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Sanft schwebte die Marie Luise in mehreren tausend Fuß Höhe über die zerklüfteten Berge hinweg. Hätte der Raum ein Fenster gehabt, wäre der Blick eines etwaigen Betrachters unweigerlich von der dünnen Schneedecke gefesselt worden, die sich auf die baumlosen Kuppen der Berge gelegt hatte.

Das Ächzen und Knarren der Metallkonstruktion, die, umhüllt von riesigen Tuchbahnen, dafür sorgte, dass kein Gas entwich und das Luftschiff somit stabil in der Luft verharrte und nicht in rasendem Tempo dem Erdboden entgegenstürzte, erfüllte den kleinen Raum. An den Wänden waren Gepäckstücke aller Art fein säuberlich nach Größen sortiert aufgestapelt und mit straffen Seilen gegen ein mögliches Verrutschen gesichert worden. Der Packmeister des Luftschiffs war ganz ohne Zweifel ein Meister seines Fachs.

Kalte Luft tastete unaufhaltsam zwischen den herumliegenden Gepäckstücken herum und griff mit unsichtbaren Fingern in jede noch so kleine Ecke des dunklen Raumes.

Gordon Fletcher klappte den Kragen seines Reisemantels hoch und rieb sich die eiskalten Hände. Selbst der Hauch seines Atems schaffte es nicht mehr, eine wenigstens einigermaßen erträgliche Wärme in die Finger zu bekommen. Was hatte ihn nur geritten, sich ausgerechnet im Gepäckabteil dieses klapprigen Luftschiffs zu verkriechen? Er fror, die Beine waren ihm schon vor einer gefühlten Ewigkeit eingeschlafen und in dem dämmrigen Zwielicht konnte er zwischen den Kisten und Koffern kaum etwas erkennen. So elend hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er …

,Kopf hoch, alter Junge!‘, schallt er sich innerlich. ,Du hast dich schon aus ganz anderen misslichen Lagen herausmanövriert. Jedes Problem stellt auch eine neue verheißungsvolle Möglichkeit dar, dem Leben eine großartige Wendung zu geben.‘ Dieses Mantra, dass ihm sein Großvater von Klein auf eingebläut hatte, war ihm schon oft ein hilfreicher Wegweiser gewesen, und es sollte ihm auch in der jetzigen unbequemen Lage der Stern sein, dem er folgen wollte. Selbstmitleid und Melancholie waren noch nie gute Ratgeber gewesen.

Und natürlich wusste er ganz genau, was ihn in dieses unbequeme Abteil verschlagen hatte. Er hatte erneut das Glück herausgefordert und wieder einmal zu viel auf eine Karte gesetzt. Eigentlich müsste er es besser wissen. Erfolge werden mit Verstand errungen. Die größten Eroberungen und Gewinne machen selten diejenigen, die alles in die Waagschale werfen und mit dem Säbel in der Hand im gestreckten Galopp vor der vordersten Linie auf den Gegner zupreschen. Die Lorbeeren heimsen die Generäle ein, die dem Verlauf der Schlacht mit Feldstechern aus ihren beheizten Zelten heraus zuschauten und hin und wieder eine Kompanie von Zinnsoldaten auf der Detailkarte des Schlachtfeldes herumschoben.

Das alles wusste Gordon Fletcher, aber es war nicht seine Art, bedächtig zuzuschauen, wie das Leben an ihm vorbeizog und auf den entscheidenden Moment zu warten, endlich einmal eine Perle auf den Rouletttisch des Daseins zu werfen, in der Hoffnung, dann ein paar mehr Perlen für die nächste Wartezeit in der Tasche zu haben. Er brauchte das Kribbeln in den Fingern. Die Schweißperlen auf der Stirn waren seine Existenzgrundlage, das flaue Gefühl im Magen das Salz in der Suppe. Je höher das Risiko, desto lebendiger fühlte sich Gordon Fletcher. Es lag in seinem Blut, immer aufs Ganze zu gehen. Sein Vater war so gewesen, bis er mit einem Sack voller unbezahlbarer Kunstgegenstände, die er sich im Laufe des Krimkriegs zusammengeraubt hatte, von einer Granate zerfetzt worden war. Seine Großmutter hatte es wild in den Burgen und Schlössern dieser Welt getrieben, bis man sie auf frischer Tat im Bett eines jugendlichen Thronfolgers ertappt hatte, eine Geschichte, bei der seinem Großvater immer noch unbegreiflicher Weise jedes Mal ein verschmitztes Lächeln über das Gesicht lief, wenn er sie zum Besten gab. Je weiter man in seiner Ahnenreihe zurückging, desto wilder und unglaublicher wurden die Anekdoten, mit denen seine Vorfahren ihren Fußabdruck in der Welt hinterlassen hatten.

