Читать книгу Die Chronik des Dunklen Reiches -Band 1- - Tom Bleiring - Страница 7
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ОглавлениеGai schlug die Augen auf und holte tief Luft.
Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte, schoss durch seinen gesamten Körper.
Er lag auf harter Erde, in einer Scheune, wie es schien.
Sein Kopf dröhnte, der Geschmack von Erbrochenem lag ihm im Mund und er fror.
Nur mit viel Mühe gelang es ihm, sich aufzurappeln, aber er konnte sich nur wenige Augenblicke auf den Beinen halten, ehe ihn der Schwindel wieder auf die Knie zwang.
Vorsichtig hob er die Hand an den Hinterkopf und fühlte eine klebrige, warme Flüssigkeit zwischen seinen Haaren. Er senkte die Hand wieder und betrachtete das Blut, welches an seinen Fingern klebte.
Bilder, Erinnerungsfetzen vielmehr, huschten an seinem inneren Auge vorbei.
Er war von hinten niedergestreckt worden, mit einer schweren Holzkeule.
Und der Angreifer war…ein Ork gewesen! Orks hatten Warma überrannt!
Gai war sofort wieder auf den Beinen, ignorierte den bohrenden Schmerz in seinem Schädel und sah sich in der Scheune um.
Von seinem Gegner fehlte jede Spur, aber dafür drang der Geruch von brennendem Holz in seine Nase, ebenso wie der von frischem Blut. Sein eigenes etwa? Gai wusste es nicht.
Leicht schwankend ging er an das Tor der Scheune und spähte vorsichtig auf die Straße hinaus.
Hier bot sich ihm ein Bild der Zerstörung.
Die Stadt stand größtenteils in Flammen, einige Häuser waren bereits in sich zusammen gefallen.
Leichen, die von Menschen und von Vieh, lagen auf den Straßen.
Beißender Qualm wogte wie ein schwarzer Teppich über allem und nahm Gai die Luft zum Atmen.
Außer dem Prasseln des Feuers, dem gelegentlichen Klirren von Glas und dem Knirschen sich erhitzender Steine drang kein Laut an seine Ohren.
Keine Hilferufe, kein Kampfeslärm.
Ein Brennen und Jucken auf seinen Unterarmen ließ Gai zusammenzucken.
Hatte ihn etwa Glut von den Bränden getroffen?
Er krempelte die Ärmel seines Leinenhemdes hoch und starrte erschrocken auf die Haut seiner Arme.
Dort waren schwarze Linien erschienen, Brandzeichen nicht unähnlich.
Sie waren ineinander verschlungen und erinnerten ihn an die Hautbilder, die er bei umherziehenden Zigeunern gesehen hatte.
Gai hatte den Eindruck, dass sich diese Linien zu bewegen schienen, doch er dachte sich nichts weiter dabei und hielt es für eine Einbildung, verursacht durch den Schock.
Er war kein kräftiger Bursche, eher dünn und schmächtig, doch er hatte bisher aus diesem Umstand stets das Beste zu machen gewusst.
Gai war Dieb, und ein ungemein geschickter noch dazu, was er seiner Gerissenheit und seiner Statur zu verdanken hatte. Mit seinen sechzehn Jahren war er schon fast so etwas wie eine Legende unter den jugendlichen Dieben und Beutelschneidern, die es in Warma gab.
Oder eher gegeben hatte, ging es ihm durch den Kopf.
Er war gerade auf dem Weg nach Hause, von einem nächtlichen Beutezug kommend, als der Angriff auf die Stadt begonnen hatte.
Die ersten Strahlen der Sonne hatten den Himmel in herrliches Purpur getaucht, als aus den Wäldern rings um Warma die Kriegshörner der Orks zu erklingen begannen und im selben Moment wuchtige Feuerbrände die Tore und Türme der Stadtmauer in Schutt und Asche legten.
Die wenigen Stadtwächter konnten der heranbrandenden ersten Angriffswelle nichts entgegensetzen und fielen innerhalb weniger Minuten, so dass der Feind auf die nun ungeschützten Bewohner der Stadt losgehen konnte.
