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§ 4 Geschichte der Kriminologie I. Anfänge und Wegbereiter kriminologischen Denkens
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[53] Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) schreibt bei Tötung und Kindstötung den Sachverständigenbeweis zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. Humanismus und Renaissance vermitteln ein neues säkularisiertes Weltbild, das den Menschen als konkretes Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Säkularisierung erfasst auch das Strafrecht, das sich nunmehr von seinen religiösen Bezügen löst und [54] nach einer weltlichen Begründung der Strafe sucht. Spekulationen über gesellschaftliche Verbrechensursachen lösen erstmals eine Kritik der geltenden Strafpraxis aus. So stellt der Humanist Thomas Morus (1478-1535) die bezeichnende Frage nach der „Herkunft der Diebe“ und schlägt eine vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Minderung von Armut und Elend vor.65
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Eine systematische Befassung mit Kriminalität setzt im 18. Jahrhundert ein. Die französische Aufklärungsphilosophie bekämpft die „Unvernunft“ mythisch-religiöser Vorstellungen und postuliert die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Damit liefert die Aufklärung die methodischen Instrumente einer Kritik der diesen Idealen widersprechenden Sozialordnung des Ancien Régime. Die Verwirklichung dieser Ideale bildet die politische Rechtfertigung der Revolution von 1789. Indem die französische Aufklärungsphilosophie einerseits die Entfaltung säkularer Wissenschaften beflügelt und andererseits eine kritische, auf politische Veränderungen hin abzielende Gesellschaftstheorie anleitet, bildet sie die Basis für eine bipolare Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften, die alsdann in zwei Lager auseinanderdriften. Das eine Lager übernimmt die in den rasch expandierenden exakten Naturwissenschaften entwickelten Methoden empirischer Beschreibung und Erklärung in die Gesellschaftswissenschaften und unterwirft diese einem sozialtechnologischen Erkenntnisinteresse. Das andere Lager bezieht Ideale, die auf eine Gesellschaftsveränderung abzielen, in die Theoriebildung ein und verfolgt damit ein kritisches Erkenntnisinteresse.
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Beide Lager finden sich in der Folge zeitversetzt in der Kriminologie vertreten: Während die Klassische Schule der Kriminologie des 18. Jahrhunderts noch beide Erkenntnisinteressen zu verfolgen trachtet, wird im 19. Jahrhundert in der anthropologisch-positiven Schule (→ § 4 Rn 19) ein sozialtechnologischer Umgang mit Kriminalität ausgebildet.