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II. Das Modell des Erklärens

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6 Kriminologie ist, wie andere Sozialwissenschaften, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwurzelt und entfaltet sich in der Moderne, die in der Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Zenit erreicht. Prägend für die Epoche wie das Fach ist das Vertrauen auf die Macht der Vernunft, mit der sich die Natur beherrschen, das soziale Leben kontrollierend gestalten und die Geschichte zum Vorteil der Menschheit verändern lässt. Der Fortschrittsoptimismus wird vor allem durch die beeindruckenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften und ihre technologische Umsetzung genährt. Fortan gelten die „exakten“ Naturwissenschaften als vorbildhaft für die Erkenntnis des Sozialen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt Auguste Comte (1798-1857) die Idee, die Regeln der Naturbeobachtung auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge zu übertragen. Das damit begründete einheitswissenschaftliche Modell des Erkennens nennt Comte „positivistische Philosophie“34. Er will damit die wissenschaftliche Wahrnehmung des Sozialen auf die Beobachtung von Gegebenheiten begrenzen und damit Glaubensüberzeugungen, Wertungen und überhaupt Subjektivität aus der Wissenschaft verbannen.

7 Der Positivismus geht davon aus, der Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis sei unabhängig vom methodischen Zugang und der subjektiven Einstellung [38] der oder des Erkennenden als etwas naiv und unbestreitbar Gegebenes positiv vorhanden und könne deshalb wie ein Faktum unbeteiligt, also streng wertneutral und „objektiv“ erkannt werden. Diese Annahme bestimmt die Entwicklung der Kriminologie und prägt ihren erklärenden empirischen Zweig bis heute. Demzufolge wird kriminelles Verhalten als objektive Gegebenheit verstanden, das in seinem tatsächlichen Vorkommen wahrgenommen, gezählt und auf soziale, psychologische und biologische Einflüsse zurückgeführt werden kann. Die Suche nach allgemeingültigen ursächlichen Erklärungen für Kriminalität folgt dem kriminalpolitischen Anliegen, Kriminalität kontrollieren zu können und stellt damit die Wissenschaft in den Verwendungszusammenhang der kriminalpolitischen Praxis.

8 Als Kind der Aufklärung und Schwester der Moderne ist die Kriminologie ursprünglich auf ein Erklären von kriminellem Verhalten angelegt. In dem für Natur- wie Sozialwissenschaften gültigen, also einheitswissenschaftlichen, Modell des Erklärens wird ein wahrgenommenes Geschehen aus seiner kausalen statistischen Abhängigkeit von einem anderen wahrgenommenen Geschehen bestimmt. Dabei geht es darum, eine Beobachtung hypothetisch mit anderen Beobachtungen („Randbedingungen“) zusammenzubringen (zu „korrelieren“) und zu prüfen, ob dieser unterstellte Zusammenhang einer allgemeinen statistischen Gesetzmäßigkeit folgt. Ein Geschehen („Explanandum“) gilt danach als erklärt, wenn es sich unter bestimmten Randbedingungen aus einer solchen Gesetzmäßigkeit („Explanans“) herleiten lässt. Die Erklärung erfolgt durch statistische Auswertung der Zusammenhänge innerhalb der Quantität von getroffenen Beobachtungen, folgt also einer quantitativen Methode (→ § 5 Rn 2 f.). Das Ergebnis der Erklärung ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. So können Gewalttaten von Jugendlichen mit frühkindlichen Misshandlungen der Täter:innen in Zusammenhang gebracht und geprüft werden, ob zwischen jugendlicher Gewaltdelinquenz und dem Erleiden von Gewalt im Kindesalter ein allgemeiner statistischer Zusammenhang besteht.

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Beim Erklären werden Geschehnisse zueinander in Bezug gesetzt, die als dinghaft gegeben und wie Naturobjekte als sinnlich wahrnehmbar verstanden werden. Das wahrgenommene Objekt prägt sich angeblich auf der Wachstafel unserer Wahrnehmung ein wie es ist und kann deshalb von jedem bzw. jeder unter den gleichen Voraussetzungen in gleicher Weise, also objektiv, erkannt werden.

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[39] In der Gegenwart sind sowohl die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wie die forschungspraktischen Konsequenzen dieses positivistischen Zuschnitts der Kriminologie fragwürdig geworden. Vom Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften in den 1960er Jahren35 beeinflusst, entwickelte sich in der Kriminologie seit Mitte der 1970er Jahre eine Debatte darüber, ob Kriminalität nach positivistischem Muster zu erklären oder aber in einer nichtpositivistischen Weise zu verstehen sei.

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