Orks! Gai kannte diese Ungeheuer nur aus Märchen und Sagen, die man ihm in seiner Kindheit erzählt hatte. Es hatte geheißen, dass diese Wesen vor langer Zeit ausgestorben wären.
Und nun waren sie wieder da, diese bepelzten, schweinsgesichtigen Unholde.
Sie kamen aus den Wäldern, wie eine schwarze Flut, strömten in die Straßen und vernichteten alles, was ihnen in den Weg kam.
In ihren heruntergekommenen Rüstungen und mit ihren rostigen Säbeln ähnelten sie dem Bild, welches Gai sich seit Kindesbeinen an von diesen Monstern gemacht hatte.
Ihnen folgten Horden von schwarzen Metzgershunden, denen gelber Geifer aus dem Maul tropfte.
Sie rissen das Vieh, fielen die Menschen an und verschleppten schreiende Kleinkinder in die Dunkelheit des Waldes.
Gai hatte versucht, in der Scheune ein Versteck zu finden, war aber von einem Ork entdeckt und niedergestreckt worden.
Er erinnerte sich daran, wie die Keule des Unholds seinen Kopf getroffen hatte.
Das letzte Geräusch, welches seine Ohren vernommen hatten, war das Knirschen seines Schädels gewesen, der dem Schlag nicht standhalten konnte und gebrochen war.
Ich müsste tot sein, fuhr es ihm durch den Sinn!
Doch als er erneut nach der Wunde tastete, spürte er außer dem geronnenen Blut zwischen seinen Haaren nichts von einer Wunde.
Was mochte hier bloß vorgehen?
Ein scharrendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren.
Einige Schritte entfernt war eine gebückt gehende Gestalt zwischen den Häusern hervor gekommen.
Gai hörte, wie das Wesen zu schnüffeln begann und sich dann langsam auf ihn zubewegte.
>>Kann dich riechen, << grunzte der Ork mit heiserer Stimme, >>komm raus da! <<
Er zog ein schartiges Messer und fuchtelte damit in der Luft.
>>Kannst nich‘ weglaufen, du, << zischte er.
Gai, der wusste, dass es aus der Scheune keinen anderen Ausweg gab, trat auf die Straße und hob die Hände.
>>Jaaaa, << rief der Ork lachend, >>so ist’s gut. Hand hoch, keine Waffe! Wirst lecker schmecken, glaub ich! <<
Der Unhold trat noch etwas näher an Gai heran, so dass sein stinkender Atem den Jungen streifte.
Er holte aus, um Gai das Messer zwischen die Rippen zu stoßen, doch in diesem Moment übernahm etwas anderes die Kontrolle über den Körper des jungen Mannes.
Mit der linken Hand wehrte er den Schlag ab, während die Rechte, zur Faust geballt, vorschnellte und den Ork an der Kehle traf.
Dem Monster entglitt die Klinge, es ging röchelnd und nach Luft schnappend auf die Knie, doch Gai zögerte nicht, war mit einem Schritt hinter dem Ork, packte dessen Kopf und drehte ihn ruckartig zu sich herum. Ein leises Knacken ertönte, dann sank der tote Ork in den Staub.
Gai blickte ungläubig auf seine Hände, dann auf den Leichnam und wieder auf seine Hände.
Er hatte noch nie zuvor getötet, erst recht nicht auf diese Weise.
Nie hatte er gelernt, so zu kämpfen. Er war immer ein Schleicher, ein Sprinter gewesen, kein Schläger oder Haudrauf.
Doch er spürte, dass etwas Neues in ihm war. Und dieses etwas hatte für einen Moment die Oberhand gewonnen. Das Resultat davon war ein toter Ork.
Gai bückte sich und durchsuchte den Leichnam.
Viel hatte der Ork nicht bei sich, nur zwei weitere Messer, die Gai an sich nahm.
Ihm wurde klar, dass er sich ausrüsten musste, denn hier in der Stadt konnte er nicht bleiben.
