Читать книгу Ziegelgold - Tom Brook - Страница 8
Оглавление4
Samstag 16:18 Uhr
Nachdem Alex zum Leidwesen seiner Eltern eine halbe Stunde versucht hatte, mit seiner E-Gitarre das Intro von AC/DCs 'Thunderstruck' einzuüben, fuhr er zu dem vereinbarten Treffpunkt. Tim war noch nicht da und so hatte Alex Zeit, sich schon mal umzusehen. Die beiden großen Schornsteine waren zwar stark verwittert, aber sie standen noch kerzengerade und ragten stolz in den grauen Himmel, als wollten sie von den vergangenen Zeiten erzählen, als die gesamte Gegend von den Ziegeleien noch gut leben konnte. Heute arbeiteten viele in der großen Müller-Werft oder waren weggezogen. Die Schornsteine waren seit über dreißig Jahren nicht mehr im Gebrauch und sind vom Einsturz bedroht. Das Gelände war weiträumig eingezäunt und an jeder Ecke stand das Schild 'BETRETEN VERBOTEN. ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER'.
Wie jedes Kind in Kleiborg kannte Alex natürlich die Schlupflöcher im Zaun. Er war schon öfter auf dem Gelände gewesen, weil er hier in den alten Tongruben sein Mountainbike mal richtig ausfahren konnte. In die alten Gemäuer ging er aber nur ungern. Zum einen, weil seine Eltern ihn immer wieder gewarnt hatten, dass das alte Dach beim erstbesten Sturm zusammenbrechen könnte, und zum anderen traf sich hier gerne die Clique der 17-Jährigen in den Resten der alten Villa, um ungestört ihr billiges Bier zu trinken. Da sie noch keinen Führerschein hatten und es im Dorf keinen Jugendtreff gab, hatten sie den verlassenen Ort für ihre Treffen ausgesucht. Die Erwachsenen waren davon zwar wenig begeistert, tolerierten dies jedoch stillschweigend.
Alex wollte sich gerade mit seinem Rad durch den Zaun zwängen, als er hörte, wie sich Tim näherte. „Tut mir leid, auf dem Kopfsteinpflaster hat sich der Lenker wohl ein wenig gelöst...“, rief er schon von weitem. Ein Blick auf Tims Klamotten reichte Alex aus, um sich den Sturz mit dem steuerlosen Gefährt vorzustellen. Die tiefgrüne Farbe, die sich von Tims Jeans bis zu seiner Jacke hinaufzog, ließ auf einen mittelgroßen Kuhfladen schließen. „Keine Details bitte“, unterbrach er seinen Freund und rümpfte die Nase. Dann schob er sein Fahrrad durch die schmale Lücke, die hinter einer alten Weide kaum zu sehen war. Etwas angesäuert stellte Tim sein Rad an das alte, stark verrostete Werkstor. Er nahm sich viel Zeit, um es mit einem auffällig neu aussehenden Kryptonit-Schloss anzuschließen. Dann folgte er Alex durch die Lücke im Zaun. Der sah ihn nur mitleidig an. „Hast du Angst, dass jemand das alte Tor klaut oder warum schließt du deinen Schrotthaufen daran fest?“ Tim, der keine Lust mehr hatte, auf die dummen Sprüche seines Freundes einzugehen, ging wortlos an ihm vorbei in Richtung Ziegelei. Alex zuckte die Achseln und trottete langsam hinterher. Ein verschlammter Weg führte direkt auf die beiden großen Schornsteine zu.
Die riesige Ruine sah in der beginnenden Dämmerung trostlos und unheimlich aus. Die großflächigen roten Dächer waren an vielen Stellen unter dem Druck der schweren Dachziegel eingefallen, so dass man zum Teil die morsche Dachkonstruktion sehen konnte, die nun schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert war. Die großen Fenster waren fast alle zerschlagen. Alex wusste aus Zeitungsberichten, dass einige seltene Fledermausarten in dem alten Gemäuer Zuflucht gefunden hatten. Die Freunde liefen weiter auf ein altes Transformatorenhäuschen zu, das mit zahlreichen Graffiti verziert war. Die großen Isolatoren standen bedrohlich aussehend von dem kleinen Backsteinturm ab. Überall wucherten Brennnesseln, meterhohe Disteln und wild wachsende Birken. Das ganze Gelände war übersät mit Glasscherben und alten Ziegeln in den unterschiedlichsten Formen.
