Читать книгу Die Chronik des Dunklen Reiches -Band 1- - Tom Bleiring - Страница 4

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Eine sanfte Brise, warm und nach salzigem Wasser duftend, wehte von Westen her über die Hügellandschaft, bewegte das frische grüne Gras und die ersten Blüten der Obstbäume.

Die Sonne war erst vor einer Stunde am östlichen Firmament erschienen und sandte ihre wärmenden Strahlen auf das Land.

Marius, ein Junge von 15 Jahren, stand still auf einer Wiese am Rande der gepflasterten Reichsstraße, hielt die Augen geschlossen und atmete die klare Frühlingsluft tief ein.

Ein Stück hinter ihm lag sein Vater unter einem Apfelbaum und schlief.

Marius war schlank, aber kräftig, denn er war auf dem Viehhof seiner Eltern aufgewachsen, wo er seit seiner Kindheit hartem Tagwerk nachzugehen hatte.

Sein Vater, ein beleibter und grobschlächtiger Mann, hatte von seinem Vater dessen Viehzucht geerbt und sah es als natürlichste Sache der Welt an, dass sein Sohn ebenfalls in seine Fußstapfen treten sollte.

Der Junge hatte zwar viele Grillen im Kopf, doch diese gedachte sein strenger Vater ihm noch rechtzeitig auszutreiben, ehe er ihm die Verantwortung für den Hof übergeben wollte.

Nun, da der Frühling über das Land kam, fand zum ersten Mal im Jahr der große Viehmarkt in Ypoor statt, auf dem sich alle namenhaften Rinderzüchter des Umlandes trafen.

Marius und sein Vater waren ebenfalls aufgebrochen, um den Markt aufzusuchen, denn der Alte wollte dort einen neuen Zuchtbullen erwerben, um das Blut seiner Rinderherden aufzufrischen.

Sie waren am frühen Morgen aufgebrochen, lange noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Himmel erhellt hatten.

Kurz vor der Stadt hatte Marius‘ Vater beschlossen, noch eine kurze Rast einzulegen, um frisch und wach auf dem Markt erscheinen zu können.

Während sein Vater nun also ein kurzes Schläfchen hielt, erkundete Marius neugierig das nähere Umland und genoss die Wärme der Frühlingssonne.

Ihm war bewusst, weshalb sein Vater ihn mit auf den Markt nahm.

Er sollte dort das Feilschen erlernen, ebenso die Kunst, gutes und schlechtes Vieh voneinander zu unterscheiden.

Doch Marius dachte nicht im Traum daran, dem Wunsch seines Vaters nachzukommen.

Schon vor Jahren hatte entschieden, seinem selbstgerechten und teils tyrannischen Vater ein Schnippchen zu schlagen und ein anderes Handwerk zu erlernen.

Und er hatte ein sehr Spezielles im Sinn, nämlich die Kunst der Zauberei und Magie.

Seit seine Großmutter ihn das Schreiben und Lesen gelehrt hatte, und er so die Möglichkeit hatte, allerlei Bücher zu studieren, trug er sich mit dem Wunsch, ein Hexenmeister zu werden.

Natürlich wollte er ein guter und weiser Zauberer werden, kein böser und furchteinflößender Magier, wie ihn die meisten Kindergeschichten beschrieben.

Von daher hatte er freudig zugestimmt, als sein Vater ihm den Vorschlag gemacht hatte, nach Ypoor zu reisen.

Seine lang ersehnte Gelegenheit war nun gekommen, dem heimatlichen Trott zu entkommen, denn in der Stadt der Künste, wie Ypoor auch genannt wurde, stand eines der Gildenhäuser der Bruderschaft der Erleuchteten, eine Schule für weißmagische Künste.

Marius sehnsuchtsvoller Blick suchte in der Ferne die glitzernden Dächer der Stadt, darunter jenes Goldene, welches zur Zauberschule gehörte, und seufzte.