Bald würden hier sowieso nur noch qualmende Ruinen stehen.
Außerdem spürte er tief in seinem Inneren, dass er gehen musste.
Weitere Erinnerungen, die aber nicht seine waren, stiegen in ihm auf.
Er musste Warma verlassen, um jemanden zu suchen, ging es ihm durch den Sinn.
Wen er suchen musste? Er wusste es nicht, aber zu gegebener Zeit würde er auch dies erfahren.
Er hatte das Gefühl, dass jene, die er suchen musste, zu seiner Familie gehören würden.
Dabei hatte Gai aber nie eine Familie besessen, sondern war allein aufgewachsen, unter all den Halsabschneidern, Dieben und Dirnen dieser Stadt.
Woher also kam dieses Gefühl der Sehnsucht, des Vermissens?
Der Drang schien übermenschlich groß zu sein, er hätte sich ihm auch dann nicht widersetzen können, selbst wenn er es gewollt hätte.
Drei Stunden später huschte Gai lautlos durch das Unterholz des Waldes.
Auch wenn der Frühling in anderen Teilen des Kontinents bereits Einzug gehalten hatte, hier im Norden, so dicht am Wall und dem dahinter liegenden Eisland, hatte der Winter das Land noch fest im Griff.
Schnee bedeckte die Wiesen und Felder, hing als gefrorene Zapfen von den Ästen und der Frost ließ die Erde nicht aus seinen eisigen Klauen.
Gai hatte eine Route nach Südwesten eingeschlagen, als er festgestellt hatte, dass die Orks sich Richtung Südosten weiterbewegt hatten. Zumindest ihre Hauptstreitmacht marschierte dorthin, aber es war dem jungen Dieb nicht entgangen, dass eine zweite Spur nach Norden führte, zurück also in die Richtung, aus der der Feind gekommen war.
Mit Grausen erinnerte er sich an die Schreie der Kinder, die von den Orks und ihren Hunden verschleppt worden waren. Wahrscheinlich brachte man sie in Richtung des Walles, dem mächtigen Gebirge, welches sich von der Ostküste des Kontinents bis zur Westküste erstreckte und das fruchtbare Land von der tödlichen Eiseskälte des Eislandes trennte.
Es gab kein höheres, gefahrvolleres Gebirgsmassiv und nach dem, was man sich erzählte, gab es auch nur einen Pass, der darüber hinweg führte. Allerdings war dieser Spalt zwischen den Bergen nicht minder gefährlich, denn das ewige Eis des Nordens ragte wie eine Gletscherzunge dort hinein
und machte das Reisen fast unmöglich. Selbst in den Sommermonaten schmolz der Schnee dort angeblich nicht.
Hatten sich die Orks also unter den Bergen hindurch gegraben?
Oder hatten sie sich vielleicht sogar in all den Jahren dort versteckt gehalten?
Möglich wäre es, dachte Gai, denn kaum ein vernünftiger Mensch wagte es, tiefer in das Gebirge einzudringen. Zu groß war die Furcht vor Lawinen, plötzlichen Erdrutschen und den ungenannten Schrecken, die das Gebirge beherbergen sollte.
Aber Gai wusste, woher auch immer, dass sein Weg zuerst nach Südwesten führen musste.
Er hatte sich durch die Trümmer der Stadt gewühlt, um noch ein paar brauchbare Sachen zu finden, doch abgesehen von einem Kapuzenmantel und einem Paar Stiefel, das ihm zu groß war, hatte er nichts finden können. Die Orks hatten alle Waffen, alle Nahrungsmittel und Kleidungsstücke geraubt.
Und jene Dinge, die sie nicht gestohlen hatten, waren ein Opfer der Flammen geworden.
Gai hatte einen Weg eingeschlagen, der ihn am Rande des Waldes entlang führte.
Der Blaue Forst, ein dichter und düsterer Wald, war alt und wurde von denen, die in seiner Umgebung lebten, gemieden. Nur die Mutigsten wagten es, dort zu jagen oder Holz zu schlagen,
denn es gab unzählige Schauergeschichten, die von den Gefahren in diesem Wald berichteten.
