Читать книгу Ziegelgold - Tom Brook - Страница 7

Оглавление

3

Samstag 14:37 Uhr

Alex schaltete seinen Computer an. Kurz nach dem Hochfahren tauchte mal wieder die nervige Frage des Lernprogramms auf, ob er jetzt Vokabeln lernen wolle. Das war die grandiose Idee seiner Mutter. Ihre Freundin hatte erzählt, dass sich die Lateinzensur ihrer Tochter schlagartig verbessert hatte, als sie anfing, mit diesem Programm zu lernen. Seitdem musste Alex jeden Tag mit dieser blöden Software Vokabeln üben. Der Erfolg war auch überwältigend: Alex hatte sich von einer 'Vier minus' auf eine 'Vier' verbessert. Trotzdem hielt sich die Begeisterung seiner Eltern in Grenzen. Eltern können schon recht komisch sein.

Nachdem Alex das Fenster seines Vokabeltrainers und die darauf folgenden zwei Fragen, ob er denn wirklich nicht Vokabeln lernen wolle, entnervt geschlossen hatte, rief er Wikipedia auf. Zum Glück konnte er seinen Vater davon überzeugen, dass der Internetanschluss in seinem Zimmer das goldene Tor zum erfolgreichen Abitur darstellen würde. Die Einwände seines Vaters, man könne dort aber auch Pornos, Nazi-Mist und Anleitungen zum Bombenbauen runterladen, konnte er dadurch entkräften, indem er auf sogenannte 'Jugendschutz-Filtersoftware' verwies. Somit hatte sein Vater keine Argumente mehr. Zum Glück war sein alter Herr so leichtsinnig, dass Alex bei der Installation durch seinen Vater das Kennwort ausspähen konnte und er so, natürlich nur bei Bedarf, den Filter wieder deaktivieren könnte. Für Wikipedia war das aber nicht notwendig.

Zunächst gab er 'Salpeter' ein. Er wollte wissen, womit Deependaal sein Vermögen gemacht hatte. Tims Opa hatte ihn neugierig gemacht auf den ehemaligen Ziegeleibesitzer. Außerdem könnte er Tim damit ärgern, wenn er wusste, was Salpeter ist, und Tim nicht. Er erfuhr, dass Salpeter eigentlich sal petrae heißt, was lateinisch ist und soviel wie Felsensalz bedeutet. Latein, na super, dachte Alex und hatte sofort seine wenig attraktive Lateinlehrerin vor Augen. Auch die Information, dass Salpeter sich in trockenen, heißen, vegetationslosen Gebieten bei biochemischer Oxidation stickstoffhaltiger organischer Stoffe bildet, haute ihn wenig vom Hocker. Er wollte schon abbrechen, weil er keine Lust hatte, schon zu Beginn der Herbstferien ein Chemie-Referat anzufertigen. „Können die das nicht so schreiben, dass das ein Vierzehnjähriger versteht?“, grummelte er vor sich hin.

Salpeter ist ein wichtiger Bestandteil für Sprengstoff und deshalb in der Handhabung sehr gefährlich, las er weiter. Na endlich, dachte er, jetzt wird es endlich interessant. Am 21. September 1921 explodierte in Oppau, einem Stadtteil von Ludwigsburg eine Lagerhalle mit Salpeter. Bei dem Unglück starben 561 Menschen. Alex schluckte. In Kleiborg wohnten wesentlich weniger. Er las weiter: 1892 machte sich ein Engländer namens Henry Brarens Sloman in Chile selbstständig mit einer Salpeter-Fabrik und kehrte 1898 als steinreicher Mann nach Hamburg zurück. Um seinen damals unglaublichen Reichtum zu zeigen, baute er 1924 das weltberühmte Chilehaus in Hamburg. Steinreich, überlegte Alex, das muss der Deependaal wohl auch gewesen sein. Er wollte sich gerade ein Foto des Chilehauses ansehen, da stürmte Tim ins Zimmer.

