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§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit

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[46] Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.

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An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, der mitfühlenden Angehörigen, der spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesenden geprägt. Die subjektive Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.47

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Ausdruck eines solchen möglichst wertungsfreien Zugangs zum Thema ist die Ablösung der Bezeichnungen „Kriminelle:r“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist eine tragfähigere Basis [47] für eine Wissenschaft, die sich dem Anspruch eines möglichst vorurteilsfreien Studiums stellt.

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In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal dahin verstanden, die Wissenschaft müsse strikt „wertfrei“ und „objektiv“ vorgehen. Gefordert ist eine Trennung der emotional befrachteten lebenspraktischen Wahrnehmung von der wissenschaftlichen Untersuchung. Letztere müsse von den Trübungen dieser Wahrnehmung gereinigt, rein „wertneutral“, also gleichsam auf einer kognitiven tabula rasa erfolgen. In den Naturwissenschaften erscheint diese Auffassung noch einigermaßen plausibel, obwohl auch die modernen Naturwissenschaften ihren fragwürdigen Rigorismus nicht mehr teilen48: Chemiker:innen, die eine unbekannte Reagenz auf ihre Bestandteile analysieren, mögen dabei von Neugier, Wissensdurst und Streben nach Reputation geplagt sein. Solange sie die Regeln der experimentellen Forschung einhalten, werden sie ungeachtet des eigenen möglichen Interesses an spektakulären Ergebnissen einigermaßen „wertneutral“ zu „objektiven“ Erkenntnissen gelangen.

4 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die die Forschenden gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihnen dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.49 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit der Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität der eigenen lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.

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[48] Kriminolog:innen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (1925-2017) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.

„One could say that the main service the art of thinking sociologically may render to each and every one of us is to make us more sensitive; it may sharpen up our senses, open our eyes wider so that we can explore human conditions which thus far had remained all but invisible […] Sociological thinking is, one may say, a power in its own right, an antifixating power. It renders flexible again the world hitherto oppressive in its apparent fixity; it shows it as a world which could be different from what it is now. It can be argued that the art of sociological thinking tends to widen the scope, the daring and the practical effectiveness of your and my freedom. Once the art has been learned and mastered, the individual may well become just a bit less manipulable, more resilient to oppression and regulation from outside, more likely to resist being fixed by forces that claim to be irresistible.“50

6 Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhänger:innen des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) abgeschwächt. Aus der Einsicht, dass Forschende als Menschen zu einem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand ein je spezifisches Verhältnis haben, das auch ihr Forschungsverhalten bestimmt, wurde abgeleitet, werturteilsbehaftete Aussagen seien Forschenden wie allen anderen sonst im politisch-moralischen Diskurs unbenommen, im Forschungsprozess haben sie sich ihrer aber zu enthalten. Das Problem, wie dies möglich sei, sucht Popper mit einer Analogie zum Kaffeetrinken zu lösen: Die notwendig auf eine subjektive Stellungnahme hinauslaufende Anteilnahme der Forschenden am gesellschaftlichen Forschungsgegenstand entfalte eine bloß anregende Wirkung wie der Kaffee, den der:die Chemiker:in vor Erstellen des Experiments genieße. Sofern nur die Forschung selbst nach dem Modell eines naturwissenschaftlichen Experiments durchgeführt [49] werde, seien deren Befunde objektiv gültig. Erst die Tilgung, oder besser: die Verleugnung der subjektiven Komponente macht die erfahrungswissenschaftliche Versuchsanordnung möglich:

„Jeder empirisch-wissenschaftliche Satz (muss) durch Angabe der Versuchsanordnung u. dgl. in einer Form vorgelegt werden, dass jeder, der die Technik des betreffenden Gebiets beherrscht, imstande ist, ihn nachzuprüfen.“51