Vorsichtig gingen die Freunde auf das größte Gebäude der alten Ziegelei zu. Die nur etwa zwei Meter hohen Seitenwände waren zum Teil eingebrochen, so dass man relativ einfach hineinklettern konnte, denn die großen Tore an der Stirnseite waren mit dicken Vorhängeschlössern gesichert. Die Freunde sprachen kein Wort und schlichen etwas geduckt auf das dunkle Loch in der Wand zu, als Alex plötzlich im Halbdunkel gegen einen harten Gegenstand stieß. Blitzartig breitete sich ein stechender Schmerz von seinem linken Fuß aus, der Alex stöhnend in die Knie zwang. Tim, der etwa zwei Meter vor ihm war, drehte sich um und sah seinen Freund mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegen. Sofort eilte er ihm zur Hilfe.
„Das sieht gar nicht gut aus“, sagte Tim leise, als er einen Blick auf den verletzten Fuß warf. „Der muss sofort gekühlt werden, sonst hast du morgen eine Mordsschwellung und kannst das Spiel gegen die Bremer vergessen.“ Alex krümmte sich bei der Berührung vor Schmerzen und biss sich auf die Unterlippe, während Tim nach der Ursache der Verletzung suchte. Im Gestrüpp verbarg sich ein altes Gleis, das kaum zu erkennen war. Die alten Schienen dienten früher dem Transport des Tons und führten zu den großen Stahltoren, die stellenweise vom Rost zerfressen waren. Man konnte die hellblaue Farbe nur noch erahnen, die sie in den Glanzzeiten der Ziegelei einmal hatten. Tim wollte Alex gerade auf die Beine helfen, als sie den trüben Schein einer Taschenlampe wahrnahmen. Er kam direkt aus dem Loch in der Wand.
Die Freunde ließen sich wie auf ein Kommando in das lange Gras fallen und hielten den Atem an. Keiner sagte ein Wort. Der Lichtkegel wurde langsam größer und bewegte sich direkt auf sie zu. Alex versuchte zurückzukriechen. Er brach den Versuch aber sofort ab, als ihn ein höllischer Schmerz in seinem linken Fuß stoppte. Er stöhnte leise. Im gleichen Augenblick blieb der Lichtkegel stehen und drehte sich langsam in ihre Richtung. „Scheiße“, dachte Alex und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Er hörte langsame und schwere Schritte auf sie zukommen. Alex und Tim verharrten völlig ruhig und bewegungslos. Alex fühlte, wie die Feuchtigkeit langsam seine Kleidung durchdrang. Er hoffte noch, dass der Fremde sie nicht entdecken möge, als ihm plötzlich das grelle Licht direkt ins Gesicht schien. Es war unmöglich, irgendetwas zu erkennen.
„Was macht ihr hier?“, hörte er eine tiefe, bedrohlich laut klingende Stimme. An Weglaufen war nicht zu denken, schon allein aufgrund seines lädierten Fußes. Alex blickte langsam hoch. Direkt vor ihm sah er zwei schwere geschnürte Lederstiefel. Er blickte weiter zu dem Mann hoch. Er trug eine schwarze Cargohose und eine dunkelgrüne Wachsjacke. Der Fremde hielt Alex die Taschenlampe direkt ins Gesicht: „He, habt ihr was mit den Ohren? Was macht ihr hier? Hier ist der Zutritt streng verboten!“ Tim stand langsam auf und half seinem Freund hoch. „Entschuldigung, wir suchen meinen Hund. Der ist heute Nachmittag weggelaufen. Ein brauner Mischling. Er hört auf den Namen Henk“, sagte Tim und klopfte seine Kleidung ab. Respekt, dachte Alex lächelnd. So eine Unverfrorenheit hatte er Tim gar nicht zugetraut. „Grins nicht so dämlich“, herrschte ihn der Mann an. „Und warum liegt ihr dann auf dem Boden?“ „Mein Freund hat sich den Fuß verletzt und kann nicht mehr gehen“, entgegnete Tim. Die Gesichtszüge des Mannes wurden etwas freundlicher. „Seht ihr? Darum habt ihr hier auch nichts zu suchen. Lass mal sehen.“
Der Mann beugte sich zu Alex herunter, streifte seinen Schuh ab und untersuchte den Fuß. „Damit solltest du zum Arzt gehen. Das könnte ein Bruch sein. Ich fahre dich hin. Euer Hund findet sicher auch so zurück.“ Alex traute sich nicht zu widersprechen. „Was machen Sie hier eigentlich?“ fragte Tim, der seinen Freund beim Gehen stützte. Zum ersten Mal lächelte der Fremde.