„Gute Nachricht. Ich habe ein neues Rad. Und das Beste: Es hat nur zwanzig Euro gekostet! Für die restlichen 80 Euro kann ich mir endlich das neue Handy kaufen.“ Tim war völlig außer Atem und strahlte. „Zwanzig Euro? Bekommt man dafür überhaupt schon einen Sattel?“, lästerte Alex. Tims Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Schau's dir doch erst mal an, alter Motzkopf“, sagte er trotzig. Beide Freunde stürmten um die Wette die Treppe hinunter, wobei Tim beinahe die Vase von Tante Lotte umwarf. Alex hätte den Verlust der China-Kopie verschmerzt, doch Mama hing an dem hässlichen Monstrum. Sekunden später standen die beiden atemlos auf der Auffahrt vor Tims 'neuem' Fahrrad.

Es war ein altes Damenrad. Alex ging langsam um das Fahrrad herum. Der Sattel war aus braunem Leder mit rostigen Stahlfedern. Er war so breit und platt gesessen, dass die Vorbesitzerin mindesten 90 Kilo gewogen haben musste. Der Lenker war völlig verrostet und die Bremse wurde durch eine vorsintflutliche Stangenmechanik betätigt. Die dicken Ballonreifen waren fast so breit wie Kettcar-Reifen. Eigentlich wollte Alex ernst bleiben und Tim nicht schon wieder ärgern. Trotzdem brach er in brüllendes Lachen aus und schaute mit Tränen in den Augen auf den Rahmen des Rades. Der Schriftzug war schon arg mitgenommen, aber er konnte ihn noch lesen: HANNIBAL. Nun gab es für Alex kein Halten mehr: „Was ist das denn? Hast du das Landesmuseum überfallen und das letzte Exemplar von Hannibals Kriegs-Fahrrädern geklaut, mit dem die Karthager damals über die Alpen gezogen sind. Ich persönlich halte es ja für ein Gerücht, dass er dafür Elefanten benutzt hat...“ Alex konnte sich vor Lachen kaum beruhigen. Zumindest in Geschichte war er in der Schule gut. Seltsamerweise war Tim gar nicht beleidigt. Er kannte seinen Freund gut und hatte fast mit einer solchen Reaktion gerechnet. Er lächelte nur milde.

„Ich habe das Rad von einem Arbeitskollegen von Onkel Theo“, erklärte er Alex betont sachlich, als sich dieser etwas beruhigt hatte. „Er hat mir sogar die Orginalrechnung mitgegeben. Sie ist vom 19. April 1955. Und nun kommt's...“ Er machte eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen. Alex sah ihn mit großen Augen an.

„Die Rechnung lautet auf den Namen Joseph Alois Ratzinger“, fuhr er fort, „der, wie du sicher weißt, heute als Papst Benedikt XVI. bekannt ist.“ Alex starrte seinen Freund an. „Und du weißt sicher auch, dass der alte Golf vom Papst 2005 für fast 190 000 € bei ebay versteigert wurde... Ich bin gespannt, was mein Fahrrad einbringt.“ Tim grinste sein breitestes Grinsen und genoss das dumme Gesicht seines Freundes, der die Sprache anscheinend noch nicht wiedergefunden hatte. Nach einigen Sekunden, die Tim voll auskostete, brach er lachend sein Schweigen: „April, April!“

Er klopfte Alex auf die Schulter und genoss den ungläubigen Gesichtsausdruck seines Kumpels. „Diese Verarsche hast du dir redlich verdient.“ Tim wischte sich die Tränen aus den Augen. Alex sah seinen Freund an und musste jetzt auch grinsen. Er wusste in diesem Augenblick genau, warum Tim sein bester Freund war. Er konnte ihn immer wieder überraschen. Und darin lag Tims Stärke, auch wenn die meisten aus ihrer Klasse ihn für einen farblosen Streber hielten.

