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IV. Strafe und Gesellschaft
ОглавлениеLektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The culture of punishment. New York/London, 4-53.
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Die Kriminalität wie ein Objekt der natürlichen Welt darzustellen, ist eine manchmal zweckdienliche, aber immer verzerrende Abstraktion. Kriminalität ist nicht einfach eine empirisch beschreibbare Tatsache. Wie „Ängstlichkeit“ oder „Aggressivität“ ist Kriminalität eine Sinnzuweisung bezüglich des Verhaltens eines anderen von einem bestimmten Beurteilungsstandpunkt aus. Die Erforschung dieses Phänomens darf sich deshalb nicht in dem nackten Verhalten erschöpfen, das in der einen Nation als strafbar, in der anderen als straflos gelten mag. Der dem Verhalten zugewiesene Sinn des Strafbaren, die gesellschaftliche Aushandlung dieses Sinns, seine faktische Durchsetzung und der soziale Wandel der Anschauungen verdienen Beachtung. Erst das Strafgesetz und die Gesellschaft, welche jenes produziert, machen ein bestimmtes Verhalten zu einer Straftat. Kriminalität zu studieren verlangt deshalb die Mitberücksichtigung seiner Produktionsbedingungen innerhalb der pönalisierenden Gesellschaft. Wir werden deshalb neben theoretischen Verhaltenserklärungen [33] auf die kriminalpolitische Dimension der gesellschaftlichen Gemachtheit von Kriminalität eingehen. Dabei werden uns die Auswirkungen der Rahmenbedingungen der heutigen neoliberalen Konsumgesellschaft auf die Kriminalität und den sozialen Umgang damit besonders interessieren.
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Strafe ist Bedürfnisbeschneidung in einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die Annahme der vorangehenden Übelzufügung der Täter:innen veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die in ihrer scheinbaren Trivialität überzeugende Logik der Vergeltung. Diese wird in der westlichen Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie27 und die punitiven medial gestützten Rufe nach Strafhärte28 untermauert.
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Strafende Vergeltung antwortet auf ein gesellschaftlich relevantes Geschehen und ist zugleich als angeblich zweckfrei von solchem Geschehen abgelöst. Vergeltung bestätigt die Annahmen individueller Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit. Das Konzept reduziert damit die Komplexität interaktiver menschlicher Beziehungen auf einseitige Ursächlichkeiten. Rechtfertigungsversuche der Strafe gründen darauf und setzen sich so zu dem zweckbezogenen Anliegen der Nützlichkeit und dem gesellschaftlichen Unterfangen der Integration in Widerspruch. Dem Anliegen wird in Rehabilitationsversuchen Rechnung getragen. Das Verständnis der Straftat als „Bruch“ des grundlegenden Gesellschaftsvertrags, der exzeptionelle Maßnahmen feindlicher Art29 erlaubt, stempelt die Bestraften zu „Anderen“, geradezu „ultimativen Fremden“, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben und deren Ausgrenzung deshalb förmlich zu bestätigen ist. Die Arbeit an Gefangenen scheint damit in Widerspruch zu stehen. Sie gedeiht in einem Klima der „aggressiven Solidarität“, in welchem wohlmeinende Reaktionen auf sich selbst zugestandene Fehltritte und harte Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Gesellschaftsfeinde zugleich vorhanden sind (→ § 19 Rn 72 f.).
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[34] Individuelle Opfer von Straftaten stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses, soweit ihr Leiden einfach nachvollziehbar ist und jedem bzw. jeder passieren könnte. Das dadurch erzeugte Mitgefühl konzentriert sich auf Ereignisse durch Gewalt und Übergriffe durch (vermeintlich) Fremde. Die oft sozialschädlicheren opferlosen oder fahrlässig verübten Delikte drohen dabei ähnlich wie das nichtkriminelle Opferwerden in den Hintergrund gedrängt zu werden. Ehrenwerte Bemühungen, das im Strafverfahren lange vernachlässigte Opfer mit mehr Rechten auszustatten, schränken Verteidigungsrechte ein und sind nur begrenzt möglich. Die organisierte Opferhilfe bezieht sich auf virtuelle Opfer und gipfelt oft in Forderungen nach härterer Bestrafung. Die Belange realer Opfer, ihre Respekt- und Entschädigungswünsche werden dabei vernachlässigt (→ § 24 Rn 25 ff.).
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Das soziale Leben in der Gesellschaft wird in der Auseinandersetzung mit zumeist medial vermittelten Straftaten und ihrer Behandelbarkeit gestaltet. Die rituellen Prozesse der Bestrafung, die Diskurse des Verurteilens und des Wiedereingliederns schaffen den gesellschaftlichen Rahmen, in welchem inklusive Praktiken für alle (anderen) möglich sind. Aus der exemplarischen Ausgrenzung der Einen wird der soziale Kontrakt der Zugehörigkeit der Anderen geschmiedet. Je brüchiger die Bande der Teilhabe ausfallen, desto entschiedener müssen die Praktiken der Ausgrenzung durch Strafe sein (→ § 21 Rn 30 ff.). Eine Werbekultur, die Konsumierende ästhetisch und symbolisch anspricht anstatt sie nüchtern zu informieren30, stützt dabei einen sensationslüsternen Umgang mit Verbrechen und Strafe, in der das medial zur Schau Gestellte von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar ist und das Allgemeinwissen sowie die Kriminalpolitik prägt.