Gai, der sein ganzes bisheriges Leben innerhalb der Stadtmauern verbracht hatte, fühlte sich unsicher, ihn fröstelte.
Doch eine innere Stimme trieb ihn vorwärts, in Richtung Südwesten.
Während er durch das Dickicht am Rande des Forstes wanderte, behielt er die grasbewachsene Ebene und die angrenzenden Felder genau im Auge.
Die Sonne stieg höher und höher, doch auch sie vermochte durch ihre Strahlen nicht die Kälte aus dem jungen Mann zu vertreiben.
Zur Mittagsstunde legte Gai eine Pause ein, ließ sich auf einem umgestürzten Baum nieder und blickte zurück in Richtung Warma.
Trotz der Strecke, die er bereits zwischen sich und die zerstörte Stadt gebracht hatte, konnte er noch immer die schwarze Rauchsäule aufsteigen sehen, die von der Zerstörung seiner einstigen Heimat kündete.
Das Land ringsum war dünn besiedelt, es mochte also Tage dauern, bis die Nachricht von der Vernichtung Warma’s die anderen großen Städte erreichen würde.
Die Heerschaar der Orks war nach Südosten abgezogen, vermutlich in Richtung Jukno.
Die Hauptstadt des nördlichen Königreiches war angeblich besser geschützt, als es Warma gewesen war, doch Gai zweifelte daran, dass sich dieser brutal vorgehenden Horde von Unholden irgendetwas lange widersetzen konnte.
Ihn hungerte und der Frost ließ seine Zähne klappern vor Kälte.
Sein Blick fiel auf einen Haufen Reisig, der neben dem Baum lag.
Hätte er doch wenigstens Feuerstein und Stahl bei sich, ging es ihm durch den Kopf, so hätte er zumindest ein Feuer entzünden können, um sich zu wärmen, aber in den Trümmern der Stadt hatte sich wirklich nichts Brauchbares mehr finden können.
Verärgert wischte er mit der Hand durch die Luft, als wolle er damit versuchen, seine Gedanken zu vertreiben.
Ein Knall ertönte, Funken sprühten aus dem losen Reisighaufen, und wenige Sekunden später stand dieser in Flammen.
Erschrocken und überrascht zugleich sprang Gai auf, stolperte über den Baum und fiel rücklings zu Boden. Dank seiner guten Reflexe war er aber sofort wieder auf den Beinen und betrachtete das prasselnde Feuer zu seinen Füßen.
Hier war Magie am Werk, ging es ihm durch den Sinn.
Nichts anderes hätte die feuchten Äste so schnell entzünden können, wenn nicht Zauberei.
Aber wie war das möglich?
Er selbst hatte nie Anzeichen für eine magische Begabung bei sich entdecken können, wie also war er dazu plötzlich in der Lage?
Gai kletterte über den Baum und hockte sich vor das Feuer, um sich daran zu wärmen.
Er war dankbar für dieses kleine Wunder, doch gleichzeitig spähte er misstrauisch hinter und um sich herum in den Wald, als würde er erwarten, dass schon im nächsten Moment jemand hervor treten würde.
Doch er war allein, wie er feststellen musste.
Also, dachte Gai, muss ich dieses Feuer entfacht haben. Aber wie?
Er hielt die Hand über die aufflackernden Flammenzungen und sagte:
>>Werde kleiner, aber verlösche nicht. <<
Augenblicklich sank das Feuer in sich zusammen und wurde zu einem matten Glimmen zwischen den dünnen Ästen.
Verblüfft betrachtete Gai seine Handfläche.
>>Werde größer, << sagte er und hob die Hand über dem Feuer etwas.
Die Flammen begannen zu zucken und wuchsen wieder aus dem Reisighaufen heraus.
Gai lehnte sich mit dem Rücken an den umgestürzten Baum und starrte auf das langsam brennende Holz.
Er konnte nicht begreifen, wie er plötzlich Zauber bewirken konnte, doch er spürte, wie sich Erschöpfung in seinem Körper breit machte.