7 Nach dem von Poppers Kritischem Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnis der objektivierenden empirischen Forschung muss man sich als Kriminolog:in von der eigenen persönlich-moralischen Werthaltung zur Kriminalität freimachen, muss sich auf die Aufstellung solcher Behauptungen („Hypothesen“) beschränken, die experimentell überprüfbar sind, d. h. an Erfahrungen scheitern können. Die Wahl eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts der Kriminalität – etwa Kriminalität als mögliches Ergebnis einer bestimmten biologischen Veranlagung oder einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur – ist im Kritischen Rationalismus zwar Teil des unverbindlichen Entstehungszusammenhanges, in dem Forschende nach ihren persönlichen Neigungen ein ihnen anregend erscheinendes Thema wählen. Die Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens ergibt sich hingegen allein aus dem Begründungs- oder Rechtfertigungszusammenhang, in welchem die Beobachtungen und Schlussfolgerungen ohne subjektive Beimengung rein objektiv empirisch getestet und systematisch geprüft werden.

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Aber wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitfühlen auslösen, völlig leiden-schaftslos studiert werden können? Die kriminologischen Untersuchungsgegenstände sind jedenfalls keine rein wertneutral zugänglichen Präparate unter dem Mikroskop der Forschenden, sondern Produkte menschlicher Handlung und Deutung, die die Forschenden interpretativ erschließen und auf die sie mit ihrer Forschung verändernd einwirken. Bereits die Wahrnehmung als erster Filter der empirischen Beschäftigung mit sinnlich erfassbaren Aspekten von Kriminalität ist vom Menschen als einem empathisch empfindenden Sozialwesen geprägt. Davor vermag auch das Bemühen um scheinbar „objektivierende“, menschliches Verhalten quasi naturwissenschaftlich erschließende Zugangswege nicht zu schützen. Zudem fließen bei der Wahl eines dem:der Forschenden unter den Nägeln brennenden Themas interindividuell unterschiedliche [50] Empfindungen und Assoziationen zum Kriminalitätsthema unvermeidlich mit ein (→ § 2 Rn 11).

„Der Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur besteht darin, dass Natur nicht vom Menschen gemacht ist, nicht durch den Menschen erzeugt wurde. […] Die Gesellschaft […] ist nicht von einer einzelnen Person geschaffen worden, sie wird vielmehr (wenn auch nicht ex nihilo) durch die Teilnehmer eines jeden gesellschaftlichen Kontakts geschaffen und aufrechterhalten. Die Produktion der Gesellschaft ist eine auf Fertigkeiten beruhende, vom Menschen getragene und ,geschehen gemachte’ Leistung. Sie ist nur möglich, weil jedes (kompetente) Gesellschaftsmitglied ein praktischer Gesellschaftstheoretiker ist; bei jeder Art von Kontakt, den es unterhält, greift es normalerweise ungezwungen und routinemäßig auf sein Wissen und seine Theorien zurück, und der Gebrauch dieser praktischen Ressourcen ist genau die Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Kontakte überhaupt. Solche Ressourcen […] sind als solche vom theoretischen Standpunkt der Sozialwissenschaftler nicht zu verbessern, sondern werden von diesen im Laufe jeder Untersuchung, die sie durchführen, selbst in Anspruch genommen. D. h., die Beherrschung der Ressourcen, die Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Interaktion befähigt, ist ebenso eine Voraussetzung für das Verstehen dieses Verhaltens durch den Sozialwissenschaftler wie sie es für jene Mitglieder selbst ist.“52

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Die Praxis der deutschsprachigen Kriminologie wird indes nach wie vor von dem vorherrschenden Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) bestimmt. Danach gilt es, „die Gesamtheit des Erfahrungswissens“53 zu sammeln und zu ordnen. Kriminologie wird so als Erfahrungswissenschaft verstanden, die sich auf die Beobachtung erhobener Fakten gründet und die gewonnenen Wahrnehmungen an theoriegeleiteten Hypothesen überprüft. Ziel ist die Gewinnung eines „festen Bestandes an gesichertem Wissen“54. Damit soll sich die Kriminologie zu einer „harten“ Wissenschaft entwickeln, die streng auf aussagekräftigen Beobachtungen beruht.55 Der in den Sozialwissenschaften unhaltbare Rigorismus eines „wertfreien“ Erkennens vermittelt den trügenden Eindruck, die Sozialwelt sei als eine Fülle vermeintlich naturalistisch beobachtbarer „Befunde“, „Daten“ oder „Tatsachen“ vorgegeben.