Auf dem Markt musste es ihm nur irgendwie gelingen, seinen Vater abzuhängen, dann würde er zur Gildenschule gehen können und sich dort einschreiben.

Sobald dies geschehen wäre, hätte selbst sein Vater keine Möglichkeit mehr gehabt, ihn von dort fort zu schleppen.

Marius hörte, wie sein Vater sich regte und eilte zu ihm, aus Angst, dieser könnte ihn für seine Träumerei schelten.

Doch dieser schien gut gelaunt, klopfte seinem Sohn sogar auf die Schulter, ehe sie gemeinsam den Weg fortsetzten.

Marius nahm jedes Detail der sich nähernden Stadt in sich auf, während sie sich in die lange Schlange derer einreihten, die durch das Stadttor hinein wollten.

Die trutzige Wehranlage beeindruckte ihn zutiefst, ebenso wie die Burg, die auf einer Klippe über dem Hafen der Metropole thronte.

Als sie sich langsam dem Tor näherten, drang der Geruch der Großstadt über die Wehranlage zu ihnen.

Zuerst nahm Marius die unschönen Ausdünstungen wahr, Schweiß und den Gestank von Exkrementen, den säuerlichen Geruch aus dem Gerberviertel und den Ställen.

Doch es schlichen sich auch feinere Düfte in seine Nase, die von exotischen Früchten und erlesenen Parfüms.

Etwas weiter vorn in der Schlange der Wartenden erblickte er Gladiatoren, dunkelhäutige und muskulöse Männer, deren von Narben überzogene Körper im Sonnenlicht glänzten.

In ihrer Nähe saßen junge und anmutige Frauen in hauchdünnen Seidenkleidern auf einem Pferdewagen und schwatzten, doch sein Vater, der seinen Blicken gefolgt war, gab ihm einen Klaps in den Nacken und sagte, dass er sich von solchen Weibern fernzuhalten habe.

Als sie die Torwache schließlich erreichten, würdigte diese sie nicht eines einzigen Blickes und winkte sie durch, was die Laune von Marius‘ Vater verschlechterte.

>>Da wartet man eine Ewigkeit, um überhaupt ans Tor zu kommen, und dann wird man noch nicht einmal kontrolliert. Faules Wächterpack! <<

Und so betrat Marius zum ersten Mal die Stadt Ypoor.

Vom Tor führte eine breite Allee ins Stadtzentrum und zum Forum, wie der Junge wusste, doch sein Vater schlug den direkten Weg in Richtung Viehmarkt ein.

Sie wanderten durch das Viertel der Gerber, wo Marius noch stärker mit den ätzenden Gerüchen konfrontiert wurde, dann durch das Schlachthausviertel und schließlich durch jene Regionen der Stadt, in denen die großen Lagerhäuser und Viehställe standen.

Der Viehmarkt selbst lag genau an der Stadtmauer, auf einem großen Platz, dessen lärmende Betriebsamkeit schon von weitem an ihre Ohren drang.

Es herrschte bereits ein dichtes Gedränge auf dem Markt, was den beiden Neuankömmlingen das Vorwärtskommen erheblich erschwerte.

Schließlich wurde Marius von seinem Vater an eine Hauswand gedrängt.

>>Ich komme allein sicher schneller durch, << rief dieser, um den Lärm ringsum zu übertönen!

>>Du darfst dich ein wenig umsehen, aber verlasse nicht den Marktplatz.

Hier hast du ein paar Münzen, für den Fall, dass du hungrig wirst.

Wir treffen uns in drei Stunden wieder, genau hier, verstanden? <<

Marius nickte nur und nahm das Geld entgegen.

Er wartete, bis sein Vater im Gedränge verschwunden war und sah sich dann nach einem Weg um, der ins Stadtzentrum führen könnte. Dort lag die Gildenschule.

Er hatte schon überlegt, wie er seinem Vater hätte entkommen können, doch das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen, indem es ihm diesen neuen Weg offenbarte.

Marius wollte nun der Masse an Menschen folgen, die in Richtung Stadtmitte drängte, doch schon im nächsten Moment prallte er gegen jemanden und trat diesem auf die Füße.

