Читать книгу Ziegelgold - Tom Brook - Страница 5
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Freitag 18:12 Uhr
Surrend raste der dreckige Betonboden unter Alex vorbei. Er hörte es gerne, das Geräusch, das die groben Stollenreifen seines Mountainbikes auf dem rauen Boden des wenig genutzten Landwirtschaftsweges verursachten. Das Rad war seit einem halben Jahr sein ganzer Stolz. Seine Mutter wollte, dass er ein verkehrssicheres Citybike zum Geburtstag bekam, aber zum Glück hatte sich sein Vater durchgesetzt. Citybike - wie sich das schon anhörte. Damit wäre der peinliche Auftritt vor seinen Sportkameraden vorprogrammiert gewesen.
„He, nun fahr' mal etwas langsamer“, tönte es von hinten. Tims Rufe brachten Alex' Gedanken wieder in die Gegenwart. Sein bester Freund hatte Probleme, mit Alex' zügigem Tempo mitzuhalten. Er war mit seinem altertümlichen Herrenrad unterwegs, das nur über eine technisch veraltete Dreigangschaltung verfügte. So ein Gefährt war für einen Vierzehnjährigen die Höchststrafe. Tim hatte den Drahtesel von seinem Onkel Theo geschenkt bekommen, der felsenfest behauptete, die Marke sei 'Kult' und Tims Freunde wären sicher ganz neidisch auf das schnittige Gefährt. Kult – vielleicht 1983 – dachte Tim damals enttäuscht, aber leider war ein neues Rad bei seinen Eltern finanziell nicht drin.
Alex verlangsamte das Tempo, so dass sein Freund schnaufend aufschließen konnte. Mit etwas verringertem Tempo fuhren sie wie jeden Freitag vom gemeinsamen Wasserballtraining direkt am Deich nach Hause. Da sie den Weg zweimal in der Woche fuhren, achteten die Freunde kaum auf die schmale, kaum befahrene Strecke, obwohl es bereits dämmerte. „Die Bremer müssten wir eigentlich klar schlagen“, meinte Tim, als er wieder zu Atem gekommen war. „Das will ich meinen“, entgegnete Alex. Am Sonntag stand das letzte Spiel vor den Herbstferien gegen die Bremer C-Jugend-Wasserballer auf dem Programm und bei einem Sieg könnte ihre Mannschaft Tabellenführer werden. „Ansonsten verdonnert uns Falke zum dreistündigen Straftraining“, grinste Tim. Paul Falkenstein war der Wasserballtrainer von Alex und Tim und wurde von den Jungs nur Falke genannt. Alex wollte sich gerade nach hinten drehen, um Tim zu antworten, da nahm er im Augenwinkel einen großen dunkelgrünen Schatten wahr.
Mitten ins Gespräch vertieft, hatte er den völlig verdreckten Geländewagen, der auf der Höhe der alten Ziegelei zur Hälfte auf dem Weg stand, nicht bemerkt. Reflexartig verlagerte er sein Gewicht nach links, bremste und riss den Lenker seines Mountainbikes herum. Die hydraulischen Scheibenbremsen griffen sofort. Das Hinterrad blockierte nur kurz, dann war er am Hindernis vorbei. Tim dagegen hatte keine Chance. Als er Alex' Ausweichmanöver wahrnahm, hatte er keine Zeit mehr zu reagieren. Die großen Räder seines Oldtimers verliehen dem Gefährt die Wendigkeit eines Öltankers. Der Bremsweg war wahrscheinlich ähnlich lang. Fast ungebremst rammte er das dunkle Fahrzeug und bevor er auch nur nachdenken konnte, flog er auch schon über den Lenker. Nach einer kurzen Flugphase landete er scheppernd inmitten allerhand Gerümpels auf der Ladefläche des Pick-ups. Dann herrschte völlige Stille.
Als Tim vorsichtig die Augen öffnete, sah er nur den wolkenlosen Abendhimmel, bis sich das grinsende Gesicht von Alex davorschob. „Steigst du immer so ab?“, fragte er, nachdem er sich versichert hatte, dass Tim offensichtlich keine schweren Verletzungen hatte. Sein bester Freund lag etwas benommen zwischen mehreren Schaufeln, Werkzeugen, alten Eimern, diversen farbigen Seilen und seltsam aussehenden elektrischen Geräten direkt auf einer aufgeplatzten Mülltüte. „Oh Mann“, stöhnte sein Freund, während er sich von einer Bananenschale, mehreren bunten Joghurtbechern und einer Chips-Tüte befreite. „Welcher Volltrottel stellt denn seine Karre im Dunkeln hier mitten auf dem Weg ab? Ich hätte mir alle Knochen brechen können“.