Und so hatte es gar nicht anders kommen können, als dass auch aus Gordon Fletcher ein Glücksritter geworden war. Und ein äußerst begnadeter, wie er sich gern selbst bescheinigte, auch wenn seine derzeitige Situation einem unbeteiligten Beobachter diese positive Einschätzung von Fletchers Fähigkeiten nicht notwendigerweise aufgedrängt hätte. Aber dieser Flug war nur ein weiterer kleiner Rückschlag in seinem Bemühen, die Welt mit vollen Händen zu genießen und sie gleichzeitig nach seinen Vorstellungen mitzugestalten.

Fletcher zog die kratzige Decke, die er locker auf einen Seesack gebunden gefunden hatte, enger um sich und versuchte, seinen Körper in eine angenehmere Position zu bugsieren. Irgendwie musste es ihm gelingen, das schmerzhafte Stechen in den Beinen in den Griff zu bekommen. Wie lange konnten seine Zehen wohl bei dieser Kälte ohne ausreichende Blutzufuhr überstehen, ohne Erfrierungen davonzutragen?

Mit der Schulter gegen eine große Kiste gelehnt, ließ er den Kopf langsam nach hinten auf einen Getreidesack sinken und ging die Ereignisse, die zu seiner überstürzten Flucht aus Constanza geführt hatten, noch einmal im Geiste durch. Es hatte sich alles so vielversprechend angetan. Es war nicht weiter schwer gewesen, den Preisanstieg bei Weizen vorherzusagen. Bei dem aufkommenden Monstersturm hätte sich jeder schlaue Kopf ausrechnen können, dass die Getreideschiffe aus der Ukraine mit gehörig Verspätung einlaufen würden. Aber nur eine Handvoll Finanzjongleure hatten sich wie er mit den Körnern eingedeckt und dann einen ordentlichen Gewinn eingefahren, als es auf den Märkten kein Mehl mehr zu kaufen gab und ihnen die verzweifelten Frauen die Lagerhäuser förmlich eingerannt hatten. Schmunzelnd dachte er an den teuren Anzug, den er sich von einem Teil des Erlöses aus diesem Husarenstück geleistet hatte.

Behutsam betasteten seine Zehen das Innere der weichen Stiefel, die den kläglichen Rest seines neu erworbenen Reichtums darstellten. Im Nachhinein war es unausweichlich gewesen, dass Rosella auf ihn aufmerksam wurde. Wie hätte eine so bezaubernde Frau auch nicht den gut aussehenden jungen Mann mit dem grünen Seidensakko, den eng anliegenden Hosen und dem verwegenen Hut bemerken sollen, vor allem an jenem Abend, als er mit einem ganz kleinen Bisschen Nachhelfen sein Glück im größten Casino der Stadt gemacht hatte. Als sich die Jetons zu immer höheren Stapeln vor ihm aufstapelten, war der halbe Saal zusammengelaufen, um diese unglaubliche Glückssträhne des unbekannten Schönlings am Black-Jack-Tisch mitzuverfolgen. Unter den enttäuschten Ausrufen der sensationslüsternen Zuschauer war er vom Manager des Casinos höchstpersönlich hinauskomplimentiert worden und hatte sich dann urplötzlich in dieser geräumigen Kutsche wiedergefunden. Nicht allein, wie sich sehr schnell herausstellte.