Der Mann fluchte und stieß den Jungen zurück.

>>Was fällt dir denn ein? , << rief der Mann.

Marius entschuldigte sich kleinlaut und betrachtete die sonderbare Tracht des Fremden.

Dieser trug einen hellblauen Mantel, der über und über bestickt war mit seltsamen Symbolen.

Da waren Sterne, Tierkreiszeichen und magische Runen zu sehen, Zeichen dafür, dass dieser Mann ein Zauberkünstler war.

Sofort verschwand Marius‘ Zurückhaltung, und er sagte:

>>Herr, ihr seid ein Zauberer. Könnt ihr mir sagen, wie ich zur Schule der Bruderschaft der Erleuchteten komme? <<

Der Mann sah ihn überrascht an, dann antwortete er:

>>Du bist ein Nameder, oder? Was will ein namedischer Junge in einer Schule für Zauberer? <<

Marius wurde rot und senkte verlegen den Kopf.

>>Ich möchte dort die Kunst der Künste erlernen, << erwiderte er schüchtern.

Sein Gegenüber konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und musterte den Jungen genau.

>>Ein Nameder, der die Zauberei studieren möchte? Jetzt habe ich wirklich alles Seltsame auf dieser Welt gesehen und gehört.

Glaubst du denn, sie nehmen dich dort auf? <<

Marius fühlte sich in seiner Ehre angegriffen und antwortete mit barscher Stimme:

>>Ich bin sehr klug und bereit, alle Prüfungen über mich ergehen zu lassen.

Ich wollte nur wissen, wie ich dorthin gelangen kann, aber wenn ihr es nicht wisst, dann suche ich allein den Weg. <<

Der Mann schmunzelte erneut, nickte aber verständnisvoll und deutete mit der Hand auf eine breite Allee, die vom Platz weg führte.

>>Das ist die Straße der Drei Kaiser. Wenn du ihr folgst, gelangst du auf das Forum.

Zwei Straßen führen von dort in Richtung Norden; die der Tuchhändler und die der Goldschmiede.

Folge der Letzteren und sie führt dich bis vor die Tore der Schule.

Ich wünsche dir Glück, junger Freund, denn du wirst es brauchen. <<

Damit kehrte er Marius den Rücken, ging zu einem bunt bemalten Wagen, dessen Plane mit denselben Symbolen bemalt waren, die auch auf seinem Mantel zu sehen waren, und hantierte dort herum.

Marius vergeudete seine Zeit nicht weiter damit, ihn zu beobachten, sondern folgte der Allee bis hin zum Forum. Dort wandte er sich der Straße der Goldschmiede zu und gelangte schließlich auf einen kleinen Platz, der genau vor den Toren eines imposanten Gebäudes lag.

Reich verzierte Säulen bildeten die Front des aus Marmor errichteten Hauses.

An den Wänden konnte Marius Fresken und Bildnisse verschiedener Gottheiten erkennen, von denen er aber nicht alle beim Namen zu nennen wusste.

Ein gewaltiges Tor stellte den Eingang dar, doch es war verschlossen.

Marius wollte näher treten, um zu klopfen, als sich eine Hand auf seine rechte Schulter legte.

Er fuhr herum und erblickte einen Mann mittleren Alters, gehüllt in eine weiße Toga, der ernst auf ihn hinab blickte.

>>Wohin des Weges, junger Mann? , << fragte dieser.

Marius bemerkte nun erst, dass die Toga mit ähnlichen Symbolen bestickt war, wie er sie schon auf dem Mantel des Mannes erblickt hatte, der ihm den Weg hierher gewiesen hatte.

>>Herr, << antwortete er kleinlaut, >> ich möchte hier die Kunst der Zauberei studieren.

Ich komme von weit her, denn es ist seit langem mein Traum, die Kunst der Künste zu erlernen.