Mühsam rappelte er sich hoch und sah an sich herunter. Bis auf die verdreckte Kleidung und einen Riss am Ärmel seiner Trainingsjacke war ihm nichts passiert. „Den kauf' ich mir“, knurrte er. Beim Herunterklettern von der Ladefläche fiel sein Blick auf sein Fahrrad, beziehungsweise was davon übrig geblieben war. Das Vorderrad hatte die Form einer Acht und war nun anscheinend untrennbar mit der Anhängerkupplung des Geländewagens verbunden. Die Speichen standen wie bei einer geplatzten Spaghetti-Packung zu allen Seiten ab. Der Lenker war in der Mitte geknickt und die Vorderlampe lag in mehreren Teilen auf der Straße.
„Das kannste vergessen“, sagte Alex, während Tim versuchte, das Vorderrad von der Anhängerkupplung zu ziehen. „Vielleicht hat dein Onkel noch mehrere historische Räder...“ „Sehr witzig“, entgegnete Tim; „Wie soll ich jetzt nach Hause kommen? Es sind noch drei Kilometer. Ich habe keine Lust, die Strecke zu laufen.“ Alex wollte ihm gerade vorschlagen, seine Eltern anzurufen, um ihn abzuholen, als sie zwei Stimmen hörten, die schnell näher kamen.
„He!“, brüllte eine tiefe Stimme vom Deich, noch bevor die beiden überhaupt jemanden gesehen hatten. Kurz darauf traten zwei große Männer auf den Weg und gingen mit großen Schritten direkt auf die beiden Jungen zu. Beide sahen nicht sonderlich vertrauenserweckend aus. Der eine hatte einen ungepflegten Vollbart. Er trug ein auffälliges, rot-kariertes Holzfällerhemd mit einer schmutzigen Anglerweste sowie eine blaue Strickmütze, die er weit heruntergezogen hatte. Zwischen seinem Vollbart und der Mütze konnte man nur seine dunklen Augen sehen, die Alex und Tim anfunkelten.
„Was macht ihr da?“, schnauzte er die Freunde mit einem fremden Akzent an, während der andere sofort hektisch die Ladefläche des Pick-ups untersuchte. Er hatte eine Glatze und zwei auffällige Ohrringe. Er trug eine dunkelblaue Kapuzenjacke mit dem Aufdruck 'EVERLAST' und eine grau-weiße Camouflage-Hose. Alex und Tim waren von dem überfallartigen Auftritt völlig überrascht und brachten keinen Ton heraus. Der Glatzkopf stand nun auf der Ladefläche des Geländewagens und nickte dem Vollbärtigen zu. „Okay“, war alles, was er sagte. Der Mann mit dem Holzfällerhemd, der sich bedrohlich nah vor Alex und Tim aufgebaut hatte, schien plötzlich etwas lockerer zu werden. Er ging einen Schritt zurück. „Also? Was macht ihr hier an unserem Auto?“
„Äh..., wir haben..., also der Wagen...“, stammelte Tim, der noch immer wegen der beiden merkwürdigen Gestalten etwas verängstigt war, als ihm Alex entschlossen ins Wort fiel. „Ihr Wagen steht direkt hinter der Kurve auf dem Weg! Sehen Sie sich mal sein Fahrrad an, das ist total hin. Den Schaden müssen Sie zahlen!“ Alex war selbst über seinen Mut erstaunt und Tim sah ihn nur mit großen Augen und offenem Mund an.
Die beiden Männer waren jetzt völlig ruhig. Keiner sagte ein Wort. Nur der typisch miauende Ruf eines Mäusebussards durchbrach die Stille. Der Bärtige sah erst auf das demolierte Fahrrad, das noch immer an der Anhängerkupplung hing, dann schaute er Tim an. Er zog ein zerfleddertes Portemonnaie aus seiner Jeans und gab Tim zwei Fünfzig-Euro-Scheine. „Das sollte für die alte Schlurre reichen, oder?“ Tims Kiefer fiel noch zwei Zentimeter tiefer. „Passt schon, oder Tim?“ meinte Alex schnell. Tim brachte noch immer kein Wort heraus. Er starrte zunächst den Bärtigen, dann Alex an und nickte nur kurz. Der Glatzkopf riss mit einem Ruck das Rad von der Anhängerkupplung und wollte gerade die Überreste von Onkel Theos Kult-Vehikel auf die Ladefläche werfen, als Alex im letzten Moment Tims Sporttasche vom Gepäckträger zog. „Die braucht er noch“, sagte er grinsend.