Rosella hatte alles haarklein geplant. Die Meeresfrüchte im Restaurant Albatros waren köstlich gewesen, dem Wein waren sie beide nicht abgeneigt gewesen und nachdem sie dann gemeinsam die weite Treppe des Grand Hotel emporgestiegen waren, hatte eins zum anderen geführt. Wie hätte er denn auch ahnen können, dass er ausgerechnet der Tochter des Regierungspräsidenten ins Netz gegangen war. Zum Glück war er kein Langschläfer und hatte sich bereits in dem mit Marmorfliesen verzierten Badezimmer für den Tag fertig gemacht, an dem er die Stadt endgültig erobern wollte, als die Tür der Suite mit Gewalt aufgebrochen wurde. Rosella kreischte wie am Spieß, laute Männerstimmen forderten sie unmissverständlich auf, den Verbleib des Ganoven, der sie so schändlich ausgenutzt habe, preiszugeben. Er hatte sich die erstbesten Kleidungsstücke übergestreift, derer er habhaft werden konnte und war in einer waghalsigen Aktion an der Regenrinne des Hotels auf den Rathausplatz hinuntergeturnt.

Zum Glück stand dort dieser arme Teufel mit seinem Pferd, das Gordon Fletcher, ehe der Pferdehalter wirklich realisiert hatte, wie ihm geschah, bestiegen und zum Galopp getrieben hatte. Trotzdem waren die Schergen des Regierungspräsidenten schon bald auf seinen Fersen gewesen. Nach einigen gewagten Manövern war zu seiner Rechten der Luftschiffhafen der Stadt erschienen. Nahe der Marie Luise war er vom Pferd gesprungen und hatte der verunsicherten Stute kräftig aufs Hinterteil geschlagen, so dass sie mit einem wilden Sprung in eine Gruppe Lastenträger geriet, die gerade im Begriff waren, das Schiff zu beladen. In dem Durcheinander hatte er sich einen riesigen Koffer geschnappt und war mit diesem im Lastenraum verschwunden. Ein dunkles Versteck war schnell gefunden, aber erst, als die Tür hinter ihm verrammelt worden war, hatte sich sein Puls allmählich beruhigt.

Alles in allem hatte er Glück gehabt. Die Stiefel waren ihm erhalten geblieben und würden ihm noch gute Dienste leisten, im Gepäck an Bord des Luftschiffs hatte er den dicken Wintermantel gefunden und die Decke schien auch ein Geschenk des Himmels gewesen zu sein. Dennoch dachte er wehmütig an seine Reichtümer zurück, die in einer Hotelsuite lagen, zu der er so bald keinen Zutritt mehr haben würde. Und die Trennung von Rosella war auch viel zu vorzeitig und überstürzt erfolgt. Er liebte es, wenn er die Regeln bestimmen konnte, unter denen er sich von den Frauen trennte. Ein bedauernder Seufzer entrang sich seiner Kehle.

Dann schlug er sich selbst mit der flachen Hand auf die Wange. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt hieß es, nach vorn zu schauen und das Beste aus der Situation zu machen. Er war jung, er war gesund, und er hatte große Pläne.

Ein Rucken ging durch das Luftschiff. Die Kiste verrutschte und drückte unangenehm gegen Gordon Fletchers Schulter. Er war schon oft genug durch die Luft gefahren und konnte die Anzeichen mit Sicherheit deuten. Das Luftschiff hatte an Fahrt abgenommen und begann mit einem Sinkflug. Es sah ganz danach aus, dass sie bald landen würden. Er sah an sich hinab. Bedächtig klopfte er den Staub aus seinem Mantel. Er hatte wirklich schon besser ausgesehen, aber fürs Erste würde es genügen müssen. Er sollte sich bereit machen, ungesehen aus dem Luftschiff zu entkommen. Nichts wäre peinlicher, als seinen Aufenthalt in einer neuen Stadt mit einer Festnahme als blinder Passagier zu beginnen.

Diesel

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