Seid ihr ein Zauberer? Könnt ihr mir helfen? <<

Der Mann lächelte Marius an und erwiderte:

>>Ja, ich bin ein Zauberer. Und ob ich dir helfen kann, muss sich zeigen.

Hast du denn ein Stipendium vorzuweisen? Ein Empfehlungsschreiben eines Ordensmitglieds? <<

Marius verneint dies, woraufhin der Zauberer wieder ernst wurde.

>>Hast du denn gar nichts dergleichen? << hakte er nach.

>>Kein Sendschreiben oder etwas anderes, was deine Befähigung zum Studium beweisen und untermauern könnte? <<

>>Herr, ich bin aus eigenem Antrieb hierhergekommen, << antwortete Marius, >> und ich wusste nicht, dass man eine Empfehlung benötigt, um die magischen Künste zu erlernen.

Bitte, Herr, ich träume doch schon so lange davon, ein Zauberer zu werden. <<

Der Mann aber schien seine Worte kaum wahrzunehmen, verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte wütend:

>>Glaubst du denn ernsthaft, wir würden jeden dahergelaufenen Bauernlümmel an unserer Akademie aufnehmen?! Was bildest du dir ein; dass du einfach hier erscheinst und erwartest, man würde dir erlauben, hier zu studieren?! <<

>>Genau das, << antwortete Marius verwirrt.

Der Zauberer starrte ihn einige Sekunden lang an, dann aber schlug er Marius mit der flachen Hand ins Gesicht, so dass dieser zu Boden fiel.

>>Verschwinde von hier, sonst mach ich dir Beine! , << knurrte der Zauberer zornig.

>>Und wenn ich dich noch einmal hier sehen sollte, dich beim Herumlungern erwischen sollte, dann werde ich dir zeigen, was ein echter Zauberer alles bewirken kann. <<

Er versetzte Marius einen letzten Tritt gegen das Bein, als dieser versuchte, sich wieder zu erheben und trat dann zum Portal, welches sich nun auch vor ihm öffnete.

Marius blieb liegen und kämpfte dagegen an, nicht weinen zu müssen.

Er hatte nicht damit gerechnet, wie ein räudiger Straßenköter davon gejagt zu werden.

Zauberer waren in seiner Vorstellung immer noble und gerechte Männer gewesen, die freundlich und mildtätig waren. Nun aber musste er feststellen, dass sie hochnäsig und arrogant waren, und dies erschütterte seine ganze Weltanschauung.

Langsam rappelte er sich auf, klopfte den Straßenstaub von seinen Kleidern und überlegte, was er nun tun wollte. Im Grunde blieb ihm jetzt nur die Möglichkeit, seinen Vater wiederzufinden, mit ihm heimzukehren und sein Leben als Viehhirte zu fristen.

Er schalt sich selbst nun für seine Naivität, seine Träumereien.

Wie hatte er bloß glauben können, er, ein einfacher Junge vom Stamme der Nameder, hätte Einlass erhalten in die größte Akademie für Magie?

Betrübt wollte er kehrt machen und zum Viehmarkt zurückkehren.

Gesenkten Hauptes ging er die Straße entlang, bemerkte, dass jemand sich zu ihm gesellte, achtete aber nicht auf den anderen Passanten.

>>Sie wollten dich nicht, stimmt’s? << hörte er eine vertraute Stimme sagen.

Marius blieb abrupt stehen und hob den Kopf.

Vor ihm stand jener Mann, der ihm den Weg zur Akademie gewiesen hatte.

Er trug noch immer seinen Mantel, lächelte freundlich und strich sich gelegentlich über seinen Spitzbart.

>>Sie haben dich fort gejagt, oder? <<

Marius nickte nur.

Der Mann zuckte mit den Schultern und sagte:

>>Mach dir nichts draus, mein Freund. Diese Narren von der Akademie würden echtes Talent nicht einmal dann erkennen, wenn man es ihnen direkt vor ihre Nasen halten würde.

Ich habe gleich gemerkt, dass da etwas in dir ist, auch wenn ich noch nicht weiß, wie viel es ist.