„Komm, ich zeig dir was.“ Alex zog seinen Freund ins Haus zurück. Als sie wieder in seinem Zimmer waren, setzte er sich an seinen Rechner und zeigte Tim einige Fotos des Hamburger Chilehauses. „Sieh mal, wie viel Geld man vor hundert Jahren mit Salpeter verdienen konnte. Das Haus hier hat in den zwanziger Jahren 10 Millionen Reichsmark gekostet“, erzählte er begeistert. Tim schaute ihn verwundert an. „Seit wann interessierst du dich für Architektur?“ „Gar nicht, du Quatschkopf. Aber überleg mal. Dieser Sloman, der das Haus hat bauen lassen, hat ein Vermögen mit Salpeter verdient. Genauso wie dieser Deependaal. Sagte zumindest dein Opa. Wo sind denn seine Salpeter-Millionen geblieben. Die Ziegelei hat doch sicher nur einen Bruchteil von dem gekostet“, antwortete Alex und nickte zu dem Bild des Chilehauses. Tim überlegte. „Hast du schon mal nach Deependaal gesucht?“, fragte er. Alex hatte sein Interesse geweckt. Sein Freund schaute ihn an und tippte den Namen auf der Tastatur ein. Nach mehreren Versuchen wurde er fündig.

In Wikipedia fanden sich zwei Einträge:

Joost Deependaal, geboren am 19. August 1841 in Rotterdam/Niederlande und gestorben am 27. Mai 1920 in Valparaiso/Chile.

Henk Deependaal, geboren am 2. August 1871 in Amsterdam/Niederlande und gestorben am 13. Oktober 1936 in Kleiborg/Niedersachsen.

„Volltreffer, das ist unser Mann“, triumphierte Alex. Er klickte auf den zweiten Namen. Es erschien nur ein kurzer Text:

Henk Deependaal, (geboren am 2. August 1871 in Amsterdam/Niederlande und gestorben am 13. Oktober 1936 in Kleiborg/Niedersachsen) war ein niederländischer Kaufmann und Reeder und Mitinhaber der Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V., kurz DZZ. Sohn von Joost Deependaal.

„Na toll! Das ist ja nicht viel“, meinte Tim enttäuscht; „Lass uns mal sehen, was unter Joost Deependal steht.“ Alex klickte auf den ersten Link, und nun erschien ein längerer Text:

Joost Deependaal, (geboren am 19. August 1841 in Rotterdam/Niederlande und gestorben am 27. Mai 1908 in Valparaíso/Chile) war ein niederländischer Großkaufmann und Großreeder des 19. und 20. Jahrhunderts. Er und seine zwei Söhne schufen mit insgesamt 87 Schiffen bis ins 20. Jahrhundert hinein eine der größten Segelschiffreedereien der Welt: Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V. , kurz DZZ. Die seinerzeit bekannte Reedereiflagge zeigte die roten Initialen DZZ mit blauer Welle auf weißem Grund. Jost Deependaal stammte aus Rotterdam und war Sohn eines erfolgreichen Textilkaufmanns. 1856 ging er 15-jährig nach Amsterdam und begann dort bei einem Geschäftspartner seines Vaters eine kaufmännische Ausbildung. 1861 begab er sich auf eine Südamerikareise nach Chile, wo er als Vertreter des Bordeauxer Reederkapitäns Clemens Le Blanc arbeitete. 1870 wurden beide Partner, Sie lieferten Kohle nach Chile und im Gegenzug wurden Salpeter und Kupfer nach Europa eingeführt. Die Reisen dauerten damals bis zu 170 Tagen. 1886 verstarb Le Blanc in Bordeaux. Die Söhne Staas (damals 20 Jahre alt) und Henk (16 Jahre) stiegen in die Handelsgeschäfte ein. Dies war die Geburtsstunde der Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V.. Die Deependaals gaben bis 1890 dreißig Schiffe zwischen 1200 und 2000 Bruttoregistertonnen in Auftrag und wurden durch den Salpeterhandel zu einer der reichsten Familien Hollands. 1895 ertrank Staas Deependaal bei einer Segelregatta vor der englischen Küste. Bis 1908 wuchs die Flotte auf 87 Schiffe, darunter befanden sich die größten Viermaster der Welt. Joost Deependaal verstarb auf einer Geschäftsreise am 27. Mai 1908 an einer Virusinfektion in Valparaíso/Chile. Sein Sohn Henk führte die Geschäfte weiter. Ende 1911 verkaufte er überraschend die Handelsgesellschaft für 750000 Goldpesos an einen ehemaligen chilenischen Geschäftsfreund seines Vaters und verließ die Niederlande mit unbekanntem Ziel.

