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II. Die K#rn_19lassische Schule des 18. Jahrhunderts

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[55] Lektüreempfehlung: Foucault, Michel (1976b): Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M., 93-132; Naucke, Wolfgang (1989): Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria. Heidelberg, 37-53.

4 Noch nicht 26-jährig, veröffentlicht der Mailänder Graf Cesare Beccaria Bonesana (1738-1794) 1764 ein schmales Buch unter dem Titel „Dei delitti e delle pene“ („Über Verbrechen und Strafen“). Diese bald ins Französische und ins Deutsche übersetzte Schrift entfacht in wenigen Jahren europaweit eine hitzige Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik. So verfasst Voltaire (1694-1778) 1766 einen Kommentar zu diesem Buch, der mit den Worten beginnt:

„Ich stand mitten in der Lektüre des kleinen Buchs über Verbrechen und Strafen, das in der Moral ist, was in der Medizin die wenigen Heilmittel sind, mit denen unsere Übel erleichtert werden können. Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht […].“66

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Beccarias Werk, dessen Titel bereits den Zusammenhang des Verbrechens mit der Gesellschaft betont, liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein despotisches und irrationales Strafrecht, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter pönalisiert. Angeprangert werden die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das sich an der Sozialschädlichkeit von unter Strafe gestellten Handlungen ausrichtet und das von unabhängigen gesetzlichen Richtenden vollzogen wird.

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Die Grundannahme der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien, formt das Menschenbild eines rational und autonom handelnden Individuums. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, dass prinzipiell jeder Mensch fähig ist, eine unter Strafe stehende Handlung zu begehen und es keine individuellen Ursachen des Straffälligwerdens jenseits der freien Entscheidung der Täter:innen gibt. Damit werden mögliche täter:innenorientierte Erklärungen des Straffälligwerdens, welche das strafbare Verhalten von Umständen jenseits des freien Willens als abhängig erscheinen lassen, verworfen.

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[56] Die Ursachen der Kriminalität bestimmt Beccaria vor allem in einer unvernünftigen Gesetzgebung, welche die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern, die widersprüchliche, für den Bürger unverständliche Gesetze produziert, welche die natürlichen Rechte des Individuums missachtet und die Furcht in der Bevölkerung steigert. Weitere Ursachen sind eine korrupte Rechtsprechung, ein gesetzlich unzureichend geregeltes Strafverfahren sowie die Begünstigung des Denunziantentums durch geheime Anklagen. Damit sind für Beccaria die Ursachen der Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst, in seiner unvernünftigen und ungerechten Struktur, angelegt. Eine erfolgreiche Verbrechensvorbeugung erfordert deshalb einen grundlegenden Wandel des Strafrechts und seiner Anwendung, ja letztlich der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.67 Nicht von ungefähr ist Beccarias Mailänder Lehrstuhl der „Politischen Ökonomie und Wissenschaft der Polizei“ gewidmet, wobei „Polizei“, dem griechischen politeia folgend, sich umfassend mit der Innenpolitik befasst.

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Der Erklärungsansatz Beccarias besitzt Aktualität. Indem er die Verbrechensursachen in kriminogenen Befindlichkeiten des Kriminaljustizsystems und in der gesellschaftlichen Makrostruktur sucht, deutet er die Kriminalität als ein rechtlich und gesellschaftlich produziertes Phänomen, das durch die soziale Reaktion darauf erklärbar wird.

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Für die von Beccaria geprägte Klassische Schule folgt – anders als für den philosophischen Idealismus Immanuel Kants (1724-1804) – die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäßigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Das Übermaß der Züchtigungen wird weniger als Missbrauch denn als Regellosigkeit und fehlende Ökonomie des Strafens kritisiert. Die Klassische Schule propagiert mit ihrer humanitär motivierten Kritik keine neue Empfindsamkeit, sondern ein neues ökonomisches Kalkül des Strafens, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Die Strafe dient nunmehr zur differenzierten Behandlung der Gesetzwidrigkeiten. Die Willkür und Maßlosigkeit wird ersetzt durch eine proportionale Ökonomie, die nur gerade so viel bestrafen will, wie ausreicht, um Delikte zu verhindern.68 Damit wird die Grundlage für ein präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht gelegt, das sozialtechnisch bestimmt ist.

10 [57] Diese Entwicklungslinie der Klassischen Schule wird besonders in England weiterverfolgt. Der von Jeremy Bentham (1748-1832) geprägte britische Utilitarismus ist um höchste technologische Strafeffizienz bemüht. In diesem Sinne schlägt Bentham Gefängnisbauten in Form eines die totale Überwachung ermöglichenden Panopticons vor. Für den Utilitarismus sind menschliche Handlungen vom Streben nach persönlichem Wohlergehen und der Vermeidung von schmerzhaftem Leid motiviert. Die Aufgabe des Strafrechts besteht folglich in der Sicherstellung, dass das angedrohte Leid der Bestrafung potenzielle Täter:innen von dem mit Straftaten verbundenen persönlichen Gewinn abschrecken wird. Die Vorstellung der Strafe als eine Art ökonomische Lenkungsmaß-nahme, die potenzielle Täter:innen in ihrer autonomen Entscheidung für oder gegen ein Straffälligwerden beeinflussen könne, wird in der Gegenwart von der neoklassischen ökonomischen Kriminalitätstheorie wieder aufgegriffen (→ § 12 Rn 11 ff.).

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Die Klassische Schule bildet die Kriminologie noch nicht als eigenständiges Fach aus. Die Befassung mit Kriminalität erfolgt nicht aus Expert:innensicht, sondern aus der Perspektive einzelner Universalgelehrter und folgt dem zwiespältigen Anliegen einer humanitären und zugleich effizienzorientierten Strafrechtskritik. Bewusst wird auf die Suche nach charakteristischen Merkmalen von Rechtsbrecher:innen verzichtet. Ein Konzept für einen speziell auf Kriminalität bezogenen Untersuchungsansatz fehlt. Das Verbrechen wird als eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen betrachtet. Differenzierende Erklärungen dafür, warum einige dem Verbrechen verfallen und andere nicht, werden nicht gegeben.

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