Aber wo bleiben meine Manieren? Ich vergaß, mich vorzustellen.

Mein Name ist Racorum von Agravin, aber unter Standeskollegen nennt man mich auch Racorum der Große! Ich bin Zaubermeister, ziehe es aber vor, durch die Lande zu streifen, anstatt wie meine verblödeten Genossen in staubigen Kammern zu hocken.

Ich könnte einen Lehrling gebrauchen, bei der vielen Arbeit, die ich habe.

Es ist eine harte Arbeit, das solltest du wissen.

Es fehlen die Annehmlichkeiten, die man in einer Akademie genießt, aber dafür kann ich dich Dinge lehren, die du so niemals in einer Zauberschule beigebracht bekämest.

Insgeheim fürchten mich die Gildenmagier, denn sie wissen, dass ich über Kenntnisse jenseits ihrer Vorstellungskraft verfüge.

Nun, bist du interessiert? <<

Marius konnte es kaum fassen.

Eben noch schien es, als wäre sein großer Traum, Zauberer werden zu können, in tausend Scherben zerbrochen. Nun aber bot ihm das Schicksal die Chance und Gelegenheit, dieses Ziel doch zu erreichen. Freudig streckte er Racorum die Hand entgegen.

>>Ja, ich will euer Lehrling werden, Herr, << erwiderte er, wobei sich seine Stimme vor lauter Freude überschlug.

Sein neuer Meister schlug in die dargebotene Hand ein und wurde ernst.

>>Gut, dann soll es so sein.

Sind deine Eltern in der Stadt? Sie müssen natürlich Bescheid kriegen, denn sonst heißt es noch, ich würde Kinder entführen. <<

Marius zögerte mit der Antwort zu lange und weckte damit das Misstrauen seines Lehrherren.

>>Du bist von zuhause ausgerissen, oder? <

>>Nein, nicht ausgerissen, << erwiderte Marius kleinlaut und schilderte dem Zauberer in kurzen Worten, wie er nach Ypoor gelangt war. Er verheimlichte auch nicht, dass er sich ohne das Wissen seines Vaters zur Akademie begeben hatte.

Racorum strich sich erneut durch seinen Bart und hörte ihm zu, ohne Zwischenfragen zu stellen.

Als Marius mit seiner Schilderung fertig war, schüttelte der Zauberer verständnislos den Kopf.

>>Ich war selbst einmal jung und hatte viele Flausen im Kopf, aber du hast dich selbst in größere Gefahr gebracht, als du vielleicht geahnt hast.

Man hätte dich ausrauben oder verschleppen können.

Sklavenfänger sind immer auf der Suche nach Jungen wie dir.

Du hättest als Galeerensklave oder Lustknabe in irgendeiner Kaschemme enden können.

Du bist entweder sehr mutig oder sehr töricht, mein Junge.

Wie lautet überhaupt dein Name? <<

>>Man nennt mich Marius, << erwiderte dieser.

Die Furcht, von seinem neuen Lehrmeister wieder verstoßen zu werden, war in ihm gewachsen, nachdem dieser ihn so zurecht gewiesen hatte.

>>Nun, Marius, ich kann dich nicht einfach so mitnehmen.

Wenn dein Vater die Wache verständigt und man uns beide aufgreift, wirft man mich in den Turm.

Kindesraub wird schwer bestraft, und auch wenn du mein Lehrling sein willst, bedarf es der Einwilligung deines Vaters. <<

>>Die wird er mir nie geben! << jammerte Marius.

>>Trotzdem kannst du dich nicht einfach davon stehlen, << erklärte Racorum mit fester Stimme.

>>Dir bliebe höchstens die Möglichkeit, einen Tempel aufzusuchen, um dich von deiner Familie los zu sagen. Du bist alt genug, um dies tun zu können, aber bedenke, dass es kein leichter Schritt ist.

Du löschst damit jede Verbindung zu deinem früheren Leben aus.

