Strafrecht, dessen Inhalte je nach Zeitalter, Gesellschaft und Rechtskreis unterschiedlich sind. Was hier und heute bei Strafe verboten ist, kann früher und anderswo erlaubt (gewesen) sein und morgen erneut gestattet werden und umgekehrt. Die aufklärende Lehre des Sokrates (469-399 v. Chr.) – im antiken Griechenland als kriminelle Verführung der Jugend geahndet – erscheint uns heute als Tugend. Der strikte Befehlsgehorsam der Nazi-Schergen offenbart sich heute als Banalität des Bösen (Hannah Arendt, 1906-1975).

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Die Bestimmung von Kriminalität durch das Strafgesetz ist generell-abstrakt. Um diese Bestimmung konkretem Verhalten zuordnen zu können, muss das Strafgesetz von den Instanzen der Strafjustiz auf solches Verhalten angewandt werden. Die konkretisierende Rechtsanwendung ist mit den Vagheiten der Sprache behaftet. Entscheidungen könnten stets abweichend getroffen und anders begründet werden. Das staatliche Entscheidungsmonopol über die offizielle Bestimmung von Kriminalität hindert nicht daran, dass wir alle unsere eigenen Vorstellungen über Anwendungen des Strafrechts bilden, wobei diese unterschiedlich ausfallen mögen. Nicht nur der Verlauf der Strafzone ist verschieden [29] bestimmbar. Auch die Bedeutungen, welche den als verboten geltenden Handlungen zugewiesen werden, sind perspektivenhaft unterschiedlich: Was sich für die Polizei als beschädigende Eigentumsverletzung darstellt, verstehen Sprayer:innen als subversive Kunst. Dazu variieren die Auffassungen über die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit des strafrechtlichen Verbots in Zeit und Raum sowie innerhalb einer Gesellschaft, wie Kontroversen um die Reichweite der Zulässigkeit von Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch zeigen.

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Wie bei der Zuschreibung von Kriminalität ergibt sich eine verwirrende Vielfalt von Aspekten und jetzt auch kniffligen Fragen, wenn wir Kriminalität als konkretes Verhalten verstehen, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Was eigentlich macht „kriminelles Verhalten“ aus, wenn nicht seine strafrechtliche Ausweisung als Rechtsbruch? Und was verbindet so disparate Handlungen wie Ladendiebstahl und Eifersuchtsmord außer dem oberflächlichen Band des strafrechtlichen Verbots? Ist die unentdeckt bleibende Straftat (→ § 17) oder das Delikt, von dessen Bestrafung man sich bei der Staatsanwaltschaft freikauft (§ 153a StPO), Kriminalität? Ist es überhaupt möglich, ein kriminelles Verhalten zu studieren, wo doch seine kennzeichnende Eigenschaft „kriminell“ nicht im Verhalten angelegt ist, sondern durch Zuschreibung erfolgt?

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Wenn wir unterstellen, dass der Verhaltensaspekt von Kriminalität als solcher studiert werden kann, bleibt zu klären, mit welcher Brennweite wir uns diesen vor Augen führen wollen. Mikroskopisch stellt sich etwa die Frage: Warum brechen bestimmte Personen das Recht und andere nicht? Mesoskopisch interessiert vor allem das Entscheidungsverhalten von Polizei und Justiz. Makroskopisch sind Einflüsse der Gesellschaft und ihrer Struktur auf Menge und Form der registrierten Kriminalität von Interesse. Innerhalb dieser Möglichkeiten ist abermals zu differenzieren, etwa danach, was genau an kriminellem Verhalten zu erklären sei: Die einzelne Verhaltenssequenz, die auf solches Verhalten bezogene charakterliche Anlage, die Rückfälligkeit, der kriminelle Lebensstil, der Einstieg, das Verbleiben oder der Ausstieg aus einer kriminellen Karriere?

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Die Bandbreite der Verständnismöglichkeiten von „Kriminalität“ ist nicht verwunderlich. Auch „Familie“ bedeutet für die katholische Kirche nicht dasselbe wie für die alleinerziehende Mutter, in Deutschland nicht dasselbe wie in der Türkei oder Kolumbien und in der Spätmoderne etwas anderes als im Mittelalter. Der Grund für die Bedeutungsvielfalt besteht darin, dass Kriminalität keine ontologische Realität besitzt: Ihr Wirklichkeitsbezug erschöpft sich in der Anwendung des Begriffs auf spezifische Handlungen, die damit als kriminell [30] erscheinen. Die Handlungen selbst sind nicht „in sich“ kriminell. Vielmehr werden in Zeiten und Gesellschaften unterschiedliche Anwendungen des Begriffs Kriminalität praktiziert, wobei teilweise durchaus Bagatellen erfasst und manches extrem sozialschädliche Verhalten ausgespart wird. Die Kriminalität ist, kurz gesagt, ein Produkt der Gesellschaft und drückt deren jeweilige kulturelle Einschätzung aus.

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Die Gesellschaft ist die Aushandlungsinstanz von Kriminalität. Die soziale Interaktion über Normalität und Normabweichung, Erwünschtes und Geächtetes, Toleranz und Repressionsbedürftigkeit bestimmt die Inhalte der Kriminalität. Diese ist nicht ohne ihren Charakter als Abweichung von einem gesellschaftlich definierten Normalitätsmaßstab definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Mehr noch: Kriminalität ist ein Spiegel der Gesellschaft. In der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung der Kriminellen drückt sich pars pro toto die jeweilige Gesellschaft in ihrem Normalitätsverständnis und ihrer Toleranzbereitschaft aus. Der Charakter der Kriminalität als Werk und Spiegel der Gesellschaft ist die Basis, auf der die miteinander wetteifernden Grundverständnisse der Kriminologie entwickelt und eigene Positionen bezogen werden können.

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