„Mein Name ist Dr. Eyken. Ich bin Historiker an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg und untersuche im Auftrag der Landesregierung die Geschichte der Ziegeleien zwischen Bremen und der holländischen Grenze.“ Die Freunde nickten anerkennend. Auf dem Rückweg hing Alex förmlich zwischen Tim und dem Historiker, da er kaum auftreten konnte. Jeder noch so vorsichtige Schritt verursachte einen stechenden Schmerz. Als sie an der Straße angekommen waren, waren alle drei vor Anstrengung atemlos. Nach einer kurzen Verschnaufpause packte Dr. Eyken die zwei Räder der Freunde in den Kofferraum seines Volvo Kombis. Dann stiegen sie ein und Alex nannte dem Doktor seine Adresse.
Nachdem sie ohne ein Wort zu wechseln eine Weile gefahren waren, drehte sich der Mann zu Tim um. „Warum hast du deinen Hund Henk genannt? Das ist ein recht seltener Name.“ Tim schluckte. Die Notlüge mit dem entlaufenen Hund war ihm spontan eingefallen. Dass er dabei den Vornamen des ehemaligen Ziegeleibesitzer Deependaal genannt hatte, war ihm so schnell gar nicht bewusst geworden. „Äh, also, der Hund, also Henk...“, stotterte Tim hilflos. Alex kam ihm zur Hilfe: „Tim hat den Hund aus dem Tierheim, und die hatten ihm dort den Namen gegeben.“ „Genau“, ergänzte Tim erleichtert. Der Mann sah skeptisch von einem zum anderen, sagte aber nichts.
Zwanzig Minuten später waren sie bei Alex' Eltern. Seine besorgte Mutter nahm ihren verletzten Sohn erschrocken in den Arm und machte dem verdutzten Tim Vorwürfe, wie er den Ausflug auf das alte Ziegeleigelände überhaupt hatte zulassen können. Inzwischen nahm Alex' Vater die Räder aus dem Kombi und bedankte sich per Handschlag bei Dr. Eyken. Als Alex kurze Zeit später mit ihm auf dem Weg zum Arzt war, konnte er sich erst einmal eine ordentliche Standpauke anhören. „Tausendmal gesagt“ und „viel zu gefährlich“ waren die einzigen Gesprächsfetzen, die Alex mitbekam.
„Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“ Der scharfe Ton der Frage seines Vaters riss Alex aus seinen Gedanken, die sich immer noch um die Geschehnisse auf dem Ziegeleigelände drehten. „Klar, Paps, immer doch“, antwortete er mit einem zuckersüßen Lächeln. Die Zornesfalten seines Vaters verschwanden und er musste lächeln. „Was war das eigentlich für ein Vogel, der euch nach Hause gebracht hat?“ Alex sah seinen Vater an. „Das war Dr. Eyken. Er ist Historiker in Oldenburg und schreibt eine wissenschaftliche Arbeit über Ziegeleien.“ Alex' Vater sah ihn aufmerksam an. „Historiker? Der hatte eine Lange & Söhne Saxonia am Handgelenk. Die kostet gut und gerne 20 000 Euro. Ich glaube, der hat euch ganz schön verschaukelt.“ Alex starrte seinen Vater an.