Zumeist nutzen die Angehörigen von Verbrechern diesen Weg, um ihren Familiennamen rein zu waschen, nicht nur vor den Augen der Götter.

Was ist mit dir? Ist dir nicht wohl? <<

Racorum packte Marius am Arm, um ihn zu halten, denn der Junge war mit einem Mal weiß wie Kreide, sah sich panisch um und begann zu taumeln.

Marius spürte den Griff Racorum’s nicht, für ihn war die Welt um ihn herum schlagartig grau und bitterkalt geworden.

Er spürte, wie sich etwas in seinem Innersten regte, ein grausiges Gefühl aus Leere und Furcht.

Obwohl er eben noch die warme Frühlingsluft um sich gespürt hatte, drang jetzt frostige Kälte in seinen Körper und füllte ihn mit Entsetzen.

Er hörte seltsame Stimmen in seinem Kopf, ein fortwährendes Flüstern, Stöhnen und Zischen.

Schließlich übermannte ihn die Panik, doch mehr als einen Schrei brachte sein von Grauen erfüllter Körper nicht zustande.

Doch dieser riss ihn aus seiner Trance, brachte ihn zurück in die reale Welt.

Er lag auf dem Boden und blickte hinauf zum blauen Himmel.

Racorum kniete neben ihm, besorgt dreinblickend, und hielt noch immer seinen Arm.

>>Geht es dir besser? <

>>Du leidest doch nicht etwa an der Fallsucht, oder?

Jeder weiß, dass diese Krankheit eine Strafe der Götter ist.

Was ist mit dir geschehen? Du hast ausgesehen, als wärest du den Dämonen der Hölle begegnet.

Und dein Schrei klang, als käme er aus weiter Ferne. <<

Marius, noch immer benommen von seiner Vision, berichtete dem Zauberer in kurzen Worten, was er gesehen und gespürt hatte.

Racorum runzelte die Stirn, half Marius wieder auf die Beine und sagte:

>>Irgendetwas Magisches hast du zweifelsfrei an dir, auch wenn ich noch immer nicht genau weiß, was es ist. Ich übe die Kunst der Magie schon lange aus und habe ein leichtes Beben der astralen Ebene gespürt, als du gefallen bist, aber mehr als das war da nicht.

Vielleicht hast du eine besondere Bindung in jene Gefilde, vielleicht auch nicht, aber es ist besser, wenn wir erst einmal einen Platz finden, an dem du dich ausruhen kannst.

Ganz in der Nähe gibt es eine Taverne, von der man bis hinab zur Bucht und den Hafen schauen kann.

Dorthin sollten wir uns begeben. <<

Der Weg in das Gasthaus war nicht lang, doch es dauerte eine Weile, bis die beiden dort ankamen,

denn Marius musste häufig stehen bleiben, um Kraft zu sammeln.

Sein Anfall hatte ihn stärker entkräftet, als es zunächst den Anschein hatte.

Das Wirtshaus war ein schmucker Bau aus rotem Ziegelstein, an dem mit der Zeit Efeu empor gewachsen war. Es besaß auch eine Terrasse, von der man eine gute Aussicht über die tiefer gelegenen Stadtteile und die Bucht von Ypoor hatte.

Racorum schob Marius einen Stuhl hin und setzte sich dann ebenfalls.

Er bestellte bei der herbeieilenden Magd zwei Becher mit verdünntem Wein, lehnte sich zurück und strich sich wieder nachdenklich über den Bart.

Marius Blick aber war in Richtung des Meeres gerichtet.

Wie gebannt starrte er zum Horizont, und erst als Racorum mit der Hand auf den Tisch zwischen ihnen schlug, wurde er aufgeschreckt.

>>Was bist du bloß für ein seltsamer Junge? , << fragte er.

Marius wollte darauf erwidern, dass er das selbst nicht wüsste, doch Racorum verdrehte entnervt die Augen und gebot ihm, zu schweigen.