Müde zog er die Kapuze seines Umhanges über den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und schlief ein.
Ein Knirschen und Knacken im Unterholz riss ihn aus seinem traumlosen Schlaf.
Er hatte jedwedes Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange er schlafend am Feuer gesessen hatte und sah zum Himmel hinauf, um die Tageszeit am Stand der Sonne zu erfahren.
Es musste später Nachmittag sein, denn die grelle Scheibe stand schon recht tief.
Wieder ertönte ein Knirschen, dann hörte er jemanden rufen:
>>Heda, Fremder, darf ich mich zu euch gesellen? <<
Gai war schlagartig wach und auf den Beinen. Während seine Hand nach dem unter dem Mantel verborgenen Dolch griff, sah er sich aufmerksam um.
Einige Schritte entfernt von ihm stand ein Karren, der von einem zotteligen Kaltblüter gezogen wurde. Auf dem Kutschbock saß ein rundlich aussehender Mann in einem dicken Fellmantel, eine graue Wollmütze auf dem Kopf tragend.
Der Mann schien nicht mehr der Jüngste zu sein, denn sein Gesicht war runzlig und wettergegerbt.
Seine Knollnase schimmerte rötlich, doch in der Stimme des Fremden lag kein bedrohlicher Unterton.
>>Ich habe euer Feuer gesehen, << verkündete dieser, >>und dachte, dass etwas Gesellschaft euch wohl nicht stören würde. Dürfen Catus und meine Wenigkeit uns an eurem Feuerchen wärmen? <<
Gai entspannte sich, doch seine Finger hielten weiter den Griff des Dolches unter dem Mantel umschlossen.
>>Wer seid ihr und wo ist euer Begleiter namens Catus? , << fragte er.
Der Fremde grinste und deutete mit beiden Händen auf sein Pferd.
>>Dieser Prachtbursche ist Catus, << verkündete er, >>und mich nennt man Oblivan.
Ich bereise die nördlichen Lande und kaufe Felle für die Schneider in den südlichen Provinzen.
Aber ich handle nicht nur damit, sondern biete auch andere Dinge für den täglichen Bedarf an.
Wir sind schon seit den frühen Morgenstunden unterwegs und mich friert doch etwas, also dürfte ich mich zu euch gesellen? <<
Gai nickte und setzte sich wieder neben das Feuer.
Oblivan klatschte zufrieden in die Hände und kletterte von seinem Wagen herunter.
Dies schien ihm nicht leicht zu fallen, immer wieder stöhnte und ächzte er und verfluchte seine alten, steifen Glieder. Er lockerte die Zügel von Catus, befreite ihn vom Karren und führte ihn zum Feuer hin, wo er die Zügel um einen dicken Baum schlang und verknotete.
Mit einem Seufzer der Erleichterung sank er schließlich neben Gai auf den Baum nieder und zog sich die Mütze vom Kopf.
Oblivan war ein beleibter Mann, der es dem Aussehen nach verstand, es sich gut gehen zu lassen.
Als er einen Schlauch unter seinem Fellmantel hervorzog und den Verschluss öffnete, wurde die Luft erfüllt vom Duft würzigen Weines.
Daher auch die rote Nase, dachte Gai.
>>Gegen diese Kälte bedarf es des richtigen Getränkes, meint ihr nicht auch? , << verkündete Oblivan.
Gai erwiderte nichts, woraufhin Oblivan nur mit den Schultern zuckte und einen großen Schluck zu sich nahm.
>>Was verschlägt euch in diese götterverlassene Einöde, junger Freund? , << fragte er dann.
Gai überlegte kurz, dann antwortete:
>>Ich bin auf Wanderschaft. << Er hoffte, dass seine Antwort möglichst unverbindlich, unverfänglich war und Oblivan von weiteren Fragen Abstand nehmen würde, doch der Händler schien durch seine Worte keineswegs entmutigt worden zu sein.
>>Ja, wenn man jung ist, da zieht es einen in die Fremde, << verkündete dieser im Tonfall des Fachmanns.