„750 000 Goldpesos!“ Alex pfiff durch die Zähne. „Kein Wunder, dass er sich den teuren Mercedes und das Silberbesteck leisten konnte.“ Tim sah ihn an: „Wo ist wohl das viele Geld geblieben? Und wer hat 1936 Henk Deependahl erschossen? Wenn das überhaupt stimmt, was mein Opa erzählt hat. Und wo ist der Sohn von Henk geblieben? Wie hieß der noch?“ „Cobus“, antwortete Alex gedankenversunken und wunderte sich selbst, weil sein Namensgedächtnis sonst eher unzuverlässig war.

„Essen ist fertig!“, rief plötzlich Alex' Mutter die Treppe hoch. Alex sprang hoch. Samstags gab es immer Pfannkuchen mit Sirup, eine seiner Leibspeisen. „Bleibst du zum Essen?“, fragte er Tim. Der winkte aber ab. „Nee. Lass man. Treffen wir uns um vier bei der Ziegelei? Ich würde mich da gerne mal umsehen.“ Alex lachte. „Willst du nach den Goldpesos der Deependaals buddeln?“, fragte er seinen Freund. Tim sah ihn beleidigt an, denn nun kam ihm die Idee auch ein wenig naiv vor. „Okay, okay. Um vier vor dem Tor“, sagte Alex schnell, als er Tims enttäuschtes Gesicht sah und verabschiedete seinen Freund an der Tür.

Nach fünf Pfannkuchen konnte Alex sich nicht mehr rühren und räkelte sich zufrieden in der Küchenbank. „Was habt ihr denn so lange am Computer gemacht?“, fragte sein Vater, der nach dem Essen genüsslich einen Espresso trank. „Ich habe weder Schüsse noch Explosionen gehört“, spielte er mit einem leichten Grinsen auf die Computerspiele an, die Alex ab und zu spielte, und die sein Vater gerne als 'pädagogisch wenig wertvoll' bezeichnete. Typisch Papa dachte Alex. Eigentlich war sein Vater voll in Ordnung. Aber er hatte anscheinend immer noch nicht richtig verstanden, dass sein Sohn jetzt 14 war und nicht mehr mit Playmobil spielte.

„Wir haben recherchiert“, war seine knappe Antwort. „Re...“ Sein Vater verschluckte sich an seinem Kaffee und musste kurz husten. „Recherchiert? In den Ferien? Donnerwetter. Darf man fragen, was?“ fragte er interessiert nach. „Mensch, Papa.“ Alex war genervt. Erstens mochte er die permanente Neugierde seiner Eltern nicht und die ironische Art seines Vaters schon gar nicht. Er hatte schon öfter überlegt, dass es nicht immer von Vorteil war, als Einzelkind aufzuwachsen. Hätte er noch Geschwister, würde sich die elterliche Fürsorge auf mehrere Kinder verteilen. Und zweitens wollte er nichts über die Deependaals erzählen. „Ich muss noch Gitarre üben“, sagte er schnell und rannte aus der Küche. Seine Eltern sahen ihm entgeistert nach. „Erst Computerrecherchen in den Ferien, dann freiwilliges Gitarreüben. Höchst merkwürdig. Ist das jetzt die Pubertät?“, fragte sein Vater. Doch Alex' Mutter zuckte nur ratlos mit den Schultern.

Ziegelgold

Подняться наверх