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Diesem Eindruck entspricht die Vorstellung, die erhobenen Beobachtungen ergänzten einander und würden sich, Mosaiksteinchen ähnlich, à la longue zu dem linearen Gesamtbild eines gesicherten Wissensbestandes zusammenfügen. [51] Diese Vorstellung eines schrittweisen Erkenntnisfortschritts durch quantitatives Wissenswachstum wäre nur in dem Maße zutreffend, wie homogene Erkenntnisraster verwandt und Beurteilungen getroffen würden, über die in der Forschendengemeinschaft Konsens bestehen. Indes ist jede Erhebung von Daten theorie- bzw. hypothesengeleitet. Die jeweils gewählten methodischen Instrumente bestimmen die Untersuchungsanordnung, die sich notwendig auf die Prüfung bestimmter Aspekte des zu untersuchenden Phänomens beschränkt. Die theoriegeleitete Wahl des Untersuchungsfeldes und die Entscheidung, gewonnene Ergebnisse als vorläufig verbindlich zu akzeptieren, verlangen wertende Entschlüsse, die nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar sind, sondern nur in dem Maße Gültigkeit beanspruchen, wie sie diskursiv begründet, argumentativ belastbar und von der Gemeinschaft der Forschenden akzeptiert sind.

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Der von der kriminologischen Bedarfsforschung (→ § 1 Rn 8) erweckte falsche Anschein der strikt wertneutralen Wissensproduktion trifft jedoch den Bedarf der Politik. Von der Vorstellung scheinbar makellos wertfrei gewonnener Befunde geht eine Faszination aus, der die praktische Kriminalpolitik bereitwillig erliegt. Die Magie scheinbar eindeutiger „Fakten“ verleiht dem kriminalpolitischen Argument, das sich darauf bezieht, etwas vermeintlich Objektives und Definitives. Foucault macht angesichts dessen für diese Richtung eine „geschwätzige und aufdringliche“ Anbiederung an die offizielle staatlich dominierte Kriminalpolitik aus:

„Haben Sie schon Texte von Kriminologen gelesen? Da haut es Sie um. Ich sage das nicht aggressiv, sondern erstaunt, weil ich nicht verstehen kann, wie dieser Diskurs der Kriminologen auf diesem Niveau bleiben konnte. Er scheint für das System so nützlich und notwendig zu sein, dass er auf theoretische Rechtfertigung oder methodische Konsistenz verzichten zu können glaubt. Er ist einfach ein Gebrauchsartikel.“56

12 Die quantifizierende empirische Erfassung und Erklärung von „Sozialdaten“ bildet die soziale Welt nicht ab, sondern simuliert diese in einem Artefakt, dessen Struktur durch die empirische Recherchetechnik vorgegeben ist. Der dem naturwissenschaftlichen Experiment nachgebildete empirische Erfahrungstest reproduziert durch Verwendung von standardisierten Fragebögen und statistischen Auswertungsverfahren Individuen und ihr Handeln so, als ob es sich dabei um mikroskopische Präparate handelte, deren Merkmale objektivmessbar [52] seien. Ausgeblendet bleiben dabei die nur verstehend erschließbaren Intentionen der Agierenden kriminalisierter und kriminalisierender Handlungen, die intersubjektiven Wirkungszusammenhänge, die mitmenschlich nachfühlbare Leidensgeschichte von Opfern und Bestraften, kurz: die spezifisch menschliche Subjektivität von Kriminalität und Kriminalisierung. Die Umformung dieser Subjektivität in empirisch erfassbare Eigenschaften von Subjekten muss deren Handlungen als durch solche Eigenschaften im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit determiniert verstehen.57 Objektivierende quasi naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen in der Kriminologie tragen dazu bei, die „Kriminellen“ als autonome Personen zu vernichten.

„Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de lui.“58

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Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die

■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;

■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteur:innen und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;

■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.

Eine solche sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.

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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.59 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht60 und uns in die Abgründe der Psyche von Täter:innen, Opfern und Verfolgenden blicken lässt61. Die Poesie von Charles Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.62 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.63 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.64 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.

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