>>Mir ist es früher nicht anders ergangen.
Heute reise ich zwar immer noch viel, aber auch nur, weil mein Geschäft es von mir verlangt.
Ich bin auf dem Weg nach Warma, denn dort kann man zu dieser Jahreszeit exzellente Felle zu guten Preisen erwerben. Kennt ihr die Stadt? <<
Gai zögerte, ein Kloß schien ihm plötzlich im Halse zu stecken.
Dann nickte er und antwortete:
>>Ich stamme aus Warma, aber eure Reise dorthin solltet ihr abbrechen und lieber umkehren. <<
Oblivan ließ den Weinschlauch sinken und sah ihn verdutzt an.
>>Warum denn? , << fragte er.
>>Ich habe bisher immer gute Geschäfte dort machen können, selbst in mageren Jahren.
Die Felle aus dieser Region bringen einen schönen Gewinn in den Städten des Südens. <<
>>In diesem Jahr werdet ihr dort nichts mehr kaufen, das kann ich euch versprechen.
Und in Zukunft wohl auch nicht. <<
Gai’s Antwort schien Oblivan zu verdrießen, denn er erwiderte sichtlich ungehalten:
>>Wenn das so ist, mein junger Freund, könnt ihr mir sicherlich auch sagen, warum ich nicht nach Warma fahren soll? Keine Seuche oder Hungersnot hat mich in der Vergangenheit davon abgehalten, also warum ratet ihr mir davon ab? <<
>>Weil die Stadt nicht mehr da ist, << sagte Gai und blickte voller Verbitterung in die Flammen.
Oblivan verzog das Gesicht zu einer ungläubigen Miene.
>>Nicht mehr da? , << erwiderte er.
>>Was soll das bedeuten? Wohin soll denn eine ganze Stadt verschwinden?
Sprecht deutlich, kommt zum Punkt. <<
Gai richtete seinen Blick auf den Händler und schob seine kalten Hände unter seinen Mantel.
>>Die Stadt ist nur noch ein Trümmerfeld, << verkündete er.
>>Sie wurde von einer Horde Orks heute Morgen angegriffen und dem Erdboden gleich gemacht.
Alle Einwohner wurden niedergemacht, mit Ausnahme von mir und einigen Unglücklichen, die von den Unholden verschleppt wurden.
Habt ihr nicht die Rauchsäule am Horizont bemerkt?
Wo sie aufsteigt, verschmoren gerade die letzten Überreste Warma’s. <<
Oblivan sah ihn entsetzt an und wusste anfangs nichts zu erwidern.
Schließlich aber fand er die Sprache wieder und fragte:
>>Die Stadt ist zerstört worden? Von Orks? Aber das kann doch nicht sein!
Orks gibt es schon seit vielen Jahrhunderten keine mehr in diesen Landen.
Junger Freund, ihr müsst euch täuschen. Woher sollen die Orks denn gekommen sein? <<
>>Sie kamen aus den Wäldern, kaum als die Sonne den Horizont überschritten hatte, und fielen über uns her, << antwortete Gai.
>>Es müssen Hunderte gewesen sein, und sie überwanden spielend die Stadtwachen auf den Mauern. Sie töteten alle Erwachsenen und verschleppten die Kinder in die Wälder.
Sie kamen vom Wall her und zogen, nachdem sie die Stadt in Brand gesetzt hatten, Richtung Südosten weiter. <<
Oblivan schien ehrlich erschrocken zu sein.
Der Weinschlauch entglitt seinen zitternden Händen, fiel zu Boden und tränkte diesen mit seinem Inhalt.
>>Und ich dachte, der Rauch käme von einer Köhlerhütte, die vielleicht abbrennen würde, << stöhnte er entsetzt und niedergeschlagen.
>>Das ist grauenvoll! Woher bekomme ich jetzt meine Felle?