Ohne ein weiteres Wort setzte sich der Glatzkopf ans Steuer, während der Bärtige vom Beifahrersitz aus den Jungen noch einen letzten Blick zuwarf. Der Motor heulte kurz auf und dann schoss der schwere Geländewagen mit durchdrehenden Reifen in die Dunkelheit davon. Erst nach hundert Metern machte der Fahrer das Licht an. Dann verschwand das Fahrzeug um die nächste Kurve.
Tim, der direkt hinter dem rechten Hinterrad stand, schüttelte die frische Erde und das nasse Gras, das die groben Stollenreifen bei dem Kavalierstart hoch geschleudert hatten, von seiner Trainingsjacke. Endlich hatte er die Sprache wiedergefunden. „Was war das denn nun?“, fragte er ungläubig und starrte auf die zwei Geldscheine in seiner Hand.
„Die Sache stinkt gewaltig“, meinte Alex und blickte immer noch in die Richtung, in die der Geländewagen verschwunden war. „Geld stinkt doch nicht. Das sagt jedenfalls mein Vater“,antwortete Tim, der immer noch etwas verwirrt war. Alex sah seinen Freund erstaunt an, sagte aber nichts und schüttelte nur den Kopf. „Kein Mensch zahlt einfach so hundert Euro für einen Haufen Schrott, es sei denn, er hat etwas zu verbergen.“ Tim sah seinen Freund beleidigt an. Ein wenig hing er ja doch an Onkel Theos altem Rad.
Nachdem sie eine Weile wortlos zusammen in Richtung Kleiborg gelaufen waren, brach Alex das Schweigen: „Was machen die an einem Freitag abend bei der alten Ziegelei? Hast du ihre Schuhe gesehen, die waren völlig verschlammt. Irgendetwas führen die im Schilde.“ „Quatsch“, meinte Tim, „du siehst zu viele Krimis. Das waren bestimmt zwei Landwirte, die nach ihrem Vieh gesehen haben.“ Alex sah seinen Freund entgeistert an. Manchmal war Tim schon etwas naiv. „Klar, Mann! Die haben gerade hinterm Deich 'ne Kuh verkauft, um sich von dem Geld ein schrottreifes Vorkriegsfahrrad zu kaufen“, fuhr er seinen Freund an. „Nee, nee. Da stimmt was nicht. Die haben sich recht merkwürdig verhalten. Der Glatzkopf hat gar nichts gesagt und statt nach einer Beule oder Schrammen von deinem Aufprall zu sehen, hat er sofort die Ladefläche kontrolliert. Das ist doch schon etwas seltsam, oder nicht?“
Inzwischen waren sie bei Tims Elternhaus angekommen. Es war ein älteres Backsteinhaus, wie fast alle anderen Häuser von Kleiborg auch. Im Haus war es völlig dunkel. Tims Eltern waren zum Kartenspielen bei den Nachbarn. Die beiden Freunde verabredeten sich für den folgenden Tag und verabschiedeten sich. Während Alex nach Hause fuhr, ging ihm die Sache mit den beiden Männern nicht mehr aus dem Kopf.
„Na, wie war's?“, war wahrscheinlich eine Frage, die Millionen von Teenagern von ihren Eltern hörten, wenn sie nach Haus kamen. „Gut“, war seine Standardantwort, wie sie wahrscheinlich auch Millionen von Eltern erhielten. Seine Mutter saß vor dem Fernseher. Alex wollte zunächst einmal nichts von dem Vorfall erzählen und machte sich ein Käsebrot mit Gurkenscheiben. Mit dem Brot und einem Glas Milch setzte er sich noch kurz zu seiner Mutter und schaute mit ihr zusammen eine furchtbar langweilige Folge einer Ärzte-Serie. Dann ging er ins Bett. Wasserballtraining sei besser als jede Schlaftablette, sagte seine Mutter und wünschte ihm eine gute Nacht. Er schlief unruhig und träumte, wie Stefan Raab und James Bond mit einem Monstertruck lachend über sein neues Mountainbike fuhren.