>>Das war eine rhetorische Frage, die eher an mich selbst gerichtet war, << sagte er, >> doch ich muss zugeben, dass du mich faszinierst.

Mir sind schon viele Lehrjungen untergekommen, Gute und Schlechte, aber du hast etwas höchst Seltsames an dir.

Und warum blickst du immer wieder aufs Meer hinaus?

Gibt es da was zu sehen, außer Wasser und Möwen? <<

Der Zauberer schaute hinaus auf die spiegelglatte See, konnte aber nichts Interessantes ausmachen.

Marius dagegen blickte in die Ferne, zum Horizont und sah dort ein rötliches Funkeln, nicht viel mehr als ein kurzes Aufleuchten. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und wieder überkam ihn die Furcht, die dunkle Ahnung, dass etwas Schlimmes bevor stand.

Racorum spürte die Veränderung, die in dem Jungen vorging und erhob sich langsam, einen neuerlichen Anfall erwartend.

In diesem Augenblick sprang Marius auf und deutete hinaus aufs Meer.

>>Es wird etwas Schreckliches geschehen, << stöhnte er mit entsetzter Stimme, >>und es kommt von dort draußen! Wir müssen die Menschen warnen, damit sie sich in Sicherheit bringen können! <<

Racorum packte den Jungen am Arm.

>>Da draußen ist gar nichts, << erwiderte er milde.

Er ergriff mit der anderen Hand die des Jungen und erstarrte augenblicklich.

Etwas geschah mit ihm, als er seine Finger die von Marius berührten, und später konnte er nicht mehr beschreiben, was genau in diesem Moment geschehen war.

Er spürte, was Marius spürte und sah durch seine Augen in die Ferne, hin zum Firmament, an dem sich urplötzlich graue Wolkengebilde zu sammeln begannen.

Der Wind war nicht stark, doch die Wolken trieben vom Meer derart schnell auf die Stadt zu, als würde ein Sturm sie dazu zwingen.

Innerhalb weniger Augenblicke konnte man sie mit bloßem Auge sehen und erkennen, dass in den Wolken rote und grüne Blitze aufflackerten.

Wie auf einen stummen Befehl hin stoben alle Vögel auf und flohen, Hunde jaulten laut auf und ergriffen voll Panik die Flucht.

Eine gespenstische Stille legte sich über die gesamte Stadt.

Nun blieben auch die Menschen auf den Straßen stehen und bewunderten das unheimliche Spektakel am Himmel, welches sich der Stadt schnell näherte.

Und dann schien es plötzlich so, als würden die Wolken in sich zusammenfallen.

Sie stürzten vom Himmel hinab auf das Meer, doch wurden sie von diesem nicht verschlungen.

Das Wasser begann zu brodeln, wurde aufgewühlt und verfärbte sich schwarz.

Und dann wurde aus dieser gewaltigen, auf dem Wasser schwimmenden Wolkenbank eine Feuerwand, die sich aus ihrer Starre löste und wie eine Lawine über die Bucht und die Stadt hereinbrach.

Ein grässliches Getöse, ein Kreischen und Dröhnen brach los, als die Feuerwalze sich über den Hafen ergoss, die Schiffe und Lagerhäuser verzehrte und sich bergauf in die Straßen ergoss.

Die Menschen stoben schreiend und voller Panik auseinander, versuchten ihr Heil in kopfloser Flucht zu finden, doch die alles vernichtende Feuersbrunst holte sie ein und verschlang sie.

Innerhalb weniger Augenblicke erreichte die Welle der Vernichtung auch das Gasthaus, wo Marius und Racorum sich aufhielten.

Der Zauberer blickte stumm und fassungslos dem auf ihn zueilenden Untergang entgegen und seine Hände schlossen sich noch fester um den Arm und die Hand seines Lehrlings.

Und dann war das Feuer über ihnen, um sie herum, durchdrang ihre Körper, raubte ihnen die Luft zum Atmen und stürzte beide, Mann und Jungen, in die Dunkelheit.

Die Chronik des Dunklen Reiches -Band 1-

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