Und ihr seid sicher, dass es Orks waren? Keine Banditen oder Räuber, die sich verkleidet haben? <<
>>Ich habe einen von ihnen getötet, << antwortete Gai kalt, >>und der war weder verkleidet, noch sonst irgendwas! Es waren Orks, und wenn ihr eure Reise fortsetzen wollt, dann lauft ihr Gefahr, ebenfalls ein Opfer ihrer Mordgier zu werden. <<
Oblivan bemerkte jetzt erst, dass ihm der Weinschlauch entglitten war, griff rasch danach, schüttelte ihn sachte und verzog verärgert das Gesicht.
>>So ein Jammer, << schimpfte er.
>>Um den Wein oder um das Geschäft, welches euch entgangen ist? , << hakte Gai nach.
>>Beides, << knurrte der Händler verbittert.
Eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander, bis Oblivan schließlich wieder das Wort ergriff.
>>Ich bin euch zu Dank verpflichtet, junger Freund.
Möglicherweise wäre ich dieser Horde von Unholden direkt in die Arme gelaufen, wenn ihr mich nicht durch euren Bericht gewarnt hättet. Ich glaube euch, auch wenn ich nicht einmal euren Namen kenne. Doch ich bin nicht undankbar. Ihr seid auf der Flucht, wenn ich es recht verstehe, was euch niemand verübeln kann, der von euren Erlebnissen in Warma weiß.
Wenn ihr wollt, dann begleitet mich durch den Blauen Forst.
Alleine zu reisen ist auf Dauer doch ein sehr einsames Unterfangen, und wir können voneinander profitieren, wenn wir uns zusammenschließen. Was denkt ihr? <<
Gai, der schon seit seinem Erwachen den Drang verspürt hatte, seinen Weg fortzusetzen, brauchte nicht lange über das Angebot nachzudenken und nickte.
>>Ich will nach Südosten, << verkündete er, >>denn dort werde ich erwartet.
Ich bin auf der Suche nach meinen Gefährten, und diese sind auf der Suche nach mir, << hörte er sich sagen.
Oblivan schien interessiert und fragte:
>>Und wo wollt ihr eure Gefährten treffen? Ich dachte, ihr wäret auf der Flucht und wolltet bloß weg aus dieser Region. Also treiben euch auch Geschäfte vorwärts, wie es scheint? <<
>>Ich weiß nicht, wo ich sie treffen werde, << erwiderte Gai unsicher, >>aber ich weiß, dass sie nach mir Ausschau halten, ebenso wie ich nach ihnen.
Ich weiß, dass sie dort draußen sind und wie ich einem Weg folgen, der ihnen vorher bestimmt wurde. <<
>>Das klingt ja geradezu mystisch, << sagte Oblivan fasziniert und amüsiert zugleich.
>>Seid ihr denn ein Priester, mein namenloser Freund?
Oder einfach nur ein Abenteurer? Ihr sprecht in Rätseln, junger Freund. <<
Gai konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn wenn er seinen eigenen Worten lauschte, klangen sie selbst für ihn sehr nebulös und rätselhaft.
>>Nennt mich Gai, << erwiderte er dann, >>und was meine Worte angeht, so macht euch keine allzu großen Gedanken darum.
Ich bin kein Priester, aber scheinbar folge ich einem Pfad, den die Götter oder das Schicksal mir geebnet haben. Ich werde euch vielleicht einmal davon berichten, aber nicht heute. <<
Oblivan zog seinen Mantel fester um seine Schultern und setzte seine Mütze wieder aufs Haupt.
>>Jeder hat seine kleinen Geheimnisse, << verkündete er, >>doch keiner weiß, was die Götter jedem Einzelnen von uns vorherbestimmt haben. Lasst uns die Nacht hier verbringen und am Morgen aufbrechen. Es ist ein langer Weg durch den Blauen Forst, den wir tunlichst in einem Stück hinter uns bringen sollten. Ich will nicht mitten im Forst mein Lager aufschlagen müssen, wenn das Land von Orks oder Schlimmerem heimgesucht wird. <<
Und so legten sich die beiden zur Ruhe, auch wenn keiner der beiden in dieser Nacht einen erholsamen Schlaf fand.